Gabriele Fritsch-Vivié
Wo sie steht
ist das Ende der Welt
das Unbekannte zieht ein wo eine Wunde ist
Mit diesen Worten und mit dem gesamten Poem »Die Suchende« aus dem Jahr 1966 zeichnete Nelly Sachs das Bild ihres Lebens. (Es wird darin manchmal auch eine Assoziation an die von Nelly Sachs gelegentlich erwähnte Gestalt der Marja Wolkonskaja gesehen, doch der Text steht eindeutig in Bezug zu ihrem eigenen Leben oder ist aus eigener Erfahrung der Wolkonskaja als Projektionsfläche zugeordnet.) Wie oft hatte Nelly Sachs erfahren, dass sie am Ende ihrer Welt stand, wo sie nicht mehr weiterleben zu können glaubte. Wie oft ist dann in dieser Wunde und durch diese Wunde ein Unbekanntes, Zukünftiges ihr erwachsen. So war ihr Leben, ihre Erfahrung, es blieben ihr lebenslange Wunden.
Als Kind verletzt – unbeantwortet in ihrem kindlichen Gefühlsleben –, erfuhr sie wenig Verlässlichkeit in ihrer Hinwendung zu denen, die ihr Schutz hätten geben sollen, die Eltern, das Kindermädchen, die Lehrerin; »immer Äußerstes erlebt«, heißt es bei ihr. Einsam, ohne Geschwister, spielte sie mit den vom Vater geschenkten Tieren im großen Garten – doch sie durchlebte alles mit einer ihr noch unbewussten Kraft und Resilienz.
Die Eltern waren nicht gezielt böswillig oder verletzend gewesen, die Mutter war zwar liebevoll, aber kränklich; es erwuchs vielmehr aus deren eigener Geschichte und der gesellschaftlichen Konvention um die Jahrhundertwende – Nelly Sachs ist am 10. Dezember 1891 geboren –, man war prüde und verschlossen, gleichzeitig autoritär und selbstbezogen. Als Kind hatte Nelly Sachs dem Vater versprochen, nicht immer gleich zu weinen, wenn sie gescholten werde – die Nachbarin in Stockholm, Rosi Wosk, und die Freundin Eva-Lisa Lennartsson bestätigten, dass sie Nelly Sachs nie weinen sahen.
Zum Klavierspiel des Vaters hatte sie hingebungsvoll getanzt, mit »erdachten Tanzbewegungen«, hatte in der großen Bibliothek des Vaters viel gelesen, sich mit den Heiligenlegenden, später mit den christlichen Mystikern und mit unterschiedlichster Literatur beschäftigt. Sie hatte begonnen, Gedichte zu schreiben, kleine Prosatexte. Ihr Leben verlief solcherart zurückgezogen bis in die Jahre als junge Frau. Da kam es zu dem einschneidenden Erlebnis einer jungen Liebe, im Sommer 1908, sie war 17 Jahre alt. Keinem der ihr Nahestehenden hat sie je etwas über dieses Erleben erzählt. Wir wissen nur, die Nichterfüllung dieser Liebe versetzte sie in völlige Verzweiflung, bis an die Grenze des Sterbenwollens. Sie verweigerte jegliche Nahrung und wurde von 1908 bis 1910 in einem Sanatorium behandelt. Dort rettete der Arzt, Dr. Richard Cassirer, nicht nur ihr Leben, sondern, von ebenso großer Bedeutung, ihre Begabung und ihren Willen zu schreiben, indem er sie im Schreiben bestärkte und ihr das Gedicht unaufdringlich und unbemerkt als persönliches Rettungsseil an die Hand gab. Es ließe sich hier ein Moment diagnostizieren, wo sie ›am Ende ihrer Welt‹ stand und in dieser ›Wunde das Unbekannte‹ einzog. Immer wieder bezeichnete sie seither ihr Schreiben als ihre »Atemhilfe«. In weniger dramatischer Form meinte sie: »Ich kann mich nur im Gedicht ausdrücken«. Im späteren Werk wurden daraus Sätze wie »Meine Metaphern sind meine Wunden« oder »Die Buchstaben, in denen ich reise«. In der schweren psychischen Krankheit Anfang der 1960er Jahre schrieb sie an ihren Freund Hans Magnus Enzensberger: »Ich kann nur überleben, wenn ich arbeiten darf.«1 Um schließlich in einem Gedicht die Worte zu finden »Von den Seufzerbrücken unserer Sprache / hören wir das heimliche Rauschen der Tiefe«: (»Glühende Rätsel II«).
Wenn auch 1910 kaum genesen aus dem Sanatorium entlassen, empfand sie sich bereits 1915 als künstlerisch reif genug, dem Cotta Verlag einige »Stimmungsbilder« als »Erstlingswerk« und einige Gedichte anzubieten. Noch ohne Erfolg. Erst 1921 wurde ihr erstes und für lange Zeit einziges Buch »Legenden und Erzählungen« bei F.W. Mayer in Berlin verlegt. Nachdem sie schon einige Male ihre Gedichte an die verehrte Dichterin Selma Lagerlöf geschickt hatte, sandte sie ihr nun ihr erstes Buch, worauf diese mit einer sie ermunternden Postkarte antwortete. Als der Redakteur des Berliner Tageblatts, Leo Hirsch, ihr in den späten 1920er Jahren die Veröffentlichung all ihrer Gedichte zusagte, fiel sie der Mutter weinend um den Hals: »Ich bin eine Dichterin, eine wirkliche Dichterin!«2
Nachdem Gedichte zu schreiben schon seit Jahren ihre wesentliche Beschäftigung gewesen war, hatte sie darin nun ihren Weg gefunden. Es war der einzige Weg, den sie gehen konnte. Sie ist ihm all die Jahre gefolgt, durch alle Dunkelheiten und lichten Momente ihres Lebens hindurch. In diesen frühen Jahren begann die Entwicklung ihres unbeirrbaren Selbstverständnisses als Dichterin, von dem Hans Magnus Enzensberger später in einem Interview sagte: »An ihrer Arbeit hat sie immer festgehalten, da war sie vollkommen unerschütterlich.«3 Doch ihre inneren Verletzungen schon in der Kindheit, ihre immer währende Einsamkeit, die undurchschaubaren elterlichen Spannungen haben Spuren hinterlassen. In einem der frühen Sonette beschrieb sie sich als die »Hüterin« für ihre »kleine Welt und für die Seelen, die sich wundgerieben«. Im biographischen Abriss, den Walter Berendsohn, einer ihre ganz frühen Vertrauten, über sie verfasste, bekannte sie: »Es lag ein tieftragisches Schicksal über uns daheim.«4 Mehr Auskunft gab sie darüber nicht, im Gegenteil, eine starke Idealisierung ihrer Eltern lässt sich feststellen.
Was ist aus jener Zeit erhalten geblieben? Neben den Prosatexten ihres Buches, der autobiographischen Kindheitsgeschichte »Chelion«, den Sonetten überFranz von Assisi und andere persönliche Themen, die bekannten Zyklen »Leise Melodie«, »Gebete«, »Tänze«, »Melodien der Bibel«, »Lieder vom Abschied«, letztere meist in einer zeitgebundenen romantisierenden Ausdrucksweise mit vierzeilig gereimten Strophen. In allem zeigte sich bereits ein bewusstes, form- und bildbegabtes Umgehen mit dem Material Sprache. Eines kam in fast all diesen Gedichten deutlich zum Ausdruck: Die Gottesgewissheit, oft auch eine Gottessehnsucht. Diese war ein substanzieller Bestandteil ihres Schaffens. Und in diesem Sehnsuchtspotenzial verbarg sich immer wieder auch eine sublimierte Liebessehnsucht beziehungsweise ein Liebeserlebnis. Nelly Sachs war eine religiöse Dichterin, ihr ganzes Werk wurzelte in ihrer zutiefst religiösen Grundhaltung, ob sie nun, wie in den Berliner Jahren, vom Christlichen Glauben herrührte – von ihrem Schwager Tobias Brand erfuhren wir, dass sie sich hat taufen lassen wollen –, oder ob es, wie in den Jahren nach der Flucht, die Auseinandersetzung mit dem und die innere Bereitschaft zum Judentum war. Immer aber war es ein in verzweifeltem Ringen gesuchter Weg, jenseits aller Dogmen und Institutionen. Nachzulesen ist dies unter anderem in der immer wieder umgearbeiteten Szenischen Dichtung »Abram im Salz« (endgültig 1956) und besonders in den »Briefen aus der Nacht« (1950–1953). Darin stellte sie die brennende Frage: »Ist Sinai und Golgata eine andere Himmelsrichtung?«5
Der Vater starb nach langer schwerer Krankheit im November 1930, Tochter Nelly hatte ihn aufopfernd gepflegt. In diesen Jahren erlebte Nelly Sachs nochmals eine Leidenschaft zu dem in ihrem Haus wohnenden, sie oft besuchenden Arzt Dr. Hanns Georg Liebmann. Wiederum vergeblich, denn er »zog weg«, floh 1934/35 nach London. Gedichte voller Liebessehnsucht, die »Lieder vom Abschied. An den Fernen« scheinen sehr deutlich ihm gegolten zu haben.6 Inzwischen verkehrte Nelly Sachs mit einigen Freundinnen, mit denen sie auch das Romantik-Seminar des geschätzten Professors Dr. Max Herrmann und seiner Frau Dr. Helene Herrmann besuchte. Die Literatur und die eigenen Gedichte waren das Band zwischen den Frauen.
Das wirklich einschneidende, lebens- und werkbestimmende Erlebnis wurde die unerwartete Wiederbegegnung mit dem einst Geliebten 1937/38. (Das Gedicht »Sie stießen zusammen auf der Straße« könnte darauf hindeuten.7) Auch darüber hat sie niemals etwas preisgegeben, es nur ganz vereinzelt in Briefen oder Walter Berendsohn gegenüber erwähnt. Insbesondere diesen furchtbaren Moment, als sie miterleben musste, wie der geliebte Mann »vor meinen Augen gemartert und schließlich umgebracht« wurde. Auch dass der Geliebte ein »Nicht-Jüdischer Mann« war und ein »Widerstandskämpfer«, hat Nelly Sachs nur dem Freund Berendsohn anvertraut. Aus diesem Erlebnis der Wiederbegegnung und was diesem an Schrecklichem folgte »ist meine ganze Dichtung erwachsen«, erklärte sie noch dazu.8 Auch hier wieder das Unbekannte, das ins Offene der Wunde einzog. Der Urgrund und das Movens ihrer Dichtung waren also zu einem bestimmenden Teil schon vor der Flucht entstanden.
Noch sah sie keine Möglichkeit zur Ausreise. Zu einem weiteren Hindernis wurde im April/Anfang Mai 1940 die NS-Verordnung, dass alle Juden zwischen 18 und 55 beziehungsweise 50 Jahren sich bei der Jüdischen Gemeinde melden mussten, um sich für den Zwangs-Arbeitseinsatz registrieren zu lassen. In Panik lief die Freundin Anneliese Neff nochmals zur Schwedischen Botschaft, um nach dem Visum zu fragen. Dort lag es, nachdem die Freundin Gudrun Harlan/Dähnert im Jahr zuvor in einer Rettungsaktion in Schweden Selma Lagerlöf erfolgreich um Hilfe gebeten hatte, längst bereit. Mit beiden Papieren in der Hand – der...