[4|5] Norbert Otto Eke
Grabbe und die Moral
Moral und Herzenskälte
»Arboga! Niegerührter! rühret dies / Dich nicht?«1 – Die Frage des schwedischen Königs Olaf an einen der ›Großen‹ seines Reichs bleibt unbeantwortet, dabei ist sie in eine Situation hinein gesprochen, die allen Anlass bietet für ein zumindest sympathetisches Mitleiden: In den Armen seines Vaters stirbt vor den Augen des Hofs der Reichskanzler Friedrich von Gothland, niedergestreckt vom eigenen Bruder Theodor im Wahn, Friedrich habe sich aus Habgier des Brudermords schuldig gemacht. Der Appell König Olafs an das Vermögen zur Rührung und damit an das Herz als den Sitz moralischer Empfindungen verfängt nicht bei einem Mann, dessen Seele »dumpf« und dessen Gewissen »an Blut / Gewöhnt«2 ist. Arboga bleibt stumm vor dem Anflug der Gefühle.
Mit dem Grafen Arboga hat Grabbe dem ›rasenden‹ Titelhelden seines pseudohistorischen Trauerspiels »Herzog Theodor von Gothland« den Repräsentanten eines bis zur Erfahrungslosigkeit ausgekälteten Bewusstseins an die Seite gestellt, das sich mit Gott (»GOTHLAND (…) Fürst! glaubt Ihr an Unsterblichkeit? / ARBOGA Um so etwas bekümmre ich mich nicht.«3) auch der Moral als eines Regulativs sozialer Praxis entledigt hat. Während Theodor von Gothland auf seinem Weg vom Objekt einer hasserfüllten Rachehandlung zum Subjekt seines eigenen Rachehandelns den ihn hemmenden Gewissensbezug nie ganz loszuwerden vermag und sich darum eine von der Last des Denkens freie Existenz als Ideal herbeiträumt (»O wäre ich ein Vieh!«4), zeigt Arboga sich gleichgültig, ›unbekümmert‹, gegenüber dem normativen Charakter einer Moral, die als »Summe der intersubjektiv geteilten handlungsbezogenen Werte und Normen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens«5 das Handeln sowohl auf der sozialen Ebene (sozialer Mechanismus) wie auf der individuellen Ebene (in der Form von Charakterzügen oder Tugenden) anleiten zu wollen den Anspruch erhebt.6 Ohne zu zögern, liquidiert er so auf einen Befehl Gothlands hin 5000 schwedische Kriegsgefangene und steht auch nicht an, dessen Absicht, das komplette finnische Heer im Schlaf abzuschlachten, umgehend in die Tat umzusetzen. Seine Antwort auf Gothlands Frage »Wollt Ihrs tun?« ist ebenso lapidar wie konsequent: »Warum nicht?«7 Folgerichtig hat Grabbe [5|6]dem gewissenlosen Schlächter, den Gothland sich auf dem Weg in die Finsternisse der eigenen Seele hinein zum Vorbild nimmt (»Er scheint mir das zu sein, / Was ich noch werden muß!«8), auch die Rechtfertigung einer Herrschgewalt in den Mund gelegt, die sich durch kein moralisches Wertsystem Fesseln anlegen lässt:
GOTHLAND (…)
Arboga, könnt Ihr mir
Die Rechte nennen, die ein König hat?
ARBOGA Ein König hat gar große Rechte, als
Das Recht der Willkür, die Befugnis zur
Gewalt, das Recht des Völkermordes –
GOTHLAND Hat er
Das letztere?
ARBOGA ohne Ironie Zum wenigsten ists von
Den Kön’gen ausgeübt, so lange als
Es Kön’ge gibt.
GOTHLAND Nur eins sag an:
Ist Völkermord ein Königsrecht?
ARBOGA Ich glaube es.
GOTHLAND Gottlob, Wir sind ein König!9
Arboga, für den selbst der eigene Tod ohne Bedeutung ist (sein letztes im Drama gesprochenes Wort angesichts der ihm vom König gewährten Gnade einer Hinrichtung durch das Schwert und nicht durch das Rad lautet bloß: »Meintwegen!«10), ist als Advokat eines maßlosen Souveränitätsanspruchs eine Reminiszenz an die amoralischen Größenfiguren des frühaufklärerischen heroischen Trauerspiels, das sich mit der Entfaltung tragisch modellierter Konflikte zwischen Politik und Moral gegen die im politischen Denken seit dem 16. Jahrhundert (Niccolò Machiavelli: »Il Principe«, um 1513) staatstheoretisch begründete Herauslösung des politischen Handelns aus seiner ethischen Lagerung und seiner Ausrichtung an der Staatsräson positionierte.11 Die Exzesse der Herrschaft angesichts der von Arboga »ohne Ironie« geltend gemachten Superiorität der Legalität gegenüber der Moralität (als qualifizierter Praxis) vor Augen, verschaffte es am Beginn des Jahrhunderts der Aufklärung nicht nur der Vorstellung einer moralischen Regulierung gesellschaftlicher Praxis Ausdruck, sondern zugleich auch den Grundsätzen einer gewissensregulierten Ethik des politischen Handelns.12 Ablesbar wird an ihm damit, dass die von Kant in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785) und der »Kritik der praktischen Vernunft« (1788) mit dem ›Kategorischen Imperativ‹ dann auf den Begriff gebrachte Ordnungsfunktion der Moral als Grundlage gemeinsamer Wertvorstellungen durchaus [6|7]nicht Halt machte vor den Institutionen allgemein geltenden Rechts und auch den vom Souverän monopolistisch verwalteten Institutionen des absolutistischen Staates (Polizei, Gesetzgebung, Militär). Hier haben Figuren wie der »Menschenwürger«13 Timophanes aus Georg Behrmanns Trauerspiel »Timoleon der Bürgerfreund« (1741) oder der von »Ruhmbegier«14 als einem Ehrgeiz ohne Moral angetriebene »Barbar«15 Ulfo aus Johann Elias Schlegels »Canut« (1746) ihren Platz: als Vertreter einer vormodernen, von überholten Wertbegriffen (Ehre, Mut, Kampfbereitschaft, Egoismus) regierten Zeit. Als Anachronismus werden beide, nachdem alle Versuche, sie durch Zuspruch für das Verachtete (Humanität, Gemeinschaftlichkeit, Rücksicht) ›sozial‹ zu machen, gescheitert sind, aus der moralisch regulierten Gemeinschaft ausgeschieden – was jeweils nicht ohne Verluste bei denjenigen abgeht, die sich auf die Seite der Moral stellen: Der titelgebende ›Bürgerfreund‹ Timoleon steht am Ende so als ›verdienstvoller‹ Brudermörder mit blutigen Händen in der von ihm durch Ausschluss des ›Bösen‹, ›Unzuträglichen‹ und ›Widersinnigen‹ befriedeten Bürgerschaft, aus der er sich zuletzt konsequenterweise selbst ausschließt; der König Canut wiederum tritt als »Held voll Gütigkeit«16 an, muss sich zuletzt aber der politischen Einsicht beugen, »Wer nicht will menschlich seyn, sey auch nicht werth zu leben«17, was ihn allerdings dann auch zu einem »wahrhaft guten, nämlich verantwortungsbewußten König« werden lässt, der »Herz und Verstand gleichermaßen«18 einzusetzen gelernt hat. In beiden Fällen ist die Gewissensregulierung der Herrschgewalt der cordon sanitaire, den die aufgeklärte Gesellschaft gegenüber dem Rückfall ins Barbarische errichtet, der mit dem Anspruch auf absolutes Herrschertum droht, wie Ulfo und Timophanes es begehren und Arboga es legitimiert. Damit erteilen beide Stücke zugleich auch einer ›kalten‹ Staatskunst eine Absage, wie Schlegel selbst sie 1736 in seinem Trauerspiel »Die Trojanerinnen« in der Figur des Ulyß personifiziert hatte, einem seelenlosen Agenten amoralischer force majeure, der nicht etwa wie Canuts der »Menschheit ganz entrissen(er)«19 Gegenspieler Ulfo mit irrlichternder Leidenschaftlichkeit agiert, sondern vielmehr mit souveräner Herzenskälte – ohne Gewissen.
Reflektiert das heroische Trauerspiel der Frühaufklärung so die Einsenkung des »Princip(s) der Moral«20 in das politische Handeln, führt Grabbes Werk wieder die anhaltende Trennung beider Bereiche vor Augen und verabschiedet damit den Glauben an einen als Moralisierung verstandenen Fortschritt, der im 18. Jahrhundert noch den Aufstieg des Bürgertums befeuert hatte.
[7|8] Politik und Moral
Hegel fordert in seinen »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte« dazu auf, ›Größe‹ und ›Moralität‹ zusammenzudenken, wenn er von den ›großen‹ Menschen sagt, sie seien ›groß‹, »eben weil sie ein Großes, und zwar nicht ein Eingebildetes, Vermeintes, sondern ein Richtiges und Notwendiges gewollt und vollbracht«21 hätten. Das nämlich schränkt die Zwecksetzung politischen Handelns gerade im Hinblick auf seine Ansicht, wonach ein »welthistorisches Individuum (…) ganz rücksichtslos dem einen Zwecke« angehöre,22 notwendigerweise vonseiten der Moral ein (»Richtiges und Notwendiges«). Grabbes Figuren sind weitgehend immun gegenüber einer derartigen Einschränkung ihrer Souveränität durch das »Princip der Moral«23, wobei ihnen im Unterschied zu den ›Heroen‹ des frühaufklärerischen Trauerspiels durchaus keine Gefahr von einer moralischen Gegenkraft droht – eine solche gewinnt erst in der Vision des sterbenden Augustus vom Aufstieg des Christentums am Ende von Grabbes letztem Stück »Die Hermannsschlacht« ansatzweise Gestalt –, sondern vonseiten der Mediokrität einer in Partialinteressen zerfallenen Welt. Nicht nur Heinrich dem Löwen hat Grabbe am Ende von »Kaiser Friedrich Barbarossa« so die düstere Zukunftsvision in den Mund gelegt, »Mein Reich wird Raub der kleinen Hunde!«24; Napoleon (»Napoleon oder die hundert Tage«)...