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Therapie durch Literatur - Formen der Heilung bei Goethe und Schiller

AutorNicole Bischoff
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl82 Seiten
ISBN9783656304913
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich Germanistik - Literaturgeschichte, Epochen, Note: 1,0, Ruhr-Universität Bochum (Germanistisches Institut), Sprache: Deutsch, Abstract: Relationen von Literatur und Medizin sind in den letzten Jahrzehnten intensiv erforscht worden. Thematisch erstrecken sich die Untersuchungen von der antiken Literatur und Medizin über die medizinischen Dialoge in der Renaissance bis zur literarischen Anthropologie im 18. Jahrhundert. Gerade im 18. Jahrhundert spielt die Medizin in der Literatur eine große Rolle: medizinische Beobachtungen werden literarisch festgehalten und Literatur nutzt und beschreibt medizinische Phänomene. Dazu gehören unter anderem Fallgeschichten und -berichte sowie die Ästhetik und Diätetik der philosophischen Ärzte mit der Konzeption des commercium mentis et corporis, dem Zusammenhang von Körper und Geist. Diese Arbeit beschäftigt sich mit literarischen Texte des späten 18. Jahrhunderts, in denen Literatur, beziehungsweise die schönen Künste als Mittel fungieren , um den Menschen im seelischen, moralischen oder auch medizinischen Sinne zu heilen. Homöopathie und Konzepte von Geselligkeit und Ästhetik spielen in diesem Kontext für die Heilungsprozesse der verschiedenen innerhalb der ausgewählten Texte eine wichtige Rolle. Literatur stellt medizinisch-therapeutische Konzepte dar, in denen Kunst und Literatur selbst Heilmittel sind und reflektiert somit die eigenen Möglichkeiten und Probleme. Ich untersuche innerhalb dieses Rahmens ein abgegrenztes Schriftkorpus von Goethe und Schiller unter der Fragestellung, inwieweit Literatur, beziehungsweise schöne Kunst im weiteren Sinne, heilend oder therapeutisch wirken soll und kann. Als Textkorpus dient die theoretische Schrift Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), die mit den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), der Ersten Epistel (1795) sowie dem Festspiel Lila (3. Fassung 1788) von Johann Wolfgang Goethe in Beziehung gesetzt wird.

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Leseprobe

I. Friedrich Schiller


 

Der Fokus der folgenden Untersuchungen liegt auf Friedrich Schillers Zeitschriftenprojekt Die Horen und seiner theoretischen Abhandlung, der ÄE. Es geht mir darum, das Therapiekonzept innerhalb der Horen-Vorrede und der ÄE herauszuarbeiten und zu zeigen, dass Schiller in der schönen Kunst[90] ein Heilmittel für das Subjekt und die Gesellschaft sieht.

 

I.1 Die Horen


 


Das folgende Kapitel gibt einen kurzen Einblick in Friedrich Schillers Zeitschriftenprojekt, das er in den Jahren 1795-1797 bei Cotta in Tübingen herausgegeben hat. Die Zeitschrift kann als Reaktion auf die Französische Revolution und vor allem als Versuch der Verarbeitung ihrer Ereignisse verstanden werden. Aus dem revolutionären Geschehen entwickelt sich ihr ästhetisches Programm.[91] Schiller und Goethe versuchen in den 1790er Jahren die Ereignisse der Revolution innerhalb ihrer Dichtungen zu verarbeiten und den Auflösungstendenzen der Zeit eine literarische Ordnung entgegenzusetzen.[92] Ausgelotet wird diese Krise von Individuum und Gesellschaft innerhalb von  literarischen Texten, die Möglichkeiten menschlichen Seins durchspielen.[93]

 

Literatur kann und muß vor allem Zugänge zum Funktionieren des Menschen erproben, analysieren und vermitteln.[94]

 

In der ab Januar 1795 monatlich erscheinenden Zeitschrift Die Horen  widmet sich eine Sozietät von gelehrten Schriftstellern einer „heitern und leidenschaftsfreyen Unterhaltung“[95], die sich nicht mit Krieg und Politik beschäftigt. Schiller skizziert in einer Vorrede ohne Titel die Programmatik der Horen, deren Ziel es sein soll, über die Politik zu schweigen und die Gemüter der Menschen durch die Beschäftigung mit dem rein Menschlichen in Freiheit zu setzen.

 

Aber indem sie sich alle Beziehungen auf den jetzigen Weltlauf und auf die nächsten Erwartungen der Menschheit verbietet, wird sie über die vergangene Welt die Geschichte, und über die kommende die Philosophie befragen, wird sie zu dem Ideale veredelter Menschheit, welches durch die Vernunft aufgegeben, in der Erfahrung aber so leicht aus den Augen gerückt wird, einzelne Züge sammeln, und an dem stillen Bau besserer Sitten, von dem zuletzt alle wahre Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes abhängt, nach Vermögen geschäftig seyn.[96]

 

Schiller setzt der Zeitschrift, ihren Autoren und vor allem den publizierten Schriften die Aufgabe, die Menschheit zu verbessern und die Humanität zu fördern. Literatur erhält den Auftrag, auf den Menschen zu wirken und ihn von den politischen Spannungen, ausgelöst vor allem durch die Französische Revolution, zu befreien. Die politisch geteilte Welt soll unter der „Fahne der Wahrheit und Schönheit“ [97] vereinigt werden. Als Autoren nennt er in der Vorrede unter anderem Professor Johann Gottlieb Fichte, Christian Garve, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Friedrich Heinrich Jacobi, August Wilhelm Schlegel und Johann Wolfgang Goethe. Die gewünschte Qualität, besonders auf inhaltlicher Ebene, konnte jedoch bereits im zweiten Jahrgang 1796 nicht mehr gehalten werden.[98] Ende 1797 stellt Schiller sein Zeitschriftenprojekt auch aus Quantitätsgründen ein.

 

I.2   Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795)

 

Grundlage der ÄE sind die sogenannten Augustenburger Briefe, die Schiller seinem Mäzen, dem Herzog von Augustenburg, 1793 als Dank für ein dreijähriges Stipendium zukommen ließ.[99] Nachdem diese durch ein Feuer zerstört worden waren, erweitert Schiller seine Gedanken über das Schöne um zeitpolitische und anthropologische Aspekte. Die ÄE erscheint 1795 anonym in mehreren Teilen im Januar-, Februar- und Juniheft der Zeitschrift Die Horen. 1801 werden sie dann als Fragment leicht verändert in die Kleinen Prosaischen Schriften eingerückt.[100] Vorwiegende Triebkraft für den anthropologischen Schwerpunkt ist Schillers Angst vor der Degeneration des Menschen, die durch die Französische Revolution offenbar geworden ist. Für ihn scheitert die Revolution bereits 1789, da die anthropologischen Voraussetzungen nicht gegeben sind: In den revolutionären Ereignissen zeigen sich die dunkelsten Triebe des Menschen. Bevor politisch etwas verändert werden kann, muss zunächst der Mensch zu einem Ganzen erzogen werden. [101] Die Revolutionserfahrungen sind Hauptauslöser für Schillers Ästhetik der 1790er Jahre, die Philosophen, Künstlern und Intellektuellen die Aufgabe gibt, die von den Politikern nicht wahrgenommen werden konnte.[102] Die schöne Kunst hat für ihn die Aufgabe, Verwilderung und Erschlaffung, Triebhaftigkeit und Vernunftgewalt, unter denen der Mensch leidet, aufzuheben und eine Harmonie zwischen den antagonistischen Kräften herzustellen. Schiller untersucht in anthropologischer Hinsicht die Bedingungen für das Menschsein, die seiner Meinung nach durch die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte nicht mehr gegeben seien. Um den Menschen wieder zu sich zurückzuführen, konzipiert er die ästhetische Erziehung durch Schönheit und Kunst, die als Sinnkontinuität für den Menschen fungieren soll.[103] Im Vordergrund steht somit Schillers negative Gegenwartsanalyse, wie er sie vor allem in den ersten neun Briefen formuliert, sowie sein Lösungsansatz aus der Krise. Die Erziehung durch schöne Kunst mutet wie eine Therapie an, die im Gegensatz zu Goethes Konzept, Gleiches mit Gleichem zu heilen, ein gegenteiliges Element zum Ausgleich des Menschen nutzt. Wie Schiller die Heilung des Menschen konzipiert, wird im Folgenden zu sehen sein.

 

a) Das Gesellschaftsbild in den Briefen

 

Vor allem in den ersten neun Briefen seiner ÄE skizziert Schiller ein Bild seiner Gegenwart, das in erster Linie zur Legitimation seines Erziehungsvorhabens dient und daher im Großen und Ganzen sehr negativ gehalten ist. Um Schillers Argumentation folgen zu können, sei auf ein anthropologisches Grundmuster in seinem Werk in aller Kürze verwiesen: Seine Zeit in der Karlsschule und die Einflüsse der Philosophischen Ärzte lassen ihn den Menschen als dualistisches Wesen, ganz im cartesianischen Menschenbild des 18. Jahrhunderts verwurzelt, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, zwischen Geist und Materie denken.[104] Aufbauend auf dieser anthropologischen Grundhaltung gestaltet er sowohl die Zeitdiagnose als auch die Konzeption seiner ästhetischen Erziehung durch Kunst.[105] Die eigentliche Argumentation beginnt im zweiten Brief, in dem er seine Ästhetik legitimiert. Die Menschheit ist unter das Joch von Nutzen und Bedürfnis gebeugt und nicht mehr frei. Der Genius der Zeit entfernt sich von der Kunst des Ideals. Um das politische Problem der Zeit, ausgelöst durch die Revolution, zu beheben, muss der Weg durch das Schöne genommen werden, denn nur mithilfe der Schönheit erreicht der Mensch die Freiheit.[106] Den Zeitgeschehnissen „stellt Schiller den Gedanken einer ästhetischen Kultur entgegen, der die Barbarei der Zeit überwinden und ihre Krankheiten heilen soll.“[107] Schiller argumentiert hier zunächst auf politischer Ebene, das Ziel der ästhetischen Erziehung scheint eine Erneuerung des Staates zu sein – daher auch die folgende Argumentation mit Natur- und Vernunftstaat, die er im letzten Brief mit der Konzeption des ästhetischen Staates erneut aufgreift. Der Mensch ist nach Schiller zunächst im Naturstand, beziehungsweise Naturstaat, gefangen und folgt den Gesetzen blinder Notwendigkeit. Doch macht es den Menschen aus, dass er einen inneren Drang zur Freiheit verspürt und durch seine Vernunftbestimmung den Bereich der bloßen Triebhaftigkeit „auf den Flügeln der Einbildungskraft“[108] verlassen kann und will. Er hat den Trieb, den Naturstaat in einen sittlichen Staat umzuformen. Diese Metamorphose muss aber in einem lebendigen Umschwung erfolgen:

 

Wenn der Künstler an einem Uhrwerk zu bessern hat, so läßt er die Räder ablaufen; aber das lebendige Uhrwerk des Staats muß gebessert werden, indem es schlägt, und hier gilt es, das rollende Rad während seines Umschwunges auszutauschen. Man muß also für die Fortdauer der Gesellschaft eine Stütze aufsuchen, die sie von dem Naturstaate, den man auflösen will, unabhängig macht.[109]

 

Die Stütze zur Fortdauer der Gesellschaft findet sich nicht in dem natürlichen Charakter des Menschen, der selbstsüchtig und zerstörerisch ist, und auch nicht in dem sittlichen Charakter, der erst gebildet werden muss. Der reibungslose Übergang vom Naturstaat zum...

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