Thomas Anz
Als Navid Kermani 2015 den Joseph-Breitbach-Preis erhielt, nannte er seinen damit ausgezeichneten Roman »Dein Name« gleich zu Beginn seiner Dankesrede, wie bereits im Roman selbst und in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen, ein »Totenbuch«.1 Der Roman »gedenkt der Menschen, die in meinem Leben sterben«.2 Zugleich reflektiert er über dieses Gedenken. Und Kermani setzt beides in seiner Rede fort. »Dein Name« enthält 21 Gedenktexte über gestorbene Persönlichkeiten, die er kannte. Die Preisrede fügt ihnen fünf hinzu, drei weitere erschienen 2016 und 2017 im »Spiegel« und in der »Zeit«, darunter die Trauerrede für seinen Vater. Es scheint sich also tatsächlich, wie im Roman angekündigt, um ein größeres Gedenkprojekt zu handeln, das nicht auf den Roman und die Dankesrede beschränkt ist.
Schon Kermanis erste literarische Veröffentlichung verweist in ihrem Titel auf den Tod (»Das Buch der von Neil Young Getöteten«, 2002). Und auch »Kurzmitteilung« von 2007, der erste Text Kermanis, der die Gattungsbezeichnung ›Roman‹ trägt, will als Erinnerung an eine Tote verstanden werden. Er ist einer jung gestorbenen Kölner Schauspielerin gewidmet: »Im Gedenken an Claudia Fenner (1964–2005)«;3 der frühe Tod einer Kölnerin ist dann auch der Ausgangspunkt und das wichtigste Leitmotiv des fiktionalen Textes. Der Tod steht im Zentrum von Kermanis ganzem Werk – bis hin zu einer Rede, die er im Juli 2017 zum zwanzigjährigen Bestehen des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München gehalten hat.4 Hier sprach er über »Gedenkkultur und Gedenkkritik« in der Erinnerung an die von den Nationalsozialisten ermordeten Juden. Wo die Rede näher auf einzelne Personen eingeht, ist sie vor allem Marcel Reich-Ranicki und seiner Frau Tosia gewidmet – sowie dessen Erinnerungen an die Zeit im Warschauer Ghetto. Aus Reich-Ranickis »Mein Leben« zitiert Kermani ausführlich die Schilderung seines Abschieds von den Eltern vor ihrer Ermordung, darunter die Sätze: »Meine Eltern hatten schon wegen ihres Alters – meine Mutter war 58 Jahre alt, mein Vater 62 – keine Chance, eine ›Lebensnummer‹ zu bekommen. Ich sagte ihnen, wo sie sich anstellen mussten. Mein Vater blickte mich ratlos an, meine Mutter erstaunlich ruhig. Sie war sorgfältig gekleidet: Sie trug einen hellen Regenmantel, den sie aus Berlin mitgebracht hatte. Ich wusste, dass ich sie zum letzten Mal sah.«5
Reich-Ranickis Erinnerungen sind für Kermani ein Anlass für Reflexionen über die emotionale Wirkung von literarischen Schilderungen, die mit dem Tod zusammenhängen, auf die Leser. Während seine zahlreichen poetologischen Überlegungen zum eigenen Schreiben über den Tod auf seine persönlichen Emotionen und Probleme damit immer wieder eingehen, die möglichen Gefühle der Lesenden aber weitgehend ausklammern, bezieht er sie hier mit ein: Reich-Ranickis »Schilderungen des Warschauer Ghettos«, so führt er aus, »rühren in ihrer dezidierten Antisentimentalität noch den hartgesottensten Leser zu Tränen. Und ich fragte mich: Was ist es, was ich, was Millionen Leser – fast drei Jahre stand das Buch ununterbrochen auf der Spiegel-Bestsellerliste –, was also praktisch die gesamte lesende Bevölkerung Deutschlands bei der Lektüre empfunden hat – ist es Schuld? Ja, Schuld, denn die Geschichte zu tragen, von ihrer Last auf die Knie zu sinken ist keine Frage der persönlichen Täterschaft – Brandt hat gegen Hitler gekämpft –, sondern der Verantwortung für den Ort, an dem man nun einmal lebt. Scham? Gewiss ist es auch Scham: Scham, ebendas gute, sichere und bequeme Leben zu führen, das Deutschland den Juden vorenthalten hat. Aber ist das alles? Sind Schuld und Scham die einzigen oder auch nur die vorherrschenden Gefühle, mit denen heutige Leser auf Marcel Reich-Ranickis Schilderungen aus dem Warschauer Ghetto reagieren? Ich glaube nicht. Mich jedenfalls überkam bei der Lektüre von ›Mein Leben‹ mehr noch der Eindruck eines immensen, eines nicht mehr gutzumachenden Verlusts – eines Verlusts für uns, die wir heute Deutsche sind.«6
Die Frage nach den Emotionen zu stellen, die literarische Texte über den Tod beim Lesen hervorrufen, bietet sich auch bei und nach der Lektüre von Kermanis »Gedenktexten« an. Seine eigenen poetologischen Überlegungen dazu lassen sich damit sinnvoll ergänzen – und im genaueren Blick auf das Gedenken an den Förderer und Freund Heinz Ludwig Arnold exemplifizieren (mit dem dieses Heft eröffnet wird).7
Dass der Tod im Zentrum von Kermanis Werken steht, macht noch nicht dessen Besonderheit aus. Denn neben der Liebe (wie in Kermanis »Große Liebe« und seinem jüngsten Roman »Sozusagen Paris«) ist der Tod seit jeher ein dominantes Motiv und Thema der Literatur generell. Gründe dafür, warum Autoren ihre Figuren so häufig sterben lassen und warum Leser sich das gerne gefallen lassen, gibt es viele. Einer der wichtigsten dürfte sein, dass der Tod in literarischen Texten – oft zusammen mit der Liebe – ein Ereignis mit kaum zu überbietender, sozusagen todsicherer Emotionalisierungskraft ist.8
Manche literarischen Gattungen sind ohne den Tod nicht existent. Für die Tragödie ist er konstitutiv. Ein Kriminalroman kommt ohne Mord kaum aus. In Märchen, wie sie von den Brüdern Grimm überliefert wurden, ist der Tod omnipräsent. Märchen treiben ein permanentes Spiel mit den Todesängsten ihrer Adressaten – und mit der triumphalen Freude, wenn die Protagonisten dem Tod entkommen und diejenigen sterben müssen, die vorher ihr Leben bedrohten.
Kermanis Gedenktexte stehen solchen literarischen Gattungen fern. Doch die seit der Tragödientheorie in der »Poetik« des Aristoteles und im Rückgriff auf sie immer wieder gestellten Fragen der Literaturtheorie nach den emotionalen Wirkungsmöglichkeiten, die der Tod in literarischen Texten für die Rezipienten hat, sind auch im Blick auf Kermanis Werk sinnvoll und ergiebig. Ziel der Tragödie ist nach Aristoteles bekanntlich die Erregung von Mitleid und Furcht (oder wie immer eleos und phobos angemessen zu übersetzen sind). Im Dienst dieser Emotionalisierungsabsichten steht eine Reihe von literarischen Techniken, die Aristoteles in Form von Beobachtungen und Ratschlägen formulierte. Sie lassen sich relativ problemlos auf andere Texttypen, insbesondere erzählende, übertragen, auch auf den Typus des Gedenkens an Tote, dem Kermani sich geradezu obsessiv verpflichtet sieht. Untersuchungen dazu, die durch die seit zwei Jahrzehnten mit zunehmender Intensität interdisziplinär betriebene Emotionsforschung angeregt sind, verbinden Aussagen über bestimmte Merkmale des Textes mit Aussagen darüber, welche Emotionen damit ausgedrückt und beim Leser evoziert werden (wollen), sowie mit Aussagen über Regeln, denen das Zusammenspiel von Textmerkmalen und Emotionen folgt.
Macht man sich bewusst, in welchen unterschiedlichen Szenarien der Tod in literarische Texte eingebunden werden kann, wird schnell deutlich, welche davon in Kermanis Werk dominieren und welche nicht. Todesszenarien unterscheiden sich voneinander unter anderem dadurch, wie der Tod darin in Relation zum Zeitpunkt der Wahrnehmung platziert ist: als zukünftige Möglichkeit, als gegenwärtiger Vorgang des Sterbens oder als vergangenes, nur noch im Gedächtnis präsentes Ereignis. Der Tod als zukünftige Möglichkeit ist ein Bedrohungsszenario, in dem Angst dominiert, verbunden mit der Hoffnung, der Bedrohung zu entgehen. Das Szenario des Sterbens ist häufig eine Trennung und ein Abschied. Der Tod ist hier nicht mehr abzuwenden und in hoher Abhängigkeit von den dargestellten Todesarten und den Formen ihrer Darstellung offen für ganz unterschiedliche Emotionen. In Kermanis Werk dominieren eindeutig Szenen, in denen der Tod ein vergangenes Ereignis ist, Erinnerungs- und Verlustszenarien, verbunden vorrangig mit Trauer. Sie könnten auch mit Schuld- oder Schamgefühlen belastet sein, wenn die Überlebenden sich für den Tod einer Person mit verantwortlich fühlen, oder mit Wut auf jene, denen die Schuld an dem Tod zugeschrieben wird. Schuld und Scham spricht Kermani im Blick auf Reich-Ranickis autobiografische Erinnerung an die Opfer des Holocaust ausdrücklich an, in seinen eigenen Gedenktexten, auch in dem über Arnold, sind jedoch andere Emotionen wichtiger.
In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen ist von dem »Schock des Todes«9 oder von der »Erschütterung« die Rede, »die das Sterben für die Lebenden mit sich bringt«.10 Der Ich-Erzähler in dem Roman »Kurzmitteilung« zeigt sich über den plötzlichen und unerwarteten Tod einer Frau schockiert, obwohl er sie kaum kennt. Denn die »Kurzmitteilung« (in Form einer SMS) über ihren Tod verweist auf keine konkreten Todesursachen, die es ihm ermöglichen könnten, sich selbst nicht von ihnen bedroht zu fühlen. Der Erzähler reflektiert über diverse Todesumstände und ihre emotionale Wirkung auf ihn: »Bei Alten und Kranken greifen die Mechanismen, mit denen ich mir den Tod vom Leibe halte. Wenn jemand im Krieg stirbt oder bei einem Erdbeben, bleibt er abstrakt genug, um nicht an mein eigenes Sterben zu erinnern. Aber wieso stirbt jemand wie Maike Anfang, dachte ich – wieso stirbt jemand einfach so? Wenn ihr Tod ohne Grund war, mußte es auch mein Leben sein.«11
Mitteilungen über das Leben und den Tod eines anderen oder die...