Im Folgenden sollen Bedeutung und Wirkung von Arbeit bei Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung veranschaulicht werden, indem beginnend der Arbeitsbegriff im historischen Kontext beleuchtet sowie die Unterscheidung zwischen Arbeit und Beschäftigung näher dargestellt wird. Anschließend folgen Ausführungen über den Bedeutungswert sowie Funktionsprinzipien von Arbeit bei Menschen mit Behinderungen. Im dritten Teil dieses Kapitels folgt eine Ausarbeitung über die Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung.
Im mittelhochdeutschen Sprachgebrauch bedeutet das Wort „Arbeit“ soviel wie Lebensmühe, Not oder auch Plage und wird dabei stets in engem Zusammenhang mit schwerer körperlicher Arbeit gesehen (STALF 1997, S. 7). Der Bedeutungswert von Arbeit unterliegt im Laufe der menschlichen Geschichte einem ständigen Wandel, der in Form eines kurzen Exkurses dargestellt werden soll:
In der Antike wird die körperliche Arbeit den unfreien Sklaven überlassen, wohingegen sich der freie Bürger dem Müßiggang oder auch selbst erwählten Tätigkeiten in Gebieten wie Kunst, Politik oder Wissenschaft hingeben kann. Im alten Testament gilt Arbeit als notwendiges und mühevolles Los eines jeden Menschen und wird als Lebenspflicht und Dienst an der Schöpfung sowie Dienst am Mitmenschen gesehen. Arbeit steht im Auftrag von Gott und macht es dem Menschen möglich, Anteil an der Schöpfung zu haben. Trotz dieser durch sittliche Lebensführung begründeten Notwendigkeit von Arbeit, überlassen die Feudalschichten während des gesamten Mittelalters bis in die Neuzeit hinein die Arbeit lieber den abhängigen Bevölkerungsschichten wie leibeigenen Bauern und Knechten. Mit dem Fortschreiten der Industrialisierung gewinnt Arbeit schließlich auch in bürgerlichen Kreisen entsprechendes Ansehen, da diese der eigenen Existenzsicherung dient. Arbeit wird somit zur Erwerbsarbeit und zu einer der herausragendsten Bürgertugenden idealisiert. Schließlich fordert die „Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen“ von 1949 Arbeit als ein Grundrecht des Menschen ein, da diese finanzieller und sozialer Sicherheit diene.
Zweifelsohne nimmt Arbeit auch einen hohen Stellenwert in der Identitätsbildung des Menschen ein, da sich jeder Mensch mit seiner Tätigkeit identifiziert und Arbeit die Persönlichkeitsentwicklung sowie Selbstverwirklichung anregt (STALF 1997, S.7 ff./ GOLZ 1997, S.28 ff.).
Als ein zentrales Leitziel der Behindertenpädagogik in Bezug auf Arbeit gilt die „Selbstverwirklichung durch sinnhaftes Tätigsein mit anderen“ (GRAMPP 2000, S. 325). Dabei ist für den Menschen mit Behinderung die Arbeit mehr als eine ökonomisch verwertbare Leistung.
Das Erleben und Ausüben einer angemessenen Berufsarbeit gehört zum Grundbedürfnis des Menschen. Sie ermöglicht ihm auch bei einer geistigen Behinderung in aller Regel ein sinnvolles Entfalten seiner Aktivität, das Erleben von Leistung und Nützlichsein und damit eine Stärkung seines Selbst- und Lebensgefühls und schließlich das Mittun als Teilhaben an einem größeren Lebensbereich, dem man sich zugehörig fühlen darf“ (SPECK 1990, S. 323).
GRAMPP weißt darauf hin, dass die Verwendung des Begriffs „Tätigkeit“ statt „Arbeit“ ein Indiz für ein verändertes Verständnis für das ist, was Menschen mit Behinderung zur eigenen Selbstverwirklichung tun können und sollen. Dabei betont er, dass „Tätigkeit“ viel umfassender als „Arbeit“ sowie eine Garantie für Lebenserfüllung, Glück und Wohlsein sei. „Sinnhaftes Tätigsein“ ermögliche die Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung und führe zu einer Erhöhung von Autonomie und Verantwortlichkeit des Menschen mit Behinderung (GRAMPP 2000, S. 325).
Auch AERNOUT nimmt eine Unterscheidung vor und nennt die beiden Begriffe „Arbeit“ und „Beschäftigung“. Dabei beschreibt er Arbeit als die Befähigung des Einzelnen, imstande zu sein, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen und somit seine Stellung als Mensch zu verbessern. Beschäftigung sei hingegeben zwar zweckgerichtet –wie auch die Arbeit-, sie diene jedoch in erster Linie dem Beschäftigten selbst und nicht der Gesellschaft. Bei der Beschäftigung kann dem menschlichen Drang nach Kreativität nachgegangen und ein Gefühl von Freiheit und Entspannung vermittelt werden (AERNOUT 1992, S. 20 ff.).
In der vorliegenden Arbeit wird der Einfachheit halber der Begriff „Tätigkeit“ oder „Beschäftigung“ synonym für den Begriff „Arbeit“ verwendet.
Die Bedeutung von Arbeit für den Menschen wird von verschiedenen theoretischen Positionen ähnlich groß eingeschätzt. Für Freud stellt Arbeit die stärkste Bindung des Menschen an die Realität dar und sie gewährleistet, dass der Einzelne sich „ ... in die menschliche Gemeinschaft sicher einfügt“ (FREUD 1948, S. 438).
Bei dem Versuch, die Bedeutung von Arbeit zu erklären, beschreibt JAHODA fünf Strukturmerkmale von Arbeit. Demnach hat organisierte Arbeit eine Zeitstruktur, der sich der Beschäftigte nicht entziehen kann und die sein Zeiterleben strukturiert. Arbeit erweitert den sozialen Horizont des Arbeitenden und lässt ihn seine soziale Existenz erleben, da am Arbeitsplatz viele Kontakte geknüpft werden können. Außerdem bestimmt Arbeit den gesellschaftlichen Status sowie die Identität eines Menschen und zwingt ihn zur Aktivität. Arbeit verschafft „ ... ein Gefühl von persönlichem Erfolg und persönlicher Sicherheit durch die gelungene Bewältigung von äußeren Anforderungen und die Erfüllung der Erwartungen anderer“ (JAHODA 1985 in: SONNENTAG 1991, S. 15 ff.).
Dass Arbeit im Leben eines geistig und seelisch behinderten Menschen zur Akzeptanz und Anerkennung führt und dazu beiträgt, Normalität zu vermitteln, bestätigt auch SEIFERT. Er betont, dass Arbeit bei behinderten Menschen eine ähnliche Funktion hat wie bei allen anderen Menschen und erwähnt in diesem Zusammenhang vor allem die wirtschaftliche Unabhängigkeit, die Herstellung eines befriedigenden sozialen Status´, die Ausweitung von sozialen Kontaktmöglichkeiten, eine emotionale Ausgeglichenheit sowie Zufriedenheit durch eine den persönlichen Neigungen entsprechende Tätigkeit (SEIFERT 1977, S. 674 in: SONNENTAG 1991, S.16). Auch SONNENTAG stimmt zu, dass Arbeit wesentlich dazu beitragen kann, dass Menschen mit einer Behinderung ein Leben führen können, welches so normal wie möglich verläuft (SONNENTAG 1991, S.16).
AERNOUT betont bei seinen Ausführungen, dass Arbeit als wichtige Entfaltungsmöglichkeit für einen Menschen gelte.
„Arbeit bringt dem Menschen einen täglichen Lebensrhythmus; die Faktoren Ordnung, Regelmäßigkeit und Disziplin können ein Gleichgewicht in die körperliche und seelische Gesundheit bringen. [...] Arbeit gibt die Möglichkeit, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln. Arbeit gibt ein Gefühl der Befriedigung, sei es durch motorische Bewegung, sei es durch das erzielte Ergebnis, oder durch beides, sie vermittelt ein Leistungsfähigkeits- und Selbstwertgefühl. Auch ein Zugehörigkeitsgefühl, das Gefühl, ein Glied der Gemeinschaft zu sein, sie bietet Gelegenheit zu Kontakten mit Menschen und Dingen“ (AERNOUT 1992, S. 23).
Um den Zusammenhang von Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung bei Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung nachvollziehen zu können, möchte ich an dieser Stelle auf ein von SONNENTAG entwickeltes Modell verweisen.
Modell zum Zusammenhang von Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung(SONNENTAG 1991, S. 67)
Die aufgezeigten Wirkungsmechanismen zwischen Arbeit und Persönlichkeit entsprechen bei geistiger und psychischer Behinderung im Wesentlichen denen der Nichtbehinderten. Eine der Aussagen des Modells ist der Einfluss der Rahmenbedingungen in der Arbeitsgruppe auf die objektiven Arbeitsbedingungen. So kann eine kleine Arbeitsgruppe mit großer Betreuungsdichte zu sozialer Unterstützung durch den Gruppenleiter führen. Je eher der zuständige Gruppenleiter seinen Tätigkeitsschwerpunkt in der Behindertenbetreuung statt der Warenproduktion sieht, desto geringer sind die objektiven Belastungen und umso größer ist die soziale Unterstützung für die Behinderten. Außerdem besteht nach SONNENTAG ein positiver Zusammenhang zwischen objektiven Arbeitsbedingungen und tatsächlich wahrgenommenen Arbeitsbedingungen. Dies bedeutet, dass die Äußerungen des behinderten Beschäftigten über seine Arbeitssituation die tatsächlichen Gegebenheiten am Arbeitsplatz tendenziell wiederspiegeln. Die objektiv gegebenen Arbeitsbedingungen haben jedoch auch Einfluss auf die Entwicklung der Persönlichkeit. So wirken sich hohe Anforderungen – sofern sie für den Mitarbeiter mit geistiger oder seelischer Behinderung zu bewältigen sind – sowie ein hohes Maß an sozialer Unterstützung positiv und eine Vielzahl von belastenden Situationen hingegen negativ auf die Entwicklung...