7. April 2004
Heute vor einem Jahr Krebsoperation.
Ja und? Ein Jahr überlebt – und eigentlich ganz gut überlebt. PSA tief geblieben. Seicherei trotz Beckenbodentraining nicht im Griff. Spritze und Impotenz: Eine Krücke ist immer noch besser als Kriechen. Im Übrigen: Zum Teufel mit dem Selbstmitleid.
10. April 2004
Gestern das Karfreitagskonzert in der Kirche besucht. Anschließend Einladung von unseren Freunden Heinz und Renate zu Bündnerfleisch und Wein. Später daheim gefragt: »Soll ich spritzen?«
Reni: »Was denkst du?«
»Ich denke ja.«
Ging also hinauf, riss Material hervor, Nadeln aufgesetzt, Kleider weg – sie stören die Sicht auf den Tatort, so wie die Schamhaare auch, aber ich lasse sie vorderhand stehen – Pulver und Lösung gemischt, Haut desinfiziert und rein den Mix ins Würstchen. Es fühlte sich gut an, wuchs auch recht geschwind, also wieder angezogen und zur Spätausgabe der »Tagesschau«. Eigentlich interessierten mich die Nachrichten nicht, ich genoss es einfach, mit Aufbruchstimmung zwischen den Beinen neben Renata zu sitzen.
Als er stand und spannte, knipste ich den Fernseher aus.
Es fehlte uns beiden nicht an Zuneigung und Humor. Aber der Hund wurde im Liegen eher wieder kürzer, dünner, benahm sich wankelmütig, trotz sanften Händen. Endlich aber, wie sich Reni auf ihn niederließ, nahm die Geschichte einen angeregten Verlauf.
Später gingen wir hungrig hinunter in die Küche. Auch diesmal war es nicht anders: Durch die Reibung hatte sich die eingespritzte Substanz so gut in den Schwellkörpern verteilt, dass erst jetzt eine andauernd harte und schmerzhafte Erektion einsetzte. Sie zwang mich schräg auf den Stuhl, und ich wickelte noch während des Essens einen feuchten Waschlappen darum. Zurück ins Bett, Kopfteil hoch. Auf ORF lief ein Krimi mit Liz Taylor, »Mord im Spiegel«. Wir sahen den Film zu Ende, aber auch The End bedeutete nicht das Ende meines Problems.
Nach einer halben Stunde glitt ich aus dem Bett und schlich aus dem Schlafzimmer. Reni murmelte aus dem ersten Schlaf: »Immer noch?«
»Ja. Und wie.«
Ich ging nach unten in mein Büro.
Und da sitze ich, den Waschlappen um das harte Ding, und halte die Story unserer Karfreitagnacht fest.
Gemäß Prospekt der Firma sollte nach einer Caverject-Injektion die Erektion allerlängstens vier Stunden dauern. Ansonsten besteht die Gefahr von Durchblutungsstörungen und Fibrose. Die Zeit überzogen habe ich bisher nie, aber heute Nacht komme ich nahe an die Limite.
Demnächst will ich mich in der urologischen Klinik beraten lassen, wie ich die Spritzerei verbessern könne. Vor allem auch: In welcher Konzentration ich das Antidot spritzen solle, wenn die Erektion einmal länger als vier Stunden anhalten würde.
Immerhin sieht es so aus, als wären wir dem hautnahen Teil unseres Ehelebens wieder ein gutes Stück näher gekommen.
15. April 2004
»Hallo, tut mir leid, habt ihr noch nichts gehört, ich hatte die E-Mail-Adresse falsch geschrieben. Ich bin angekommen und es geht mir bestens. Es ist alles perfekt. Zwar ist nicht alles nett and clean, aber das macht mir nichts aus. Wir sind 13(!) Studenten im Haus, es ist eine gute Stimmung. Ich bin nicht wie vorgesehen in einem 1er-Zimmer, sondern in einem Vierer, aber das macht mir nichts aus, bin froh, ist es so. Ich habe übrigens keinen Strich Heimweh, es würde mich schrecklich anscheißen, müsste ich deswegen jetzt heimkommen. Was macht Michael? Eine CD kostet hier 5–9 $, höchstens 15. Ich habe mir einen Rucksack gekauft. Ein Velo kostet höchstens $ 200. Es ist noch schwierig, nicht zu viel Geld auszugeben. Bin also voll zufrieden, überglücklich. Habe jetzt 10 Uhr abends, gehe bald ins Bett.«
»Typisch Matthias«, sagt Renata. »›Geht mir bestens. Alles perfekt. Voll zufrieden, überglücklich‹.« Sie sieht mich lange und vielsagend an. »Eigentlich schön, wenn die Kinder den Eltern zu Vorbildern werden…«
16.–23. April 2004
Paris. Renata am Weltkongress für Anästhesie, ihr Mann als Begleiter. Sie trägt ein Namensschild mit blauem Balken, das seine ziert ein gelber Streifen und ein großes A: ami, Anhängsel, artfremd oder associate? Immerhin hat seine Frau für den associate bezahlt. So konnte er an der Eröffnungszeremonie im Palais des Congrès und an der Soiree im Louvre mit Steh-Dinner und exklusivem Museumsbesuch mit dabei sein.
Jeden Morgen begleite ich Renata vom Hotel zum Kongresszentrum. Wenn sie nach einem kurzen Winken, wahrscheinlich nur für ihren associate als Winken erkennbar, in einem der Vortragssäle verschwunden ist, mache ich mich auf die Pirsch.
Einmal steige ich bei ekelhafter Bise an der Place de la Concorde aus der Metro. Wir sind leider optimistisch genug gewesen, im April ohne Mantel und Regenschirm nach Paris zu fahren. Allerdings haben wir es irgendwie verpasst, in Ruhe zu packen. Renata hat noch bis weit in den Abend hinein anästhesiert, ich bin auch ziemlich spät aus der Praxis gekommen. Mit dem Seufzer: »So, jetzt wird man uns hoffentlich in Ruhe lassen!«, sanken wir knapp vor Mitternacht ins Bett. Und kaum das Licht gelöscht, die Polizei am Telefon: ein Erschossener im Obersimmental. Abzweigung zur Alphütte markiert. Aber Achtung, auf dem Weg zur Hütte liegt noch Schnee. Ich rechnete es mir an den Fingern aus: Vor halb vier würde ich nicht wieder im Bett sein…
Über den Pont de la Concorde schlendere ich ans linke Seine-Ufer. Ich hoffe, die bouquinistes seien schon da. Es ist zu früh. Ein einziger Händler mit Siebentagebart und einer erloschenen Zigarette zwischen den Lippen bemüht sich, die Deckel seiner grünen Bücherkiste hochzuklappen. Dabei kommt ihm sein abgetragener, viel zu großer Lodenmantel, dem alle Knöpfe fehlen, in die Quere. Wie die Auslage hergerichtet ist, befeuchtet er sein Revierchen auf dem breiten Gehsteig mit Wasser aus einer PET-Flasche und wischt die Spritzer mit einem stumpfen Besen auf die Straße hinaus. Seinen ersten potenziellen Kunden würdigt er keines Blicks. So zottle ich weiter und friere mich durch bis in die Rue Jacob. Dort setze ich mich in ein Café.
Unverbesserlicher Nostalgiker… Vor dreiundvierzig Jahren schafften es mein Freund Red und ich per Autostopp an einem Tag von Saanen bis Paris. Nicht schlecht für zwei Landeier, und erst noch gut für unser Budget. Fünf Franken pro Tag, mehr lag nicht drin. Spätabends hatte uns der letzte Wohltäter am Straßenrand aus seinem Auto komplimentiert. Es war noch hell, aber doch Zeit, uns nach einem Ort zum Schlafen umzusehen. Vorabend des Quatorze Juillet – die Straßen anfänglich noch erleuchtet und voll Volk. Hungrig, ohne Stadtplan, ohne Ahnung, wo wir waren, versuchten wir uns zu orientieren. Mit schweren Beinen und Rucksäcken zottelten wir los, müder und müder, immer weiter und immer ungefähr gegen Westen. Das Trottoir wurde schmaler, die Beleuchtung spärlicher, die Stadt stiller. Wir kamen an einer Bude des Straßenbaus vorbei. Blieben stehen, sahen uns an, gingen zurück. Eine rostige Kette und ein riesiges Vorhängeschloss an der Tür, daneben ein Fensterloch ohne Fenster. Die Rucksäcke plumpsten ins Dunkel, wir stiegen nach. Aus Angst, entdeckt zu werden, ließen wir die Taschenlampe nur hie und da aufblitzen. Das Werkzeug schoben wir beiseite, suchten die finsterste Ecke aus und klopften mit den Socken Staub und Dreck von den rohen Brettern. Red hatte den Schlafsack nur ausgeliehen und fürchtete, ihn schmutzig zu machen. Er legte alle seine Kleider auf dem Boden aus und den Schlafsack sorgsam darüber. Im Finstern kauten wir an einer Scheibe Speck und gedörrten Apfelschnitzen aus Reds Rucksack, ich stiftete Brot und den Tee dazu, heute früh daheim gebraut und abgefüllt… In sechzehn Tagen wollten wir nach Schottland und zurück. Paris war für uns Etappenort, keine Zeit, kein Geld, uns zu verweilen. Die Stadt sahen wir damals nicht, wir sahen nur die Autos, die uns Richtung Calais hätten mitnehmen können.
Paris zwölf Jahre später. Abendgymnasium, Geld immer noch knapper als knapp. Einmal hatte ich als Taxichauffeur Ausstellungsvitrinen von Gstaad nach Monaco überführt. Im Hotel Monte Carlo wollten die Bijoutiers Van Cleef & Arpels in Gegenwart des Fürstenpaars ihre schönsten Schmuckstücke zeigen. Auch ich hatte mich in eine festliche Schale stürzen und unter die Geladenen mischen müssen. Sollte ich angesprochen werden, hatte ich möglichst unzweideutig zu murmeln: »I have a special function…« (So wie die Bijoutiers zwei Jahre zuvor im »Ritz« in Lissabon mich den Journalisten der größten Tageszeitungen ohne Hemmungen als Judo- und Karate-Champion verkauft hatten.) Am Abend nach der Ausstellung schlug man mir vor, die Vitrinen statt zurück...