Das Phantom mit der Taschenlampe
Die 65jährige Rentnerin Margarete Neubauer löschte ihre altmodisch anmutende Nachttischlampe. Der Porzellansockel war mehrfach gesprungen und der moorgraue Schirm viel zu klein für den monströsen Unterbau. Margarete Neubauer hatte zuvor auf die andere schon seit über 20 Jahren verwaiste Hälfte des Ehebetts geschaut. Ihr Mann war, kurz nachdem sie die Wohnung in der Wolfshagener Straße im 1.Stock bezogen hatten, an einem Herzinfarkt verstorben. Eine weitere Beziehung hatte sich nicht ergeben. So lebte sie allein, die letzten Jahre mit ihren Krankheiten.
Sie zog die Bettdecke über die Nase, wußte nun aber plötzlich nicht mehr, ob der Gashaupthahn wirklich geschlossen war. In der Dunkelheit tastete sie nach dem Schalter. Klick. Die Lampe verstrahlte wieder ihr sanftes, moorgraues Licht. Frau Neubauer stand auf und ging in die Küche. Der Hahn zeigte die Stellung »ZU«. Auf dem Rückweg ins Bett kontrollierte sie noch einmal, ob auch die Wohnungstür wirklich verschlossen war. Als nunmehr alles in Ordnung zu sein schien, ging sie ins Bett und löschte das Licht endgültig. Wider Erwarten schlief sie alsbald ein.
Gegen drei Uhr morgens wurde sie wach, als sie ein heftiges, kratzendes Geräusch vernahm. Margarete Neubauer schlug die Augen auf, bemerkte aber im Schummerlicht nichts Verdächtiges. Da traf sie aus Richtung Fußende jäh der Lichtkegel einer Taschenlampe. Sie schrie laut auf, wollte reflexartig die Nachttischlampe einschalten, aber es ging nicht. Klick, keine Reaktion – kein moorgraues Licht. Nur der widerlich gleißende, kaltweiße Schein dieser Lampe! Erstarrt vor Angst wartete sie auf den Angriff des unbekannten Raubtiers, das sie hinter dem Lichtkegel vermutete. Erst kürzlich hatte sie bei Zola gelesen, was in Mördern vor sich ging, wenn das Animalische in ihnen Oberhand gewann. Plötzlich schien sie mit ihrem Leben abgeschlossen zu haben. Kein Laut kam mehr über ihre Lippen.
Wider Erwarten geschah erst einmal nichts. Nach kurzer Zeit, in der sie leise, nicht zu ortende Geräusche vernahm, ging die Taschenlampe aus. Sie hörte schnelle Schritte und dann die Wohnungstür zuschlagen. Aber sicher war sich Margarete Neubauer nicht, ob das das Ende des Spuks war.
Sie stand auf und tastete sich fluchend in Richtung Korridor voran. Alsbald stellte sie fest, daß es in der ganzen Wohnung keinen Strom mehr gab. Es brannte kein Licht, und auch der Kühlschrank verweigerte seinen Dienst. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Um diesen Elektrokram hatte sie sich nie gekümmert. Telefon besaß sie nicht, und um diese Zeit bei den Nachbarn zu klingeln, nein, das ging nun wirklich nicht. Außerdem verstanden sie sich nicht besonders gut.
Nachdem sie in der Küche eine Flamme des Gasherds als Fackel angezündet hatte, suchte sie ihren gesamten Kerzenvorrat. Sie fand eine Menge, etwa zwanzig Stück, und verteilte sie auf mehrere Teller. Ihr Schlafzimmer war bald hell erleuchtet. Rasch stellte sie noch einen Stuhl unter die Klinke der Wohnungstür, sah nach, ob alle Fenster geschlossen waren und legte sich wieder ins Bett. Die Angst überfiel sie erneut wie ein weidwundes Tier. Wer war das? Wer macht so etwas? Und, was wollte er? Wird er wiederkommen? Diese Gedanken gingen ihr immer wieder durch den Kopf. Und irgendwann in der Morgendämmerung dieses 1. Juli 1973 war Margarete Neubauer über all den grüblerischen Gedanken eingeschlafen.
Traumgeschüttelt entschloß sie sich am Mittag, doch aufzustehen und zur Polizei zu gehen. Sie schob die Füße aus dem Bett und setzte sie auf das rissige Parkett, sie wollte sich erheben, doch dann schwanden ihr die Sinne.
Auf dem Polizeirevier Nr. 281 in Pankow, Berliner Straße, häuften sich im Frühsommer 1973 Anzeigen und Mitteilungen von Frauen unterschiedlichen Alters. Das jüngste Opfer war gerade mal 19 Jahre alt, die älteste Geschädigte, Margarete Neubauer, die zudem eine schwere psychische Störung erlitten hatte, 65. Der Tathergang war immer derselbe und wurde im Kriminalistendeutsch verknappt wie folgt umschrieben:
»In den späten Abend- bzw. Nachtstunden dringt eine Person in die Wohnung einer alleinstehenden Frau ein, begibt sich mit auffälligen Kratzgeräuschen in das Schlafzimmer, stellt sich an das Fußende des Bettes und leuchtet mit einer Taschenlampe in das Gesicht des Opfers. Die Frau versucht, Licht zu machen, aber die Nachttischlampe brennt nicht. Kein Strom! Schreiend oder wortlos vor Angst wartet die Frau weitere Reaktionen des Täters ab, aber nichts geschieht. Er betrachtet sie nur in ihrer Hilflosigkeit. In zwei Fällen hatte er allerdings die Bettdecke betont langsam vom Körper der Opfer gezogen, aber mehr passierte auch hier nicht. Der Täter verschwindet nach kurzer Zeit, ohne sich der Frau genähert zu haben.«
Zunächst wollte man die Sache gar nicht so richtig ernst nehmen. Die erste Anzeige, die von der Kripo entgegengenommen wurde, klang so unglaubwürdig, daß man sich nicht darüber im klaren war, ob die Anzeigenerstatterin vielleicht nur halluziniere. Außerdem war ja auch nicht viel passiert. Aber als die zweite, dritte Anzeige vorlagen, war offenkundig, daß reale Vorgänge wiedergegeben wurden. So beschloß man, sich die Tatorte anzusehen.
Die Kriminaltechniker untersuchten die Schlösser der Wohnungseingangstüren. Dort fanden sie Schartenspuren, also Rillen und Riefen von einem schloßfremden Gegenstand. Und da es sich bei allen Schlössern um einfache Buntbartschlösser handelte, war schnell ermittelt worden, daß der Täter mit einem Sperrhaken arbeitete und perfekt und geräuschlos in die Wohnungen eindrang. In allen Fällen hatte er im Flur sämtliche Sicherungen gelockert. Im Schlafzimmer der Opfer kratzte er wahrscheinlich mit dem Dietrich an der Wand oder am Bett, was aber nicht durch konkrete Spuren bestätigt werden konnte.
Über die Frage des Motivs herrschte bei den Kriminalisten Uneinigkeit. Diebstahlshandlungen waren ausgeschlossen, denn es fehlte ja nichts. Erst als ein pfiffiger Kriminaltechniker bei einem Neuanfall eine frische Spermaspur vor dem Bett feststellen und sichern konnte, ging man von einem Sexualtäter aus. Kriminalobermeister Marmulla, der diese Fälle auf seinen Tisch bekam, wußte aus der Literatur, daß auch aus Spannern unter bestimmten Umständen Vergewaltiger werden konnten. Und ein »normaler« Spanner war hier nicht am Werke, denn der agiert heimlich: schaut durchs Schlüsselloch dem Koitus zu, beobachtet unbemerkt Liebespaare im Walde oder glotzt sehnsüchtig, mit einem Fernglas bewaffnet, in die Lichtervierecke der Häuser, ob es da etwas Erotisches zu erspähen gibt. Die im männlichen Voyeurismus enthaltenen aggressiven Komponenten, gedankliche Herrschaft über die beobachteten Personen zu gewinnen, bewirken, daß es manchmal eben nicht beim passiven heimlichen Zuschauen, bei einer phantasierten Allmacht und Verfügung über eine Frau bleibt. So war für Kriminalobermeister Marmulla bereits erkennbar, daß beim Täter, sollte er ein Voyeur sein, schon eine gewisse Entwicklung eingetreten war. Sich in Wohnungen einschleichen, Frauen erschrecken und sich an ihrer Angst laben – das hatte schon eine frontal-aggressive Note, die den Spanner auf dem Wäscheplatz zu einem harmlosen Fall degradierte. Wird er, der Täter, so weitermachen oder wird es weitere »Entwicklungssprünge« geben, in denen seine aggressiven Impulse die Oberhand gewinnen? fragte sich Marmulla.
Steigerungsmöglichkeiten gab es noch eine ganze Menge: Berühren der Opfer, Quälen, Vergewaltigen, Töten. So gesehen tickte eine Zeitbombe in seinem Revier.
Der junge Kriminalist überlegte, wie man dem »Phantom mit der Taschenlampe« auf die Spur kommen konnte. Bei den Dienstvorgesetzten stieß er allerdings mit seinen Vorschlägen nicht gerade auf Verständnis. Rechtlich sei dies nur ein belangloser Hausfriedensbruch, also kriminalistisch gesehen »Mumpe«.
Der Ausdruck »Mumpe« war für Marmulla auch eine neue Erfahrung. Seine Wörterbücher kannten nur »Mumpitz« für Unsinn. Nein, so kam er nicht weiter. Er mußte seinen Chefs klarmachen, daß erstens dieses Phantom beim nächsten Mal eine Vergewaltigung oder sogar einen Sexualmord begehen könnte, und zweitens, daß es in dem betreffenden Gebiet, vor allem bei alleinstehenden Frauen, schon reichlich Unruhe gab, so daß die Staatsmacht gefordert war.
Marmulla verbrachte eine lange Nacht in seiner kleinen Bibliothek. Voyeurismus oder Skopophilie, las er in einem Wörterbuch, ist eine allgemeine Triebbefriedigung bzw. sexuelle Lustempfindung durch Schauen. Der verbotene oder heimliche Anblick eines unbekleideten Körpers, des Geschlechtsverkehrs, von Liebesspielen eines Paares, einer schlafenden Frau usw. werde zwanghaft gesucht und bewirke Erregung und Befriedigung. Und – diese Sätze schrieb er sich auf einen Zettel: »Der Spanner empfängt nur dann Befriedigung aus seinen Akten, wenn die entsprechenden Handlungen auch verboten sind. Deshalb werde außer den sexuellen auch das Vorhandensein von aggressiven Tendenzen...