Settembrini und Naphta sind sich uneins in der Frage, wie Geist und Natur zueinander stehen. Naphta ist der Meinung, dass die Natur völlig frei von Geist sei. Settembrini hingegen vertritt die Meinung, dass die Natur selber Geist sei. Daraufhin wirft Naphta Settembrini Monismus vor und weist auf den dualistischen Charakter des Geistes hin.[32] Vielmehr: „Der Dualismus, die Antithese, das ist das bewegende, das leidenschaftliche, das dialektische, das geistreiche Prinzip. Die Welt feindlich gespalten sehen, das ist Geist.“[33] Settembrini sieht im Geist dagegen den demokratischen Fortschritt, den Anwalt der Freiheit und der Menschenliebe.[34] Helmut Koopmann erläutert in seinem Essay „Zum Begriff der doppelten Optik“, dass Thomas Mann nicht Partei ergreift, sondern in erster Linie darstellt.[35]
Ein Blick auf die Thomas Mannschen Essays macht darüber hinaus deutlich, wie sehr Thomas Mann die Technik der doppelten Optik überhaupt als ein Hilfsmittel des modernen Schriftstellers praktiziert. Doppelte Optik: das bedeutet, dass kein Phänomen mehr einseitig betrachtet werden darf, sondern vielmehr, dass auch die jeweilige Gegenposition in Betracht gezogen werden muss, wo eine echte Erkenntnis geistiger oder geschichtlicher Kräfte und Wirkungen geleistet werden soll.[36]
Diese Dualität ist bei Thomas Mann, so Koopmann, von Friedrich Nietzsche beeinflusst. Alle Begriffe, welche Nietzsche in seinen philosophischen Werken behandelt, seien als relative Werte nicht eindeutig zu interpretieren. Die Begriffe Nietzsches sind nicht eindeutig definiert, weil sie, aus verschiedener Perspektive gesehen, verschiedene Bedeutungen haben. Somit kann ein Begriff nur dann als wahr gelten, wenn er unter der doppelten Optik gesehen wird, wenn er durch einen anderen Begriff relativiert werden kann.[37]
Im Zimmer Naphtas steht eine Pietà welche, unter völlig verfehlten Proportionen, das Leiden Jesu darstellt.[38] In dieser Deformation, ja in der Hässlichkeit dieses Kunstobjektes sieht Naphta das pessimistisch-asketische Ideal, welches es anzustreben gilt.[39] Seiner Meinung nach liegt gerade in der plastischen Dekonstruktion der Schlüssel zur geistigen Jenseitigkeit. Dazu schreibt Børge Kristiansen
Nach Naphta lässt sich die im Pietà-Bild zutage tretende Vernachlässigung der Naturwahrheit aus der Verachtung des spätmittelalterlichen Künstlers gegen die gefallene Natur und seiner Hochachtung von dem Geiste als dem Vollkommenen erklären. Für Naphta ist die Pietà ein Sinnbild des christlichen Natur-Geist-Dualismus.[40]
Thomas Mann hat sich Zeit seines Lebens mit Dualismen beschäftigt. Dabei sind die Antagonismen zwischen dem Künstler und dem Leben, oder aber zwischen dem Intellektuellen und dem Leben verschiedene Ausdrucksformen desselben Problems: wie sind das nach innen gewandte Geistige und das nach außen gewandte Lebende miteinander zu vereinbaren? Welche dieser beiden ist Kräfte stärker, ja welche ist der Auslöser der Anderen? Schon bei Nietzsche werden diese Antagonismen gegenübergestellt und Versuche unternommen, diese Problemstellung zu durchdringen und zu überwinden. Wie man sehen wird, greift Nietzsche dabei zur rhetorischen Gewalt. Der Überwindung der Widersprüche setzt Nietzsche die Zerstörung des Bestehenden voraus.
Nietzsche sieht in Natur und Geist zwei Antagonismen, welche im Widerstreit zueinander stehen. Dabei ist jedoch der Geist der Natur von Grund auf unterlegen, ja der Geist ist nur eine Erscheinung der Dekadenz der Natur. So sieht er in der Verwissenschaftlichung und in der Religiosität den Niedergang von Kulturen, welche den Zenit der natürlichen Stärke und deren ungeistigen Instinkten überschritten haben.[41] In einer Kultur, deren schöpferische Kraft auf dem Höhepunkt angekommen ist, gibt es keine Vergeistigung; vielmehr wird diese, im Angesicht physisch gesunder Lebensbejahung, als absolut geringwertig angesehen. Sogar die naive Brutalität sieht Nietzsche als ein Anzeichen höherer Kultur, da es eben noch keine Rücksicht, Moral oder Fähigkeit zum Mitleiden gibt. Dies wäre wiederum nur die Überhöhung und Kultivierung der Schwäche, also ein Zeichen des Niedergangs. Nietzsche wird zu einem Wegbereiter der Triebpsychologie: das Denken, Empfinden und Handeln wurzelt in den biologisch determinierten Trieben des Menschen. Es gibt weder einen unabhängigen Willen, noch gibt es eine Erkenntnis an sich, da jeder Mensch nur seine eigene subjektive Wahnnehmung haben kann. Letztendlich unterwirft sich der Geist der Kraft; der Instinkt ist die intelligenteste Form ist das Leben zu bejahen.[42] Nietzsche sieht eine mechanische Welt-Erklärung am Werk, berechenbar und an der Praxis ausgerichtet; demgegenüber stellt er die Tatsache, dass es gar keine selbstlosen Handlungen gibt.[43] Selbst die scheinbar selbstloseste Handlung ist für Nietzsche auf das subjektive und individuelle Empfinden und Auslegen zurückzuführen. Alles Tun des Menschen wäre demnach fatalistisch determiniert, also ein unabwendbares Schicksal.
Das Streitgespräch wendet sich dem Thema Arbeit zu, da Herr Settembrini die Arbeit als ein entscheidendes Mittel im Dienste des Fortschritts sieht. Dies nimmt Herr Naphta zum Anlass, den Abt Bernhard von Clairvaux zu zitieren, der eine bestimmte Stufenfolge der Vollkommenheit aufgestellt hatte. Der unterste Stand wird durch die Mühle repräsentiert, das Sinnbild des Lebens. Der zweite Stand befindet sich auf dem Acker und weist auf die Seele des weltlichen Menschen hin, auf die der Prediger und geistige Lehrer wirkt. Jedoch erst auf dem Ruhebett ist die Beiwohnung mit Gott möglich.[44] Diese Rangordnung lehnt Settembrini allerdings zutiefst ab und wirft Naphta vor, dass seine Weltsicht eine Orientale sei welche ein Europäer, ein Okzidentale, nur ablehnen kann.
Der Osten verabscheut die Tätigkeit. Laotse lehrte, dass Nichtstun förderlicher sei als jedes Ding zwischen Himmel und Erde. Wenn alle Menschen aufgehört haben würden, zu tun, werde vollkommene Ruhe und Glückseligkeit auf Erden herrschen. Da haben Sie Ihre Beiwohnung.[45]
Naphta sieht in der Arbeit jedoch keinen Selbstzweck, sie soll weder die Welt fördern, noch geschäftlichem Nutzen dienen. Sie soll, als rein asketische Übung, zum Schutz gegen das Fleisch und zur Abtötung der Sinnlichkeit dienen.[46]
Hans Castorp ist einerseits für die Belehrungen des Herrn Settembrini (Okzident) empfänglich, gleichzeitig zeigt er jedoch eine Schwäche für die emotionale Träumerei, ausgelöst durch die Russin Clawdia Chauchat (Orient), welche in ihrer unbekümmerten Lässigkeit eine Art Ausflucht aus seinem vormals reglementierten Leben darstellt. Im Laufe des Romans wird Castorp immer mehr von der „orientalen Sinnlichkeit“ verführt, was zulasten seiner „okzidentalen Geistigkeit“ geht. Settembrini drängt Castorp, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden, hoffend, dass die Wahl auf den Weg der europäischen Vernunft fällt. Dabei schafft es Castorp unbewusst beide Seiten zu verbinden, dergestalt, dass seine unbefangene Offenheit sich empfänglich für Chauchats Sinnlichkeit und gleichzeitig Settembrinis Humanismus zeigt.
Hans Wysling macht darauf aufmerksam, dass Castorps Reise aus der Ordnung in die Unordnung an einer Vielzahl von Motiven verdeutlicht wird:
Die Fahrt ins Hochland ist gleichzeitig eine Hadesfahrt. Die Motive sind deutlich: Das Schwäbische Meer mit seinen Schlünden wird zum Archeron oder zur Lethe, das Sanatorium mit der Asklepios-Fahne zum Hades. Die Ärzte treten als Rhadamanth und Minos auf, die Patienten sind Schatten – sie betrachten ja auch ihre Schattenbilder und tauschen sie aus. Die Farben Blau, Weiß und Schwarz beherrschen die labyrinthhafte Unterwelt. Es ist Hermes-Land, das Reich des Eros und des Thantos.[47]
Castorps Reise zum Sanatorium sowie seine ersten Eindrücke davon zielen darauf ab, ihn in eine neue Welt eintauchen zu lassen. In dieser Welt ist die nüchtern-rationale Bürgerlichkeit nicht vorhanden; die irrationale Emotionalität, die mythische Orientalistik nimmt Castorp gefangen. Dies ist sozusagen die Bühne für Hans Castorps neue und ungeahnte Erlebnisse.
Für Nietzsche wurzelt die okzidentale Kultur im Hellenismus. Die politische und kulturelle Entfaltung Europas speisen sich aus der Vitalität und Dynamik, welche der Hellenismus einst als lebensbejahende Ziele festsetzte. Durch Sokrates gewann jedoch die Dialektik eine fatale Übergewichtung zu Lasten der natürlichen Instinkte: die Stärke der hellenischen Instinkte waren durch die sokratische Vergeistigung dem Niedergang geweiht. Das moderne Europäertum muss sich somit auf die Stärke seiner ursprünglichen Instinkte besinnen; gegen die Vergeistigung der Philosophie, gegen die schwächende Moral des Christentums. Nietzsche konstatiert einen Niedergang der orientalischen Kulturen, welcher auf Beharrung,...