[2|3] Katja Lange-Müller
Es gibt erste Sätze, Textanfänge, deren Echo man jahrelang, wahrscheinlich sogar bis zum Ende des Lebens hört und fühlt, nein, mehr fühlt als hört (denn das Wort Echo bezieht sich ja eher auf Geräusche), von solch einprägsamem Klang (beim Mitflüstern) und bildhafter Tiefe sind sie. So etwas gelingt – wie nur wenigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern ganz gleich welcher »Mutterzunge« – Emine Sevgi Özdamar. Womit ich nicht gesagt haben will, dass jene Zeilen, die den Anfängen folgen, nicht ebenfalls nachhaltig wären. Dennoch bestimmen gerade die Anfänge fast immer den Grundton und das Atmosphärische, in das sich das Folgende fügt, selbst wenn es sich nicht fügt, sondern das Widersprüchliche verteidigt, das die Unverwechselbarkeit aller Dinge und Wesen ausmacht, natürlich auch die der Emine Sevgi Özdamar. Der stärkste ihrer starken Anfänge ist, meine ich, der des Tagebuch-Romans »Seltsame Sterne starren zur Erde«, der sich zudem als Hommage an die Dichterin Else Lasker-Schüler versteht; deren Worte erkor Emine Sevgi Özdamar zum Titel dieser Geschichte, ihrer Geschichte – und einer der besten, die ich jemals las.1
»DER HUND BELLTE UND HÖRTE NICHT AUF« (S 9), so lautet (im wahrsten Sinne des Wortes) der Satz, mit dem das ungeheure, doch eben nicht unbeschreibliche Frieren beginnt – und Weihnachten endet. Die Ich-Erzählerin, eine junge Schauspielerin aus Istanbul, die Emine Sevgi Özdamar ähnelt, aber nicht gleicht (weil dieses Tagebuch ein durch und durch literarisches ist), und die in jener letzten Weihnachtsnacht von diesem Hinterhofhund geweckt wird, ist allein wie er; keiner da außer ihr und ihm. Dort, wo die junge Frau herkam, kennen die meisten Menschen weder eine derartige, reale Kälte (die metaphorische hingegen sehr wohl) noch das Weihnachtsfest. Um sich des Gebells, der Kälte und der Einsamkeit zu erwehren, liest, nein, rezitiert sie nun Else Lasker-Schüler. Ihr Mund steht offen dabei, ihre Lippen bewegen sich; nur deshalb kann sie verhindern, dass ihr die Zähne klappern, doch nicht das Hundegebell, das sie zu übertönen hofft – mit einem Gedicht (!), genauer, indem sie dies Gedicht spricht, lauter und lauter, bis sie schreit. Oder schreit der Hund und die Frau bellt? Jedenfalls ist Bellen seine Art zu schreien; eine andere Sprache, oder überhaupt eine Sprache, ist ihm ja nicht gegeben – im Unterschied zu den AA-Kommunarden, die vor der jungen Türkin und deren sieben, jetzt allerdings [3|4]abwesenden Wohngenossen auf dieser umgebauten Weddinger Fabriketage gehaust hatten, also gerade dort, wo sie während dieser letzten Weihnachtsnacht keinen Schlaf mehr findet, des Hundes und der Kälte wegen. Die AA-Kommunarden, kahlgeschoren zurückgekehrt von einem Selbsterfahrungsseminar bei dem österreichischen Aktionskünstler Otto Muehl, hatten beschlossen, nicht bloß jeglichen Privatbesitz und engere Bindungen zwischen Frauen, Männern und Kindern abzuschaffen, sondern auch die Sprache. »(W)eil die Sprache Klassenunterschiede aufbaute. Die Sprache war ein Machtinstrument, deswegen zurück zum Urschrei. Nur das physische Muß und Elend sollte herausgeschrien werden, wie bei Kindern.« (S 10) – Und Tieren, etwa Hunden, möchte man hinzufügen … – Dieser Assoziation allerdings enthält sich Emine Sevgi Özdamar, oder sie überlässt sie absichtlich ihren Lesern (denen auch mit jeder Zeile kälter wird), denn die folgende, ihr sehr bewusste und dramaturgisch genau gesetzte Assoziation, die ich als große, ironische Metapher verstehe, ist ihr wichtiger: Die Ich-Erzählerin, eine Schauspielerin (und eine gute Zeichnerin, wie Else Lasker-Schüler eine war), liebt nämlich gerade das, was die Muehl-Groupies durch Geschrei (oder Gebell) ersetzen wollten, die Sprache, und besonders die Sprache der Dichterinnen und Dichter, jetzt eben die der deutschen Dichterinnen und Dichter. Weil sie die besser verstehen und in deren Heimat spielen wollte auf den Brettern, die – ihr ganz gewiss immer noch und immer wieder – die Welt bedeuten, kam sie nach Berlin. Es waren die 1970er Jahre, jene Jahre also, in denen sich nicht nur AA-Kommunarden der Sprache, der Literatur, der konventionellen Kunst überhaupt, verweigerten, mithin eine Zeit, in der, um sich Gehör zu verschaffen, viel geschrien und den Massen, na, zumindest den studentischen Westberliner Demonstranten, manche Agitationsparole durchs Megaphon entgegengebellt wurde.
Traditionelles und ohnehin jedwede Art von Brauchtum waren in Verruf geraten, trotzdem stand in dem »großen Raum (…) neben der Tischtennisplatte und den kaputten, hinkenden Sesseln ein Weihnachtsbaum, an dem farbige Glühbirnen leuchteten« (S 13), weil ja auch die 68er-Revolutionäre eine von mehr oder minder christlichen Ritualen geprägte Kindheit hatten und die Kindheit immer irgendwie anfällig macht für gewisse Inkonsequenzen. All dies beschreibt die Autorin aber lediglich wahrnehmend, nicht wertend, und mit feiner, melancholischer Ironie. Und dann schickt sie ihre Protagonistin (oder eben noch einmal sich selbst) durch die sieben, nur mittels dünner Pappwände voneinander getrennten Zimmer der auf Weihnachtsbesuch bei ihren spießigen Eltern weilenden Wohngenossen. Das Wort Einsamkeit fällt in diesem Romananfang nicht ein einziges Mal; selbst davon, dass die Schauspielerin die anderen vermisst, ist nicht die Rede. Emine Sevgi Özdamar geht wesentlich subtiler vor; sie erzählt von der Kälte und dem Atem, der die Kälte sichtbar und damit weniger spürbar machen würde, [4|5]wenn, ja, wenn sie nicht allein, sondern in (redseliger oder gar schreiender) Gesellschaft wäre. Sie schildert die Situation so, dass der Eindruck entsteht, die junge Frau folge ihrer eigenen Erscheinung in einem Film, der sich vor ihr abspult, obwohl er doch – mit ihr in der Hauptrolle – gerade erst gedreht wird. Genau darin, in dieser beteiligten Distanz, zeigt sich Özdamars ganz spezielles Können, ihre besondere Art der Wahrnehmung, die sozusagen eine osmotische ist, in dem Sinne, dass die äußere der inneren entspricht. Und schon begeben sich die Leser, quasi an der Seite der jungen Frau, auf Wanderung durch die Fabriketage, klappern in ihrer Begleitung mit den Zähnen und die Zimmer ab, hören den Hund kläffen, sehen das Laissez-faire, das so wirkt, als seien alle davongelaufen wie die Sau vom Trog, riechen den kalten Zigarettenrauch, schmecken die eisige Schokolade. Die Leser sind, ihre fünf Sinne gebrauchend, dabei, werden eins mit Emine Sevgi Özdamars Protagonistin, vielleicht sogar mehr als die Autorin selbst. »Ich ging durch den langen Korridor und den großen Raum zur Küche. Dieser Weg war so lang, daß Inga an kalten Tagen mit dem Fahrrad zur Toilette fuhr, ihr Atem fuhr mit. Ich machte in allen Zimmern die Lichter an. In Jens’ Zimmer lag ein Stofftier auf dem Bett. Ein Bär, seine Glasaugen waren beschlagen. In Susannes Zimmer stand neben der Schreibmaschine ein Aschenbecher voller gefrorener Kippen, in Ingas Zimmer eine offene Wasserflasche, das Wasser war gefroren. Bei Janosch lag eine angebissene Schokolade gefroren auf der Tastatur der Schreibmaschine, ich sah auf den Abdruck seiner Zähne und dachte, er lächelt mich an. Als ich die Tür zu Rainers Zimmer aufmachte, ging plötzlich das Radio an. Wie warm die Stimme des Mannes war, der gerade sprach! Ich legte meine Hände auf das Radio, aber die Kälte des Metalls brannte. Auf einem Teller lag eine angebissene Bockwurst mit gefrorenem Ketchup und sah aus wie Popkunst. In Barbaras Zimmer stand eine Kiste voller zusammengefrorener Bonbons und Schokolade neben ihrer Schreibmaschine, und es kam mir so vor, als ob die Bonbons vor Kälte grinsten. Vor allen Zimmertüren standen Schuhe, die mit Barbaras Schokolade und Bonbons gefüllt waren. Aus Peters Stiefeln nahm ich im Vorbeigehen ein Stück Schokolade. (…) Auf dem runden Küchentisch lagen Reste von Lebkuchen, eingewickelt in Plastikfolie, die beschlagen war. Ingas Mutter hatte sie mitgebracht. Mit ihrem Vater wollte Inga nichts zu tun haben, weil der ein Nazi gewesen war, nur die Mutter durfte sie besuchen. Das lange Fabrikwaschbecken mit fünf Wasserhähnen war voll mit ungespültem, vereistem Geschirr. Von der Küche ging es ohne Tür ins Bad, in dem eine dreibeinige Badewanne stand, voll mit altem Badewasser. Ich steckte meinen Finger in das kalte Wasser und sagte ›Peter‹. Er hatte als letzter gebadet, bevor alle zu ihren Familien gefahren waren. Auf dem Badewannenrand lag noch ein aufgeschlagenes Buch: Karl Marx, Das Kapital. Auch das Buch war hart gefroren, so wie die Handtücher, die dort an den Haken hingen. Am Dachfenster [5|6]draußen sah ich Eiszapfen. Man konnte sich nicht auf die Klobrille setzen, die Kälte würde einem die Haut aufreißen. Auf dem Toilettenboden lagen viele Zeitungen der letzten Wochen und Monate. Auch die Schlagzeilen sahen aus wie gefroren:
NACH FRANCOS TOD WIRD JUAN CARLOS I.
KÖNIG VON SPANIEN
ANGOLA WEITER IM BÜRGERKRIEG
VIETNAM STEHT VOR DER WIEDERVEREINIGUNG
GEWALTSAMER TOD DES REGISSEURS PASOLINI
DREIZEHN JAHRE HAFT FÜR KANZLERSPION GUILLAUME
KISSINGER ZU GAST IN FÜRTH« (S 12–14)
Spätestens jetzt sind die Leser zeitlich, räumlich und örtlich orientiert, wie die Psychiater sagen. Die soeben zitierten, vergleichsweise wenigen Zeilen sind genauer und plastischer als manches dicke Buch über jene...