Soziale Sicherheit ist ein Menschenrecht
von Franz Segbers
Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 25) wird vielfach ein vergessenes Menschenrecht genannt, und es scheint auch kaum noch von praktischer Bedeutung zu sein. Dabei wäre es dringender denn je, da weltweit Armut, Hunger, Prekarität und soziale Unsicherheit zunehmen. Der nach langwierigen Verhandlungen und gegen den Widerspruch der USA 1966 verabschiedete Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte formuliert aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte normative soziale Rechte wie das Recht auf Nahrung, Arbeit, Gesundheit, Wohnung, einen angemessenen Lebensstandard. Zuständig für die Überwachung dieses Sozialpaktes ist der UN-Sozialausschuss. Er hat 2007 in seiner Allgemeinen Bemerkung1 die Normen des Rechts bekräftigt und gefordert, »unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu ergreifen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen« (Ziff. 40).2
Perestroika für die Ökonomie
Jede Zeit hat ihre Leitwissenschaft. Die Leitwissenschaft unserer Zeit ist die Ökonomie, sodass manche gar von einem »Zeitalter der Ökonomen«3 sprechen. Der nobelpreisgeehrte Ökonom Paul Samuelson hatte in seinem Standardwerk die »Volkswirtschaftslehre als die Königin der Sozialwissenschaften«4 bezeichnet. Doch angesichts der Krise mahnte Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts, die Ökonomen zur Bescheidenheit: »Die Krise bedeutet auch das Ende des ökonomischen Imperialismus, dieses Glaubens, dass wir über den anderen Wissenschaften stehen.«5 Straubhaar forderte ein neues Denken, gleichsam eine Perestroika, für die Ökonomie. Es geht aber nicht allein um einen fachwissenschaftlichen Streit zwischen verschiedenen ökonomischen Denkschulen. Die Krise reicht tiefer. Es ist der »ökonomische Imperialismus«, der in einem solchen Maß ungebrochen herrscht, dass Joseph Vogl in seinem Essay über Das Gespenst des Kapitals6 von einer modernen oikodizee sprechen kann. So wie der biblische Hiob an Gottes Allmacht zu zweifeln droht, so auch der moderne Mensch, wenn er der Allmacht des Marktes, näherhin der Ökonomie, ausgeliefert ist. Der Grund liegt in der allen ökonomischen Denkansätzen unhinterfragt zugrunde liegenden Figur des homo oeconomicus.
Heiner Flassbeck et al. sprechen in ihrem Buch über den Irrweg Grundeinkommen7 von einem Menschen, der wie der homo oeconomicus kalkulierend nach seinem Vorteil sucht. Gerade ärmere Menschen würden »im System bedingter Hilfe« kalkulieren, »ob sich Erwerbsarbeit überhaupt noch lohnt«8. Wie wäre es erst bei einem bedingungslosen Grundeinkommen! Doch diese Behauptung ist empirisch nicht haltbar, sie entspringt dem Modelldenken der Ökonomen. Das Denkmodell des homo oeconomicus kann keineswegs erklären, warum denn in Deutschland etwa 30 Prozent, somit über 1,3 Millionen, der Menschen im Transferbezug einer Erwerbsarbeit nachgehen. Wenn sie nur nach ihrem Vorteil kalkulierend agieren würden, warum ist dann die Arbeitsmotivation und die Bereitschaft Erwerbsloser, Arbeit um jeden Preis zu akzeptieren, im Vergleich zur übrigen Bevölkerung sogar höher? Warum würden sogar 80 Prozent auch dann gerne arbeiten, wenn sie das Geld nicht brauchen würden?9 Dies kann als Hinweis gelten, dass ein Denken in den Kategorien des homo oeconomicus empirisch unhaltbar, anthropologisch falsch und ethisch höchst problematisch ist.
Eine allein ökonomische Sichtweise reicht zur Problemlösung nicht aus. Eine zukunftsfähige Gesellschaft wird vielmehr stets von den Menschenrechten auszugehen haben. Menschenrechtliche Verpflichtungen spielen in den Ausführungen von Irrweg Grundeinkommen überhaupt keine Rolle. Menschenrechte sind jedoch keineswegs ein naiver Moralismus, sondern »eine realistische Utopie«, denn sie malen das kollektive Glück nicht in sozialutopischen Bildern aus, sondern verankern den Anspruch auf eine gerechte Gesellschaft in den Institutionen des Staates.10
Soziale Sicherheit als Menschenrecht
Das die wohlfahrtsstaatliche Programmatik nach dem Zweiten Weltkrieg prägende Grundrecht auf soziale Sicherheit verdankt sich der Atlantic Charta (1941), in der die Alliierten für den Wiederaufbau Europas die geradezu utopische Zielvorstellung einer Welt »ohne Furcht und Not« formuliert haben. Zuvor schon hatte der US-amerikanische Präsident Roosevelt 1935 auf die große Weltwirtschaftskrise mit ihren Millionen Arbeitslosen mit einem Social-Security-Gesetz geantwortet. Bei den Beratungen zur Gründung der Vereinten Nationen wurde diese Zielvorstellung der sozialen Sicherheit mit der Idee der sozialen Menschenrechte verwoben und in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung (1948) jedem Menschen ein »Recht auf soziale Sicherheit« zugesprochen. Er habe Anspruch darauf, »in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind« (Art. 22). Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit formuliert das Leitbild einer Gesellschaft, die allen ihren Mitgliedern allgemeine Teilhabe und Teilnahme garantieren will.
Eine Antwort auf die Wirtschaftskrise
Die Epoche eines eingebetteten Kapitalismus, die sich an einer keynesianischen Wirtschaftspolitik, Sozialstaatlichkeit und an sozialen Menschenrechten orientierte, geriet mit Beginn der 80er-Jahre in eine tiefe Krise. Mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher wurde ein »Wettlauf in die Vergangenheit«11 eingeleitet. Ein marktradikaler Neoliberalismus, der jede Abweichung vom institutionellen Arrangement freier Märkte bekämpfte, setzte sich durch. Bisher auf soziale Ziele ausgerichtete internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds oder die Weltbank wurden neoliberal umprogrammiert. »Mehr Markt und weniger Staat« wurde nun zur neuen Programmformel. Die globalen Rechte wurden einseitig an den Interessen der Global Players ausgerichtet, während die sozialen Rechte erodierten. Ein Weltwirtschaftsregime wurde etabliert, für dessen ökonomische Interessen die sozialen Menschenrechte ein Hemmnis waren. Weltbank, Internationaler Währungsfonds, Welthandelsorganisation und andere globale Institutionen wurden zu Garanten der Eigentumsinteressen in der neoliberalen Globalisierung.12 Sie haben sich ein internationales Recht geschaffen, das die derzeitige Krisensituation ursächlich ermöglicht und befördert hat. Die längst überwunden geglaubte soziale Unsicherheit kehrte nicht zuletzt durch dieses neoliberale Arrangement national und global zurück.
Flassbeck et al. argumentieren ethisch und ökonomisch. Ökonomisch sei es nicht möglich, »die Arbeitsteilung beziehungsweise ihre Vertiefung durch Spezialisierung infrage zu stellen, indem man die Anreize explizit so setzt, dass sich Arbeitsteilung für einige weniger lohnt als Autarkie plus Unterstützung von außen«13. Man kann sich nicht auf Kosten anderer das Recht herausnehmen, durch die Unterstützung jener leben zu wollen, die erwerbstätig sind. Denn: »Die Freiheit des einen, nicht am Erwerbsleben teilzunehmen, auch wenn er dazu in der Lage wäre, führt zum Zwang für andere, eben diese Freiheit des einen durch ihre eigene Arbeit und ihre eigene Bereitschaft, deren Früchte zu teilen, zu ermöglichen.«14 Dies sei ethisch verwerflich und ökonomisch kontraproduktiv: »Doch Leistung und Gegenleistung lassen sich in einer Marktwirtschaft nicht einfach beliebig trennen.«15 Diese Argumentation will ich menschenrechtlich und gerechtigkeitstheoretisch prüfen.
Lebensdienliches Wirtschaften
Die Argumentation von Flassbeck et al. zielt auf eine Ausschöpfung der Produktivität. Deshalb sind für sie Lohnerhöhungen auch besser als eine Arbeitszeitverkürzung. Den Befürwortern eines Grundeinkommens werfen sie den Glauben vor, »dass die Gesellschaft zu wenig Arbeit hat, um alle beschäftigen zu können«; sie wollten »daher einem extrem großen Teil des gesamten Arbeitskräftepotenzials die Möglichkeit geben, Arbeitszeitverkürzung mit einem gewissen Lohnausgleich (eben dem Grundeinkommen) zu wählen«.16 Ihr Gegenprogramm lautet: »Lohnerhöhungen sind in dieser Hinsicht allemal besser als Arbeitszeitverkürzung, um die Produktivität auszuschöpfen, weil dann ein Nachfrageausfall sehr unwahrscheinlich ist.«17
Ein Nachfrageausfall muss um jeden Preis ausgeschlossen werden. Deshalb wird auch einer Lohnerhöhung gegenüber einer Arbeitszeitverkürzung der Vorzug gegeben. Die Logik...