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TEXT+KRITIK 210: Jan Wagner

Verlagedition text + kritik
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl110 Seiten
ISBN9783869164694
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Jan Wagner ist einer der interessantesten und erfolgreichsten deutschsprachigen Lyriker seiner Generation - und das nicht erst, seit ihm 2015 der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen wurde. Seitdem steht er im Zentrum der öffentlichen Diskussion über Lyrik: einer Diskussion, die kontrovers geführt wird und bei der Grundfragen der Gattung berührt werden. Jan Wagners Werk umfasst Gedichtbände und Essays, Kritiken und Reden, Anthologien und Übersetzungen zeitgenössischer englischsprachiger Lyrik. Im vorliegenden Heft wird eine erste Bestandsaufnahme unternommen. Dabei steht die Lyrik Wagners im Vordergrund, aber auch seine Tätigkeit als Übersetzer findet Berücksichtigung.

Frieder von Ammon; Studium der Neueren deutschen Literatur, Komparatistik und Musikwissenschaft in München und Portland, Oregon. Promotion 2004, Habilitation 2013. Seit 2015 Professor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschsprachigen Literatur des 16. bis 21. Jahrhunderts mit Schwerpunkten in den Bereichen Literatur und Musik sowie Theorie und Geschichte der Lyrik. Zuletzt erschienen 'TEXT+KRITIK. Jan Wagner' (2016, Hg.) und 'Literatur und praktische Vernunft' (2016, Mithg.).

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Leseprobe

[6|7]Heinrich Detering

Qualle und Killer


Eine Einführung in das Schrei­ben Jan Wagners

Sprechen wir vorerst nicht von Jan Wagner. Sprechen wir von Theodor Vischhaupt, von Anton Brant und Philip Miller, drei Verborgenen, deren Spuren ein Herausgeber namens Jan Wagner nachgegangen zu sein und deren verschüttetes Werk er wieder freigelegt zu haben behauptet. Derart überzeugend werden sie uns vorgestellt, mit allem, was dazugehört – biografischen Angaben, Fußnoten, Bibliografie –, dass Grund zu der Annahme besteht, sie existierten tatsächlich. Da aber der Band im Buchhandel unter dem Verfassernamen Jan Wagner erhältlich ist, ja sogar als dessen Buch rezensiert worden ist, steht zu befürchten, dass dieser selbst eine Fiktion ist, erdacht von den drei Herren Vischhaupt, Brant und Miller.1

Im Jahr 2013 allerdings hat dann jemand, der sich als Jan Wagner ausgab, in öffentlichen Vorträgen historisch und systematisch über das Erfinden von Dichtern nachgedacht und über die Werke dieser Dichter, die man dann ja gleich dazu erfinden müsste.2 Auch über sich selbst hat er gelegentlich gesprochen, zum Beispiel in der Selbstvorstellung vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2010: »Sich vorstellen – das tut man, nicht wahr, zuallererst mit seinem eigenen Namen. Darf ich mich vorstellen, sagt man und läßt jene Kombination von Lauten folgen, die man sich nicht aussuchen konnte und die einem doch in allen Registern bis zum Schluß treu bleiben wird. Mir selbst lag mein Name lange Zeit wie fremd auf der Zunge. (…) wahr blieb (…), daß weder mein Vor- noch mein Nachname sonderlich originell und selbst ihre Kombination in keinem Telefonbuch eine Seltenheit ist. An einem Winterabend in Berlin, als es klingelte und ich zum Hörer griff, wurde aus dieser Gewißheit ein Augenblick geradezu existentiellen Schreckens. ›Hier ist Jan Wagner‹, sagte ich, nur um am anderen Ende der Leitung eine mir unbekannte Stimme antworten zu hören: ›Hier auch‹«.3

Geboren und aufgewachsen ist dieser vorgebliche Träger des Namens dort, wo die Hansestadt Hamburg aufhört und Schleswig-Holstein anfängt: 1971 in Ahrensburg, im Schatten eines schönen weißen Schlosses. Er studierte in Hamburg, am Trinity College in Dublin und in Berlin, lebt in Berlin und bis vor Kurzem auch in München, ist zu Hause in einem »Australien«, das nicht auf der Landkarte zu finden ist, und hat seine Sache ganz auf die Poesie gestellt, die Landessprache dieses fremden Kontinents: als Lyriker, als Lyrikkritiker, als Übersetzer von Lyrik aus dem Englischen, [7|8]unter anderem von Charles Simic, Simon Armitage, Matthew Sweeney und James Tate. Denn ein Leben ohne Poesie, das hat er selbst einmal geschrieben, »nein: Das ist undenkbar.«4

Er ist dafür, schon vor dem Preis der Leipziger Buchmesse und nach ihm wieder, mit diversen Stipendien und Preisen ausgezeichnet worden, die hier aufzuzählen nicht nötig ist. Die Titel der Bücher aber, die unter seinem Namen erschienen sind, will ich doch nennen. Von 1995 bis 2003 gab er mit Thomas Girst eine Serie von insgesamt elf ›Literaturschachteln‹ heraus, Loseblatt-Anthologien zur zeitgenössischen Weltpoesie, unter dem (zufällig gefundenen) Titel »Die Aussenseite des Elementes«. Mit seinem Dichterfreund Björn Kuhligk unternahm er eine poetische Harzreise, deren Ergebnisse in dem Buch »Der Wald im Zimmer« nachzulesen sind. Mit »Probebohrung im Himmel« erschien 2001 sein lyrisches Debüt, es folgten »Guerickes Sperling« 2004, »Achtzehn Pasteten« 2007 und »Australien« 2010. 2011 veröffentlichte er seine gesammelten Essays zur Poesie, »Die Sandale des Propheten«, 2012 folgten »Die Eulenhasser in denHallenhäusern« – verfasst nicht von Jan Wagner, sondern, wie gesagt, von den Herren Vischhaupt, Brant und Miller, und 2014 der bis dato größte Erfolg, die »Regentonnenvariationen«.

Das heikle Ich – doch, das gibt es oft in all diesen Texten; immer wieder sagt hier jemand oder etwas Ich. Nur ist es so wenig mit Jan Wagner zu verwechseln wie der gleichnamige Anrufer am anderen Ende der Leitung. Was hier Ich heißt, ist oft weniger Voraussetzung des Gedichts als vielmehr sein Effekt (so wie der Dichter in seinen Versen auch, sogar leitmotivisch wiederkehrend, Tanten, Freunde und Kollegen erwähnt, deren Existenz außerhalb dieser Texte sehr zweifelhaft, aber vermutlich auch unschärfer ist). Dieses Ich zeigt sich, indem es sich verbirgt; »when asked / t’ give your real name … never give it«.5

Es zeigt sich verborgen zum Beispiel in toten Malern und Dichtern wie Strindberg und Velázquez, in Zirkusartisten und namenlosen Passanten, in Tieren, und in diesen sogar mit besonderer Vorliebe. Ein »selbstporträt mit bienenschwarm« steht am Ende der »Regentonnenvariationen« wie eine Signatur. Es zeigt eine Art portrait of the artist as a beekeeper, ganz und gar bedeckt von den Bienen, die ihn kleiden und schützen wie das lange Haar die nackte Maria Magdalena oder wie die Rüstung den Ritter; so aber ist es »wirklich sichtbar erst mit dem verschwinden«.6 Der Dichter im Bienenschwarm, der seine Züge trägt, indem er ganz Bienenschwarm ist: dieses Schlussbild erscheint wie ein Emblem der Pflanzen- und der Tierporträts. Es gibt ungemein genaue, anrührende und einfühlsame, oft komische Gedichte von Jan Wagner über Murmeltiere und Rohrdommeln, über Ottern und Dachshunde, über Austern oder jene Qualle, die er in einem hier exemplarisch zu zitierenden Gedicht so anredet:

[8|9]qualle

gefräßiges auge,

einfachste unter den einfachen –

nur ein prozent trennt sie von allem,

was sie umgibt.

stoße dich weiter vor

ins unbekannte: ein brennglas, geschliffen

von strömungen und wellen; eine lupe,

die den atlantik vergrößert.7

Um Erkenntnis, Entdeckung, ja Bereicherung und Vergrößerung der Welt geht es, mithilfe der Sonde des Gedichts, das zugleich auch Lupe sein kann oder Teleskop. Vor allem aber: Das so erkenntnislustige Gedicht ist selbst das handelnde Subjekt, das äugend, schmeckend, strudelnd durch die Welt schwimmt, Jan Wagners Gedicht ist wie die Qualle ›ganz Auge‹, und das Gedicht mit seiner Aufforderung »stoße dich weiter vor« in Wahrheit ein Selbstgespräch. Als er 2006 nach seinem Verhältnis zur damals zeitweise modischen ›Poesie der Fakten‹ und nach seiner Ansicht über das Verhältnis von Poesie und exakten Wissenschaften gefragt wurde, hat Jan Wagner geantwortet: Der Lyriker sei ja »per se ein Eklektizist, ein Sammler, der nimmt, was sich ihm bietet, und es mit dem verknüpft, was er bereits hat. Als solcher wird er die Kluft zwischen den Kulturen nicht schließen, kann sie aber bewohnbar machen. Vielleicht auch haben die recht, die sagen, er könne von den Naturwissenschaften nicht nur Material erhoffen, sondern sich auch zu einer Präzision des Denkens, des sprachlichen Aufbaus, der genauen Bildbearbeitung ermutigen lassen, die eine gefühlige Schwammigkeit von vornherein ausschließen.«8

So sehen wir ihn selbst, den realen Autor, in den Rollen- und Maskenspielen seiner Verse nur so, wie wir in den Gemälden seiner neuen Bildgedichte den Maler sehen oder im Thriller von David Lynch den Killer: indem wir aus dem Blick, den wir unter dem Zwang der Kamera teilen, rückschließen auf den Menschen, dem diese Augen gehören müssen. Er selbst hat in seiner ›Münchner Rede zur Poesie‹, im Lyrik Kabinett, die Lyrik mit dem Kriminalroman verglichen, das Gedicht und die Aufklärung eines Verbrechens. Beiden gemeinsam sei, so sagt er, unter anderem das Vergnügen am Denken, an der Denkaufgabe, die zugleich ganz Spiel ist und in der es doch um Leben und Tod geht.9 Und die uns lehrt, die Welt, die wir zu kennen glauben, für die Dauer der Lektüre aus den Augen von Leuten zu sehen, die wir nicht sind und im wirklichen Leben vermutlich auch niemals sein wollen: Qualle oder Killer.

[9|10]Gedichte seien Instrumente der Entautomatisierung von Sprache und Wahrnehmung, hat der russische Dichter und Theoretiker Viktor Šklovskij zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben. Wir dichten, sagt er, um »den Stein steinern zu machen«,10 damit wir das, was uns umgibt, sehen und nicht bloß wiedererkennen. In einem frühen Essay unter dem mit fast religiösem Pathos auftretenden Titel »Die Erweckung des Wortes« (1914) beklagt er: »(…) wir haben die Empfindung der Welt verloren; wir sind wie der Geiger, der den Bogen und die Saiten nicht mehr fühlt, wir sind nicht mehr Künstler unseres Alltags, wir lieben unsere Häuser und unsere Kleider nicht und trennen uns leicht von einem Leben, das wir nicht empfinden. Nur die Schaffung neuer Formen in der Kunst kann dem Menschen das Erlebnis der Welt zurückgeben, die Dinge erwecken und den Pessimismus töten.«11 Das könnte, das Pathos abgerechnet, beinahe von Jan Wagner sein.

Denn der zitiert an der einen Stelle zustimmend Ezra Pounds in dieselbe Richtung weisenden Imperativ »Make it new«12 und an anderer die nur scheinbar widersprechende Forderung Robert Frosts, das Gedicht solle seinen Lesern nichts Neues zeigen, sondern das, was sie schon kennen – was sie aber eben nur wiedererkennen und nicht sehen.13 Damit aber die Sehweise anders wird, damit wir die Empfindung der Welt wiederfinden, muss die Sprechweise anders werden. Die Poesie ist nicht nur ein, sondern das einzige Mittel, die Sprache in Bewegung und damit unsere sprachlich konditionierten Wahrnehmungen und Denkweisen am Leben zu erhalten; dies ist ihre ›Bestimmung‹,...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Impressum2
Inhalt3
Jan Wagner – Neue Texte????????????????????????????????????????????????????????????6
Heinrich Detering – Qualle und Killer. Eine Einführung in das Schreiben Jan Wagners????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????9
Ernst Osterkamp – Die stillen Helden der Kunstautonomie. Über Jan Wagners »Die Eulenhasser in den Hallenhäusern«17
Gustav Seibt – Des einzelnen fröhlich. Zwei Exkurse zu Jan Wagners Gedicht »nach canaletto«????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????30
I. Ottava rima30
II. Ekphrasis35
Walter Hettche – Unterwegs im Moorarchiv. Zu Jan Wagners Gedicht »torf«????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????42
Michael Braun – Das regungslose Zentrum vom Gesang. Zwei Fußnoten zur Dichtkunst Jan Wagners??????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????48
148
250
Mirjam Springer – Selfie mit Bienen. Jan Wagners Spiegelblicke??????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????53
1 Hütchenspiele53
2 Ecriture de soi54
3 Der ›Kern in der Nuss‹55
4 Selbstporträt ohne Selbst56
5 »die angst vor pfützen und vor spiegelglas«59
6 »die blanke fläche. dieses blatt papier«63
Holger Pils – Mit literaturbetrieblicher Wucht. Das Echo auf die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse an Jan Wagner????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????66
Robin Robertson / Matthew Sweeney – On Being Translated by Jan Wagner????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????76
Robin Robertson76
Matthew Sweeney78
Iain Galbraith – Die Außenseite der Innenseite des Gedichts. Jan Wagner übersetzen??????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????82
Simone Ketterl – Auswahlbibliografie??????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????????90
Biografische Notiz??????????????????????????????????????????????????103
Notizen????????????????????????????104
Reihenanzeige106
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