Wo der Thymian blüht
Kindheit in Palästina
Rings um meinen Heimatort Birseit wachsen Olivenbäume. Sie verbreiten eine Atmosphäre der Gelassenheit und Standhaftigkeit. Sie fordern Geduld und Genügsamkeit und versprechen ein gutes Leben. Früher wurden die reichen Vorräte an Olivenöl in Felszisternen gelagert, daher der Name Birseit – Ölbrunnen. Der Duft von Thymian und Oregano, Pistazien und Ginster, Pfefferminz und Salbei, von Zitrus- und Mandelblüten begleitet uns. Quellen sprudeln aus dem Gestein hervor und spenden kostbares Wasser. Dichter und Dichterinnen, Erzähler und Erzählerinnen haben seit jeher Palästina, diesen Ort der Freude, und ihre Liebe zu Land und Erde besungen. Wer Palästina verlassen hat, träumt von der Heimkehr und sehnt sich nach dem Duft der Sträucher, dem Schatten der Olivenbäume und dem Rauschen der Quellen.
Meine Familie lebt seit Jahrhunderten in Palästina. Früher hatten die semitischen Stämme im Winter diesseits, im Sommer jenseits des Jordans ihr Lager und begnügten sich dankbar mit dem, was der Boden hervorbrachte. Wie unsere Familie von dort nach Birseit gelangt ist, erzählt eine Geschichte, die von Generation zu Generation weitergegeben wird: Als eines Tages im Haus unseres Urahnen Farach ein Mädchen geboren wurde, war die Enttäuschung gross. Unter den Leuten, die sich bei Farach versammelt hatten und ihm Trost spendeten, befand sich auch ein fremder Gast, ein Moslem. Dessen Trostspruch erwiderte Farach mit den Worten: »Das Kind sei dir geschenkt.« Solche Aussprüche waren gebräuchliche Zeichen der Gastfreundschaft und Grosszügigkeit. Als aber das Mädchen sechzehn geworden war, kam jener Gast von damals wieder und forderte sein Geschenk. Der Vater erkannte, dass es dem Mann ernst war, und bereute seinen Ausspruch sehr – denn wie konnte er als Christ seine Tochter einem Moslem verschenken? Er bat um etwas Zeit für die Vorbereitungen, und sie wurde ihm gewährt. Als es Nacht wurde, floh Farach um der Schande zu entgehen – mit seiner ganzen Familie in die Berge und liess sich im Dorf Ain Arîk bei Ramallah nieder. Einer seiner Söhne wanderte später weiter nach Birseit. Von ihm stammen die vier grossen Sippen des Ortes ab. Neben diesen christlichen Familien lebten auch zwei muslimische Sippen in Birseit. Das Zusammenleben all dieser Menschen beruhte auf Respekt und friedlicher Nachbarschaft.
Die Eltern meines Vaters wurden gegen Ende des letzten Jahrhunderts geboren. Sie erlebten türkische, britische und jordanische Besatzung, Kriege und Armut. Die muslimischen Männer mussten an der Seite der Türken in den Ersten Weltkrieg ziehen. Den Christen war der Heeresdienst verboten; sie mussten statt dessen Steuern zahlen.
Tagsüber arbeiteten Männer und Frauen auf dem Felde. Abends versammelten sich die Männer im Diwan, im Haus des Sippen-Ältesten. Sie schlürften Tee, erzählten sich Geschichten und bestimmten über Dorf- und Familienpolitik. Oft war einer der Männer damit beschäftigt, Kaffeebohnen in einem Holzmörser zu zerstampfen. Weithin waren die ungewöhnlichen Rhythmen seiner Schläge zu hören. Das Geräusch verriet allen, wo sich die Männer versammelt hatten, und wirkte auch einladend für Gäste, die ins Dorf kamen.
Für die Frauen aber war der Arbeitstag, wenn sie vom Feld heimkehrten, noch nicht zu Ende. Sie kümmerten sich um den Haushalt und versorgten die versammelten Männer wie auch die eigene Familie mit Speis und Trank.
Meine Grossmutter erzählte häufig Geschichten aus ihrem Leben, und ich hörte ihr leidenschaftlich gerne zu. Sie erzählte aus ihrem Alltag, wie sie den ganzen Tag unter der glühenden Sonne auf dem Feld arbeitete, abends Weizen drosch und die Körner in ihrer Steinmühle mahlte. Dabei liess sie sich vom wellenartig an- und abschwellenden Geräusch der sich reibenden Steine tragen und hing ihren Gedanken nach. Sie dachte an ihre Leute, auch an die Verstorbenen. Oft weinte sie dabei vor Müdigkeit, und die Tränen erleichterten sie. Sie genoss diesen Moment der Ruhe. Danach knetete sie den Teig, der noch vor Sonnenaufgang im Holzbackofen gebacken wurde. Kurz darauf brach sie auf und gelangte nach zwei Stunden – den Säugling samt dem noch warmen Brot, Oliven, Öl und Gemüse in einem grossen, flachen Korb auf dem Kopf tragend – auf steinigem Weg zum Feld.
Grossmutter erzählte auch gerne von der einzigen Reise ihres Lebens: »Es war zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Ich war damals noch ein junges Mädchen. Die Engländer kämpften gegen die Türken, und wir lebten mitten im Kriegsgebiet in Not und Angst. Mehrere Leute aus unserem Dorf, auch aus unserer Familie, waren in den Kämpfen getötet worden. Viele flüchteten aus Angst in die Städte an der Küste, wo bereits die Engländer standen, oder nach Istanbul. Ich schloss mich dem Strom von Menschen aus unserer Gegend an, die zu Fuss nach Istanbul unterwegs waren. Die Flucht dauerte zwei Monate. In Istanbul erkannte mich ein Soldat aus unserem Dorf; er kümmerte sich um mich und schickte mich mit der nächsten Karawane zurück nach Birseit. Ohne ihn wäre ich wohl nie wieder nach Hause zurückgekehrt. Das war die erste und letzte Reise meines Lebens.« Als die Türken in Ramallah, zehn Kilometer von Birseit entfernt, von den Engländern besiegt wurden, kam es zu einem Waffenstillstand. Die Flüchtlinge kehrten nach und nach zurück. Ihre Häuser waren von den Türken geplündert worden, die Felder abgeerntet.
Ein andermal erzählte Grossmutter, wie es dazu kam, dass die Frauen im Dorf Schuhe tragen durften. Als Anfang des Jahrhunderts die ersten einfachen Lederschuhe aufkamen, waren sie den Männern vorbehalten, obwohl gerade die Frauen bei ihrer harten Arbeit auf dem Feld oft wunde Füsse hatten. »Wir Frauen besassen zwar Schuhe, aber es ziemte sich nicht, sich damit im Dorf zu zeigen. So zogen wir sie erst ausserhalb des Dorfes an. Als wir eines Tages mit schweren Holzbürden auf dem Kopf ins Dorf zurückkamen, beeilten wir uns wie immer, die Schuhe rechtzeitig auszuziehen und zwischen dem Holz zu verstecken. Aber Salma, Mansûrs Tochter, hatte wunde, schmerzende Füsse und beschloss, die Schuhe nicht auszuziehen. Kaum war sie zu Hause angekommen, stürzte sich ihr Vater mit einem Stock wütend auf sie: ›Wie wagst du es, mir diese Schande anzutun! Das ganze Dorf spricht über die Tochter des Mansûr.‹
›Bitte, Vater‹, flehte sie, ›im Namen der Heiligen Maria und des Heiligen Georg, hör mich an, bevor du mich schlägst! Sag mir: Was ist besser und anständiger: die Schuhe an den Füssen oder auf dem Kopf zu tragen?‹
Verblüfft liess der Vater den erhobenen Arm sinken und antwortete: ›Du hast recht, meine Tochter.‹ Und er verliess das Haus.
Darauf ging Salma zu ihren Freundinnen und erzählte ihnen die Geschichte. Und sie beschlossen, von nun an die Schuhe anzubehalten. Und dabei blieb es.«
Meine Eltern wuchsen zur Zeit des britischen Mandats in Palästina auf. Die Engländer wollten die Gesellschaft modernisieren und mit der Gründung von Schulen ihren Einfluss verstärken. Mein Vater erhielt eine gute Schulbildung in Jerusalem, wo Grossvater in der Klinik der lutherischen Kirche als Hilfskraft arbeitete. Grossvater war offen für Neues und wusste auch Bescheid über das, was sich jenseits der Dorfgrenzen abspielte.
Meine Mutter, Tochter einer einfachen Bauernfamilie, hatte sich geweigert, die Schule zu besuchen, und blieb Analphabetin. Denn nach Vorschrift der Engländer hätte sie, wie alle Schülerinnen, eine Schuluniform tragen müssen. Meine Mutter und andere Mädchen ihres Alters brachten es nicht über sich, ihre palästinensische Tracht abzulegen, sich derart zu entblössen und ihre Kultur und Tradition preiszugeben. Heute leben in Birseit nur noch etwa dreissig Frauen, die diese Tradition beibehalten haben. Die meisten von ihnen sind Analphabetinnen.
Meine Mutter wurde mit siebzehn Jahren verheiratet. Sie brachte neun Kinder zur Welt, fünf Mädchen und vier Knaben. Die Geburt eines Kindes ist die Bestätigung der Fruchtbarkeit und Tauglichkeit der Frau. Die Wertschätzung stieg, wenn die Frau Söhne und möglichst wenige Töchter zur Welt brachte. Der Sohn, Träger des Familiennamens, galt und gilt auch heute noch als Beschützer der Familie; er sichert ihren Unterhalt und Besitz. Grosse Freude verbreitete sich daher unter denen, die vor der Tür der Gebärenden warteten, wenn der Ruf der Hebamme zu hören war: »Betet zum Heiligen Georg! Es ist ein Sohn geboren!« Im Nu erfuhr es das ganze Dorf. Wurde ein Mädchen geboren, rief die Hebamme: »Betet zu unserer Mutter Maria! Ein Mädchen ist geboren!« Stille breitete sich aus. Trostworte wurden ausgesprochen wie: »Hauptsache, die Mutter hat es überstanden.« – »Wer eine Tochter bekommt, kann auch einen Sohn bekommen.« – »Wenn sie keinen Mann findet, kann sie im Alter für die Eltern sorgen.«
Das Kindbett dauerte in der Regel vierzig Tage. In dieser Zeit wohnte die Mutter oder eine der Schwestern der jungen Frau bei ihr, pflegte sie und versorgte Haus und Kinder. Es war üblich, dass die Grossmutter der Tochter und ihrer Familie zur Geburt einige Hühner schenkte. Und so gab es die ganze erste Woche über leckere Hühnergerichte.
Ich wurde 1948 geboren, in dem Jahr also, in dem auf dem Boden, der uns Palästinensern und Palästinenserinnen gehörte, der Staat Israel gegründet wurde. Mein Grossvater besass zu jener Zeit an der Stelle, wo sich heute der Flughafen Lod-Tel Aviv befindet, zwei Hektaren Land. Dort, nur vierzig Kilometer vom Heimatort Birseit entfernt, pflanzte Vater mit Verwandten Zitrusfrüchte und baute Weizen und Gemüse an. Durch die Teilung Palästinas verloren sie Grundstück und Arbeit, und Vater kehrte zu seiner...