Von Martin Schulz (6. Februar 2014)
Anfang der achtziger Jahre prognostizierte Ralf Dahrendorf in einem berühmt gewordenen Essay das bevorstehende Ende der Sozialdemokratie. Schon damals formulierte er die These, dass die politische Linke ihre historische Aufgabe erfüllt habe, weil in den OECD-Staaten die sozialdemokratischen Ziele von Freiheit, Gleichheit und Solidarität weitgehend verwirklicht seien. »Mission accomplished«, könnte man sagen, historische Mission erfüllt. Und tatsächlich: Im Vergleich zum Industrieproletariat, das im 19. Jahrhundert noch unter den Bedingungen des Manchester-Kapitalismus arbeiten musste, muten die heutigen Arbeitsbedingungen der meisten Arbeitnehmer in Europa vergleichsweise paradiesisch an: Das Verbot von Kinderarbeit, Arbeitszeiten unter vierzig Stunden in der Woche, bezahlter Urlaub, wirkungsvolle Arbeitsschutzmaßnahmen und Arbeitnehmerrechte sind weitgehend durchgesetzt. Auch im Bereich der Freiheitsrechte und beim komplizierten Grundwert der Solidarität sind wir in Europa weit gekommen. Weltweit werden wir für unser europäisches Gesellschaftsmodell bewundert. Muss sich also nach ihrem 150-jährigen Kampf die Sozialdemokratie auf ihren Ruhestand einstellen, weil sie alles erreicht hat? Ich halte diese These für falsch, weil unsere Gesellschaft nicht allein wegen, aber sicher in besonderer Weise durch die Digitalisierung und massenhafte Datenerfassung im jungen 21. Jahrhundert vor mindestens ebenso epochalen Umwälzungen steht wie unsere Urahnen vor 150 Jahren.
Der Aufstieg der Sozialdemokratie ist verbunden mit einer technischen Revolution im 19. Jahrhundert. Nach der Entwicklung der Dampfmaschine entstanden moderne Fabriken und mächtige Konzerne, »Big Player«, die wir teilweise noch heute kennen. Diese Revolution hat vielen Menschen Wohlstand gebracht und zu epochalen Veränderungen geführt. Vordergründig krempelte sie zunächst nur die damalige Arbeitswelt komplett um. Aber die neue Technologie revolutionierte die alte Gesellschaftsordnung tiefgreifender: Großstädte und neue soziale Schichten entstanden; es bildeten sich bis dahin unbekannte soziale Bewegungen und Parteien; eine neue Kunst, Philosophie und ein neues Denken kamen auf. Es war eine Zeit des Umbruchs, in der alte Werte durch neue ersetzt wurden. Diese Entwicklung verlief aber nicht nur linear in eine Richtung. Denn die Industrialisierung führte gleichzeitig zu einer Prekarisierung breiter Schichten, zu neuen Krankheiten und zu Umweltzerstörung. Als sich im Zeitalter der Industrialisierung die Maschinisierung und die mit dem Namen Henry Ford verbundene Arbeitsteilung durchsetzten, bedeutete dies eine bemerkenswerte Umkehr in der Subjekt-Objekt-Beziehung, auch wenn es bereits im vorindustriellen Zeitalter brutale Formen der Sklaverei und entwürdigenden Arbeitens gegeben hatte. Aber der Arbeiter, der an der Akkordmaschine in der Fabrikhalle stand, hatte sich den Regeln, dem Tempo, ja den Bedürfnissen der Maschine anzupassen, die seinen Arbeitsprozess und Takt unerbittlich vorgab. Selten ist diese Maschine-Mensch-Beziehung in beeindruckenderen Bildern dargestellt worden als in den zwanziger Jahren in dem legendären Film Metropolis von Fritz Lang. Neuer Wohlstand und neues Elend lagen – oft auch räumlich – nah beieinander. Der Wohlstand und die Freiheit der einen waren zunächst einmal die Armut und Unfreiheit der anderen. Dass dieser Prozess letztlich auf unserem Kontinent zu einem gesellschaftlichen Fortschritt führte, der Wohlstand und Freiheit für viele brachte, war das Ergebnis eines langen politischen Kampfes. Dieser Fortschritt kam nicht automatisch, war nicht das Ergebnis einer unsichtbaren Hand.
So wie die sozialen Bewegungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die entstehende Industriegesellschaft und den neuen radikalen Kapitalismus zähmen und humanisieren mussten, stellt sich heute wieder eine vergleichbare Aufgabe. Denn die Digitalisierung der Welt hat bislang nur das Potential, um Wohlstand und große Innovation hervorzubringen. Denn genauso wie damals wird durch die rasante technische Entwicklung nicht zuallererst unsere Arbeitswelt herausgefordert, sondern unsere Gesellschaft und unser Denken werden in ihrer Gesamtheit revolutioniert. Ich habe keine kulturpessimistische Sicht auf diese technologische Entwicklung. Im Gegenteil, es geht mir um ein Nachdenken darüber, wie diese atemberaubende Technik zum Nutzen der vielen und nicht der wenigen in unsere Gesellschaft integriert werden kann. Meine Frage ist, ob und wie es uns gelingt, zu einer Zivilisierung und Humanisierung dieser neuen technischen Revolution zu kommen. Denn bislang steht nicht fest, ob die neuen Entwicklungen mehr Gutes oder mehr Schlechtes bringen werden. Viele Fragen sind noch offen: Bedeutet es ein Mehr an Unabhängigkeit und Flexibilität, wenn immer mehr Menschen ihre E-Mails jederzeit auf ihrem Smartphone lesen und wenn Vorgesetzte per elektronischem Kalender noch kurz vor dem Schlafengehen zu einer Teambesprechung am nächsten Morgen einladen?
Oder führt dies zu einer Entgrenzung von Arbeit, wodurch wir das lang erstrittene Recht auf Freizeit, ohne es zu merken, einfach aufgeben? Macht das Speichern von Bewegungsbildern und Kommunikationsdaten unsere Welt wirklich sicherer, wie das seit 9/11 behauptet wird, oder wird damit der Staat, der ein neues »Super-Grundrecht Sicherheit« schützen will, nicht vielmehr selbst zum Sicherheitsrisiko für seine Bürger? Bringt permanentes Online-Voting eine direktere Demokratie hervor, oder führt es eher zu einer Trivialisierung von komplexen Problemen? Das sind Fragen, die unsere Gesellschaft beantworten muss, wenn es nicht zu fatalen Fehlentwicklungen kommen soll. Denn es klingt zwar verführerisch, wenn ein online-überwachtes Auto automatisch bremst, sobald die Höchstgeschwindigkeit überschritten ist; oder wenn herzinfarktgefährdete Menschen im Alltag rund um die Uhr medizinisch überwacht werden, weil diese Überwachung individuelle und kollektive Vorteile zu bringen scheint.
Schon jetzt versprechen Versicherungen Beitragsermäßigungen für dieses »vernünftige Verhalten«, in einem nächsten Schritt werden von denjenigen Risikoaufschläge verlangt werden, die sich dieser »freiwilligen« Kontrolle ihres Verhaltens entziehen. Es ist absehbar, dass am Ende aus dem Risikoaufschlag ein Zwang zur Kontrolle werden wird, natürlich immer mit dem fürsorglichen Argument, dass vernünftiges Verhalten gut für den Einzelnen und billiger für die Allgemeinheit sei. Eine solche Entwicklung wird schlussendlich aber zum »am Netz hängenden Menschen« führen, der in allen Lebenssituationen überwacht wird.
Und ein weiterer bedrückender Trend zeichnet sich ab: Wenn wir Menschen durch diese Vernetzung nur noch die Summe unserer Daten sind, in unseren Gewohnheiten und Vorlieben komplett abgebildet und ausgerechnet, dann ist der gläserne Konsumbürger der neue Archetyp des Menschen. Schon heute ist es das Geschäftsmodell von Facebook und anderen, unsere emotionalen Regungen und sozialen Beziehungen in ein ökonomisches Verwertungsmodell zu überführen und unsere Daten gewinnbringend zu nutzen. Wenn die Messung unseres Augenzwinkerns oder die Beschleunigung unseres Pulses beim Ansehen bestimmter Produkte in Echtzeit in die Datenbank von multinationalen Konzernen fließen, ist der neue Mensch nur noch die Summe seiner Reflexe, und er wird biologistisch komplett determiniert. Am Ende könnte eine solche Entwicklung dazu führen, dass wir nur noch über jene Kaufangebote informiert werden, die vermeintlich zu uns passen. Und der Schritt, bis wir dann auch nur noch die politischen und kulturellen Informationen erhalten, die unseren vermuteten Interessen entsprechen, ist ein kleiner. Damit wäre dann die Vorstellung vom Menschen, der sich frei entwickeln und der es durch Bildung und harte Arbeit nach »ganz oben schaffen« kann, endgültig erledigt. Ein neuer Mensch würde entstehen: der determinierte Mensch.
Denn die »vermuteten Interessen«, die angeblichen »Präferenzen« eines Menschen, sind vielleicht gut und schön, wenn ein Online-Händler unsere Absichten vorwegnimmt und, wie wir unlängst erfahren haben, das Paket schon losschickt, ehe wir überhaupt wissen, dass wir etwas kaufen wollten. Wie steht es aber mit dieser Entschlüsselung angeblicher Absichten, wenn Menschen sich um einen Beruf, einen Kredit, eine Ausbildung bewerben? Was bedeutet es, wenn wir bald nicht nur im Büro, sondern auch im Haushalt, im Auto, überall gelesen werden und ein Abbild von uns erstellt wird, das der Bundespräsident den »digitalen Zwilling« nennt und von dem wir nicht wissen, wer ihn wie zusammensetzt. Wie aktuell diese Fragen sind, zeigte sich unlängst beim BGH-Urteil zu der Frage, ob Kreditscoring-Unternehmen wie die Schufa den Menschen mitteilen müssen, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kommen. Der quantifizierte Mensch wird uns künftig wie ein Schatten begleiten: zusammengesetzt aus den Signalen und Daten, die wir und alle anderen senden. Das wird, wie jeder heute schon bemerkt, dem Einzelnen durchaus enorme Vorteile bringen. Aber es wird ihn auch zum Bestandteil einer Rechnung machen. Es kann nicht sein, dass diese Rechnung ohne unsere Kenntnis, unser Zutun und unsere Interventionsmöglichkeiten gemacht wird.
Um das zu verhindern, müssen wir handeln. Denn von allein wird nichts gut werden. So wie die »unsichtbare Hand« eines sich selbst regulierenden Marktes in der Vergangenheit ein Trugschluss war, ist die heute so populäre Annahme, dass durch die Digitalisierung aller Lebensbereiche automatisch ein Mehr an Lebensqualität, Demokratie,...