Vorwort
Die Methode des Philosophierens ist es, sich wahnsinnig zu machen, und den Wahnsinn wieder zu heilen.
Ludwig Wittgenstein
Durch die sichere Aussicht auf den Tod könnte jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn beigemischt sein – und nun habt ihr wunderlichen Apotheker-Seelen aus ihm einen übelschmeckenden Gifttropfen gemacht, durch den das ganze Leben widerlich wird!
Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches
Die Heils- und Heilungs-Versprechen von Theorien
Selig sind für ambitionierte Denker die gar nicht so fernen Zeiten, in denen Groß-Theorien noch allgemeines Heil versprachen. Heute versprechen die meisten humanwissenschaftlichen Theorien allenfalls noch Heilung von spezifischen Krankheiten und Leiden. Gänzlich neu ist die Umstellung von Heils- auf Heilungserwartungen jedoch nicht. Die Geschichte der apothekarischen Abkühlung aufgeheizter und fieberhafter Großkonzepte beginnt im sogenannten christlichen Abendland bemerkenswert früh. Sie hat nämlich fast gleichzeitig mit der Geschichte megalomaner Heils-Konzepte statt. Nur hatte und hat die Geschichte der Heilungsversuche eine viel schlechtere Presse als die der Heils-Anstrengungen. »Was ist Wahrheit?« So lautet die abgeklärte und kurze Frage, die ein hoher römischer Jurist einem Angeklagten stellt, der über eine exquisite Theorie der Wahrheit verfügt. Hat er doch von sich selbst in Worten gesprochen, wie sie selbstbewußter kaum sein könnten: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« (Johannes-Evangelium 14,6) Und diese Worte paraphrasiert er nun unter juristisch verschärften Umständen erneut – es geht um sein Leben: »Jch bin dazu geboren und in die Welt komen / das ich die Warheit zeugen sol. Wer aus der warheit ist / der höret meine stimme.« (Johannes-Evangelium 18,37 in Luthers Übersetzung von 1545) Jesus Christus steht – bald zwei Jahrtausende ist das nun her – vor Pontius Pilatus. Der Angeklagte ist nach Ansicht einer Minderheit unter seinen Zeitgenossen, aus der in einigen Weltgegenden später eine herrschende Majorität wird, ein absolut privilegiertes Wahrheitsmedium, der Richter ein römischer Spitzenjurist. Seine Frage, was denn Wahrheit sei, hat Luther mit einer so knappen wie rätselhaften Randbemerkung versehen: »(Was ist warheit) Jronia est. Wiltu von warheit reden / so bistu verloren.«
Ironisch gemeint ist die Frage des Pontius Pilatus sicherlich. Ironie, so die Minimaldefinition, hat statt, wenn jemand etwas anderes meint, als er sagt. Das ist, wenn man wie Pilatus eine Frage stellt (und auch sonst!), gar nicht so leicht. Luthers Kommentar ist dennoch schnell nachzuvollziehen. Denn er bezieht sich ja nicht auf irgend jemanden, sondern auf den privilegierten Sprechenden, in dem sich Wahrheit nicht nur ausspricht, sondern inkarniert. Das Wort ward Fleisch – wenn man, und eben dies ist die Crux dieser Wahrheitstheorie, den Worten Christi bzw. den Worten derer, die von den Worten Christi Zeugnis ablegen, und später den Worten der Kirchenmänner Glauben schenken will. Worte, die etwas über das Verhältnis von Worten und Sachverhalten aussagen, haben noch dann das letzte Wort, wenn sie behaupten, daß es eine Wahrheit vor und hinter den Worten gibt. Und eben deshalb kann Luther (weiß Gott kein Mann mit einem gebrochenen Verhältnis zur Kraft des Wortes) formulieren, daß verloren ist, wer von der Wahrheit reden will, die doch nur als die Inkarnationswahrheit zu haben ist, die uns überwältigt und verstummen läßt.
Nur als Inkarnation? Pontius Pilatus hält dagegen. Dem Kenner des römischen Rechtes ist die Einsicht geläufig, daß es die Wahrheit sowenig wie die Gerechtigkeit gibt, wohl aber viele divergierende Wahrheits- und Rechtsansprüche. Ihm erscheint als belächelnswertes Religions- bzw. Theorie-Gezänk, was doch den Stoff zu einem welthistorischen Ereignis mit unabsehbaren Folgen liefert. Der Streitwert scheint dem abgeklärten römischen Juristen Pilatus zu gering: es liegt kein Eigentumsdelikt und schon gar kein Kapitalverbrechen vor, allenfalls hat da jemand die politreligiösen Gefühle anderer verletzt. Und so besinnt er sich der tolerant-liberalen Maxime des römischen Rechts, die da lautet: in dubio pro reo. Nicht auszudenken, welche Wendung die Weltgeschichte genommen hätte, wenn Pontius Pilatus den Vertreter einer tatsächlich ungewöhnlichen Wahrheitstheorie wirklich hätte laufenlassen. »Quid est veritas?« Eine alte witzige Tradition hat aus dem Buchstabenbestand dieser Pilatus-Frage eine anagrammatische Antwort geformt: »est qui adest« / der Mann, der vor dir steht. Das Anagramm spielt in der programmatischen Konkurrenz von Theorien um den angemessenen Zugang zur Wahrheit allenfalls eine exzentrische Rolle. Die Theorie, nach der die »wahre« Antwort auf eine Wahrheitsfrage im mutierbaren Buchstabenbestand einer Frage, eines Satzes, einer Wortfolge, eines Namens, eines Verses zu finden sei, ist zu irrwitzig, um wirklich ernst genommen zu werden (was nicht ausschließt, daß ein strenger Wissenschaftler wie der Vater der strukturalen Linguistik, Ferdinand de Saussure, sie propagiert hat). Und sie ist zu witzig, um gänzlich ignoriert werden zu dürfen. Kommt sie doch dem tiefen Witz von Kindern nahe, die einander fragen: »Kannst du die Wahrheit sagen?«, und den, der die Frage mit »ja« beantwortet, dann auffordern, eben dies zu tun. Selbstredend wäre »die Wahrheit« die richtige Antwort: »Kannst du ›die Wahrheit‹ sagen?«
Theorien sind dazu da, die Wahrheit zu sagen. Das ist kein einfaches Geschäft. Denn »Wahrheit« ist nicht nur im Deutschen ein Wort, das sich nur widerstrebend in den Plural setzen läßt. Wir sind enttäuscht, wenn wir mit vielen Wahrheiten konfrontiert werden, statt der einen Wahrheit und nichts anderem als der lauteren Wahrheit zu begegnen. So wie die DDR-Bürgerrechtler enttäuscht waren, die nach Gerechtigkeit verlangten und im vereinigten Deutschland auf viele Rechtsbestimmungen und auf Recht als Verfahren stießen. Die Wahrheit will eine und nur eine sein. Theorien gibt es hingegen im Plural. Das macht ihren Vertretern enorm zu schaffen. Eines der beliebtesten Spiele von Theoretikern ist es nicht von ungefähr, andere Theorien zu bekämpfen, als Irrlehren auszuweisen und zu diskreditieren. Nicht erst seit den Romanen Der Name der Rose von Umberto Eco und Der Campus von Dietrich Schwanitz kann man wissen, daß auch anspruchsvolle Theoretiker dazu neigen, konkurrierende Theorien und durchaus auch ihre leibhaftigen Repräsentanten zu verfolgen. Aus dem Ruf »Auf den Scheiterhaufen mit dem Häretiker!« ist der mildere Impuls geworden: »Der bzw. die VertreterIn dieser oder jener Irrlehre darf an unserer Fakultät keinen Lehrstuhl bekommen«.1
Theoretiker neigen dazu, Theorien allzu ernst zu nehmen. Auch Theoretiker kennen den Willen zur Macht oder, um die mildere Variante der Nietzsche-Formel zu bemühen, den Willen zur »kulturellen Hegemonie« (Gramsci). Deshalb kann aus Geschichten über etwas so Abstraktes und Abgehobenes wie z. B. den mittelalterlichen Theorie-Kampf zwischen Begriffsrealisten und Nominalisten der Stoff werden, aus dem Ecos Bestseller gewebt ist. Wo Tinte fließt, kann auch Blut fließen – nicht nur im Mittelalter. Einer »revisionistischen« oder »trotzkistischen« Theoriefraktion zuzugehören konnte einem Zeitgenossen Stalins schnell das Leben kosten. Daß Theorien auch dann, wenn es nicht unmittelbar um Leben oder Tod geht, so harmlos nicht sind, spüren weltweit zur Zeit viele arbeitslose und verarmte Bewohner von Weltecken, deren Wirtschaft nach dem Bilde des sogenannten Monetarismus eingerichtet wird. Ob es ihnen langfristig besser ginge, wenn sie in Ökonomien nach sozialistischem oder keynesianischem Theorie-Design eingelassen wären, ist der Stoff, aus dem die Theorie-Debatten sind – bzw. waren. Denn dies ist auffällig und war einer der Anlässe, das vorliegende Buch zu schreiben: humanwissenschaftliche Theorien insgesamt haben in unseren Breiten erheblich an Wert verloren.
Die Erregung, mit der 1968 über Fragen wie die diskutiert wurde, ob die Theorien von Marx und Freud an der Universität institutionell vertreten werden sollten, ist gut drei Jahrzehnte später kaum mehr nachvollziehbar. Die daran anschließende Diskussion, ob rationalitätskritische, von ihren Gegnern »irrationalistisch« genannte Theorien wie der sogenannte Poststrukturalismus universitätswürdig seien, war nicht minder erregt, aber schon auf universitäre Zirkel begrenzt. Und heutige humanwissenschaftliche Theorie-Debatten sind Insider-Debatten ohne größeren allgemeinen Erregungswert. Schlechte Werbe-Sätze für das vorliegende Buch! Absehbar ist jedoch das Comeback humanwissenschaftlicher Theorie-Debatten. Denn wer theoretisch einigermaßen geschult ist, sieht in der neuen und neusten Unübersichtlichkeit nach »9/11« mehr – zumindest dies: daß man verworrene Verhältnisse unterschiedlich beobachten und militant different bewerten kann.
Die Gründe für das Fallen der Erregungskurve bei der Diskussion von humanwissenschaftlichen Theorien sind (wie sollte es anders sein?) vielfältig. Drei aber ragen unter ihnen heraus. Erstens hat die Universität und somit die alte und ehrwürdige Stätte der Theorieproduktion ihre impulsgebende Funktion weitgehend verloren – vor allem an »die Medien« (siehe den Artikel ? Medientheorien). In den Zeiten hochschwappender Theorie-Diskussionen um 1970 gab es noch keine privaten Hörfunk- und TV-Kanäle, keine PCs, keine E-Mail, kein Internet. Die Universität hatte so etwas wie ein Monopol-Recht auf Theorie-Produktion, gegen das (wie...