Faszination Rechtsmedizin
Hohe, ausgetretene Stufen führen hinab in die Familiengruft. Es ist feucht und zugig hier unten, einige Fackeln werfen ein mattes, flackerndes Licht ins Dunkel und an den Wänden zeichnen sich bizarre Schatten ab. Endlich steht die Familie vor den Särgen ihrer Ahnen, die sie jetzt anlässlich der Renovierung ihres jahrhundertealten Schlosses öffnen lassen will. Als der zweite Deckel angehoben wird, begleitet von einem schaurigen Knarzen, erstarren die Nachfahren. Eine Frau stößt einen entsetzten Schrei aus.
In dem Sarg erblickt die Familie eine Totenkopffratze, von einem furchtbaren Todeskampf gezeichnet. Die Arme des Leichnams sind abgespreizt, die Finger eingekrallt, der Körper wie in letzter Agonie gekrümmt. Es ist das pure Grauen. Ein albtraumhaftes Schicksal muss den Ahnen vor langer, langer Zeit ereilt haben: Ein Mann, der sich im absoluten Dunkel seines schmalen Holzsargs mit letzter Kraft gegen den Deckel stemmt und panisch an den Wänden kratzt, immer mühsamer nach Luft ringend. Es ist ein aussichtsloser Kampf.
Lebendig begraben! Was hat es auf sich mit solchen Erzählungen aus uralten Büchern, die den Leser schaudern lassen? Sind es Gruselgeschichten, einer düsteren Fantasie entsprungen? Oder kann uns ein solches Schicksal auch heute noch treffen? So detailliert und umfangreich manche historischen Berichte sind, von Chronisten, Geistlichen, Ärzten und Amtspersonen zu Papier gebracht, so sind es doch Schauermärchen und fantastische Hirngespinste. Heute bleibt von diesen Gruselgeschichten aus dem Blickwinkel der modernen Rechtsmedizin nichts mehr übrig. Es handelt sich um nichts weiter als natürliche sogenannte späte Leichenveränderungen im Rahmen von Fäulnis und Verwesung.
Die Furcht vor dem Scheintod – lebendig begraben zu werden gehörte zu den schauerlichsten Ängsten früherer Jahrhunderte – war mit ein Anstoß dafür, dass sich die Mediziner Ende des 18. Jahrhunderts anschickten, den Prozess des Sterbens näher zu erforschen und herauszufinden, wann ein Mensch wirklich und tatsächlich tot ist. Die Thanatologie, ein klassisches Kernstück der Rechtsmedizin, war geboren. Ein faszinierender Bereich und einer von vielen, der dieses Fach, das sich intensiv mit dem Tod beschäftigt, dem Leben so nahe bringt wie kaum ein anderes.
„Was bin ich?“ hieß von 1961 bis 1989 eine beliebte Fernsehsendung über das Beruferaten. Eingeleitet wurde sie mit der Bitte des Moderators: „Machen Sie eine typische Handbewegung.“ Bei einem Rechtsmediziner wäre das am ehesten eine lang gezogene Schneidebewegung mit einem imaginären Messer: Der Körper eines Toten wird geöffnet, um in seinem Inneren die Ursache des Todes zu ergründen. Verstorbene können uns die Umstände ihres Ablebens nicht selbst erklären, sie sprechen nicht mehr. Wir aber fragen, was ist passiert? Warum liegt dieser Körper da vor uns: kalt, blass, regungslos?
Aber „Tote schweigen nicht“, jedenfalls nicht für den Rechtsmediziner. Er bringt sie wieder zum Sprechen, wenn auch manchmal erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Der Rechtsmediziner versucht, den Toten ihre letzten Geheimnisse zu entlocken. Er untersucht zum einen die Umstände des Sterbeverlaufs sowie die letzten Regungen eines Körpers als sogenannte vitale und supravitale Reaktionen. Andererseits ergründet er die Aktionen des Täters, sofern es ein unnatürlicher Tod war, seine Handschrift, wie organisiert beziehungsweise nicht organisiert er vorgegangen ist. Der Rechtsmediziner liest in einem toten Körper wie in einem Buch. Er versteht die Zeichen, mit dem die Organe und das Gewebe anzeigen: Wann bin ich gestorben, wie lange hat es gedauert, wie geschah es? Welche äußere Gewalt hat auf mich eingewirkt, wo fand der Kontakt statt, warum hatte ich keine Chance zu überleben? Alles Fragen mit W. Der Rechtsmediziner will sie beantworten. Denn er will wissen, was wirklich wa(h)r.
Ein typisches Gesprächsszenario: Menschen treffen zusammen, lernen ihr Gegenüber kennen und nennen ihren Beruf. Wenn es heißt Rechtsmediziner/Gerichtsmediziner sind sie geradezu elektrisiert.
Dabei sind zwei Phänomene zu beobachten. Während die Mehrheit mit einem anerkennenden Interesse reagiert, den Beruf hoch spannend findet und viele persönliche und fachliche Fragen stellt, wehrt eine kleine Minderheit vehement ab: Das kann ich nicht mit anhören. Das sind ja schreckliche Geschichten. Erzählen Sie mir bloß keine Details. Das will ich mir gar nicht vorstellen. Färbt das auf Sie und Ihre Familie ab? Die Interessierten dagegen sind neugierig und wollen, dass man gleich alles Mögliche erzählt.
Faszination Rechtsmedizin: Was fasziniert den Rechtsmediziner und was seine Zuhörer, die begeistert seinen Schilderungen lauschen? Und die ihm Woche für Woche im Fernsehen folgen, zuerst bei „Quincy“ (mit Jack Klugman als Gerichtsmediziner), dann bei „Der letzte Zeuge“ (dargestellt von Ulrich Mühe) und seit Längerem im „Tatort“ mit dem Münsteraner Professor Boerne (mit Jan Josef Liefers). Oder in zahlreichen Krimis in Wort und Bild, zum Beispiel als Kay Scarpetta bei Patricia Cornwell oder als Hunter bei Simon Beckett. Die Reihe geht weiter von Temperence Brennan bei Kathy Reichs bis hin zum Sonder-BKA-Ermittler Fred Abel bei Michael Tsokos und ließe sich fast unbegrenzt fortsetzen.
Unser Rechtsmediziner Klaus Püschel ist anders. Keine Fiktion, kein Idealbild, kein Superhirn, kein einsamer Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit, kein Actionman, aber ein Überzeugungstäter. Wir wollen wissen, was wahr ist: wwww – wissen was wirklich wa(h)r! Wie funktioniert die Sprache der Toten? Welche Spur hat zum Täter geführt, welchen Fehler hat er gemacht? Welche Befunde haben ihn überführt? Und vor allem: Was lernen wir daraus? Wie konnte es dazu kommen? Wie können wir dies zukünftig verhindern? Welche Schlussfolgerungen ziehen wir für soziale Veränderungen, damit dies so nicht wieder passiert? Und außerdem: Wie unterstützen wir die Opfer? Die direkten und die vielen indirekten aus der Familie und dem Freundeskreis. Denn Rechtsmedizin ist Opfermedizin.
Wer meint, die Hauptaufgabe, wenn nicht sogar das ausschließliche Tun eines Rechtsmediziners bestehe darin, Tote zu obduzieren, hat ein falsches Bild. Dieser Beruf hat so viel mehr Facetten, und vieles davon spielt sich außerhalb von Sektionssälen und Gerichtsverhandlungen ab. So erstellen Rechtsmediziner versicherungsmedizinische Gutachten, etwa nach Verkehrsunfällen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Renten- oder Prämienanspruchs bestehen. Oft sind Fragen nach Schäden durch Berufserkrankungen zu beantworten. Hat ein Mensch zum Beispiel durch seine jahrelange Arbeit eine Staublunge erworben und führte diese Erkrankung zum Tod? In diesem Fall bestünden sehr viel höhere Ansprüche für die Verbliebenen gegenüber den Versicherungen. Auch Kranke, die meinen, sie seien Opfer eines ärztlichen Kunstfehlers geworden, bekommen in der Rechtsmedizin Hilfe in Form von Gutachten.
Ferner werden DNA-Gutachten erstellt, beispielsweise zur Feststellung einer Vaterschaft, Verletzungen an lebenden Opfern werden untersucht und dokumentiert, etwa für spätere Strafprozesse wegen Körperverletzung, Kindesmisshandlung oder Vergewaltigung. Es werden toxikologische Haaranalysen und Blutuntersuchungen vorgenommen, um zum Beispiel Drogenkonsum nachzuweisen oder den Blutalkoholwert zu bestimmen. Zudem können Rechtsmediziner mittels Röntgenuntersuchungen das Alter von Menschen diagnostizieren, was unter anderem für die Frage der Strafmündigkeit bei Jugendlichen entscheidend ist.
Ein wichtiges Feld ist auch die Versicherungsmedizin. Ist der Mann, der sich zwei Finger mit einer Kreissäge abgetrennt hat, wirklich unglücklich in das Gerät gerutscht, die Verletzung war also ein Unfall? Dann bekäme er, wenn er gut versichert ist, möglicherweise eine Summe zugesprochen, von der er und seine Familie über viele Jahre gut leben könnten. Oder hat er die Verletzung absichtlich herbeigeführt, um seine Versicherung zu betrügen? Rechtsmediziner können anhand des Verletzungsbildes herausfinden, was wirklich passiert ist.
Schließlich die Frage nach dem Todeszeitpunkt eines Opfers. Wenn der Rechtsmediziner im Krimi nonchalant und nach einem eher flüchtigen Blick auf einen Leichnam erklärt, dieser sei „vor acht bis zehn Stunden“ verstorben, löst dies bei den wirklichen Experten je nach Temperament Ärger oder Schmunzeln aus. Natürlich ist es sehr viel aufwendiger, einen exakten Todeszeitpunkt zu bestimmen, dies erfordert umfangreiche Untersuchungen.
Wie groß die Bedeutung des Zeitpunkts, an dem ein Mensch stirbt, sein kann, und zwar nicht nur bei Mord und Totschlag, sondern auch im Zivilrecht, zeigt der folgende Fall. Ein Ehepaar wird Opfer eines Verkehrsunfalls. Beide sind sehr schwer verletzt und versterben noch...