Um einen Einblick in die Entstehungsgeschichte der Erlebnispädagogik zu geben und die Grundlagen des theoretischen Überbaus zu beleuchten, sollen in diesem Teil kurz ein paar wenige historischen Wurzeln benannt werden. In der fortschreitenden Erforschung der Erlebnispädagogik tun sich immer wieder andere Wege und vor allem weitere Persönlichkeiten auf, denen ein Teil des theoretischen Gedankengutes zuzuschreiben sind. Jörg Ziegenspeck hat in seiner Reihe „Wegbereiter der Erlebnispädagogik“ bereits mehr als fünfzig Autoren ausmachen können. Die Vorstellung aller Wegbereiter würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, weshalb ich lediglich eine subjektive Auswahl getroffen habe. Diese Auswahl wurde von der Intention, einen gewissen zeitlichen Abriß aufzuzeigen und den Wunsch bedeutende Wegbereiter aus verschiedenen Gesellschaften darzustellen, geleitet. Als Vertreter einer europäischen Erziehungsrichtung stelle ich den Theoretiker Jean-Jacques Rousseau vor. Im amerikanischen Raum gab Henry David Thoreau mit seinen praktischen Lebensbeispielen entscheidende Impulse für die Erlebnispädagogik. Desweiteren stelle ich einige reformpädagogische Bewegungen vor, die in Deutschland zum Teil bereits vor dem ersten Weltkrieg ihre Kritik am bestehenden Schul- und Gesellschaftssystem formuliert haben. In dieser Reihe darf natürlich auch Kurt Hahn als Galionsfigur der Erlebnispädagogik nicht fehlen.
- „Emil oder Über die Erziehung“
Der Philosoph und Denker Jean-Jacques Rosseau lebte in der Zeit der Aufklärung. Seine Mutter starb kurz nach seiner Geburt und sein Vater kümmerte sich kaum um ihn. So zog er mit 16 Jahren aus seiner väterlichen Heimatstadt Genf aus, um fortan ein unstetes und sprunghaftes Leben zu führen. Die Ziele seiner Reisen (Turin, Venedig, Dijon, Paris) lesen sich so vielfältig wie seine Berufe: Schreiberlehrling, Handwerker, Priesterkandidat, Musiklehrer, Erzieher. Als Egozentriker wurde er zum Prediger der Einfachheit und zum Bewunderer der Natur. Der Weg, sich selbst zu erkennen führte für ihn über die Erkenntnis der Welt. Tiefenpsychologisch und mit wissenschaftlicher Akribie hat er sein Innerstes erforscht und in seinen „Bekenntnissen“[24] schonungslos offengelegt.
Die Hinwendung zum Individuum und das Aushorchen seiner inneren Empfindungen empfand er als Sprache der Natur. Diese Sprache zu verstehen war ihm wichtiger als alle Vernunft. Hierin stand er im Gegensatz zu seiner Zeit, in der Wissenserwerb, Training der Denkfunktionen, Lernen im Unterricht und Förderung der Vernunft im Mittelpunkt der pädagogischen Bemühungen stand. René Descartes berühmter Satz „ich denke, also bin ich“, wurde für ihn zu „ich erlebe, also bin ich“.
Genauso sprunghaft wie sein Lebensstil, war seine Arbeit. Mal versank er in Träumereien und genoß die sommerliche Frische, um sich im nächsten Moment Hals über Kopf in die Arbeit zu stürzen und wie ein Besessener zu arbeiten. Er wurde heimgesucht von Ideen und Eingebungen, die mit solcher Macht auf ihn einstürzten, daß es schiene, er gleite vom Genie in den Wahnsinn. Die Frage, ob „der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Veredelung der Sitten beigetragen habe“[25], wurde für ihn zur Lebens- und Schicksalsfrage. Seine wortgewaltige Verneinung dieser Frage, brachte ihm einen Preis ein und machte ihn über Nacht berühmt. Trotz zahlreicher Angriffe durch zeitgenössische Philosophen, Intellektuelle und Wissenschaftler, ließ er sich nicht von seinem Kurs abbringen und veröffentlichte 1762 seine beiden Hauptwerke „Contrat social“[26] (Der Gesellschaftsvertrag) und „Émile“[27] (Emil). Hierin versammelt sind seine Gedanken zur Politik und Pädagogik. Seine Suche nach einem perfekten Staat, wie er ihn in seinem ersten Hauptwerk ersann, führte für ihn über die Bildung eines neuen Menschen.
Die Theorie der Erziehung zum neuen Menschen entwarf er in seinem Buch „Émile“. Bereits der berühmte erste Satz: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt, alles entartet unter den Händen des Menschen“[28], legte seine Denkrichtung offen. Die Rückbesinnung auf die Einfachheit, die Suche nach dem Ursprung und das Verstehen der Sprache der Natur waren für ihn das Maß aller Dinge. Nur wer diesen Pfad einschlug, näherte sich dem Guten. Sein Erziehungsziel war weder der Gesellschaftsmensch noch der Staatsbürger, sondern ein freier Geist in einem freien Menschen.
Nach Rousseau würden nur drei Dinge den Menschen erziehen: „Die Natur oder die Dinge oder die Menschen“[29]. Die Erziehung durch die Natur oder die Dinge liegt in ihnen selbst begründet. Nur die Erziehung durch den Menschen ist durch ihn [den Menschen - Anm. d. Autors] beeinflußbar. Diese Beeinflussung sollte sich lediglich auf die Verstärkung durch die Natur und die Dinge und dem Abwenden von negativen Einflüssen, reduzieren. Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Zivilisation hinderten den Lauf der Natur und der Dinge, die erzieherisch die natürlichen Bedürfnisse des Kindes bedienten.
Für Rousseau steckte in jedem Kind ein Bedürfnis nach Bewegung, ja geradezu ein Tätigkeitsdrang. Kinder sollten nicht aus Büchern lernen, sondern ihr Wissen durch eigene Erfahrungen erwerben. Dieser Tätigkeitsdrang ließe das Kind seine Umwelt und seine Natur erforschen und der „Jüngling“ lernte durch Arbeit und Handwerk. Nicht die Wissenschaften sollten ihm die Arbeit lehren, sondern durch die Tätigkeit alleine sollte er die Wissenschaft erfinden, sofern er sie brauchte. Rousseau haßte zunächst Bücher, Reden und Belehrungen und dennoch wurden sie zu seinem Medium um seine Sichtweise zu präsentieren.
Ein geradezu typisches Beispiel seiner Anfeindungen war die Schule:
„Und denkt daran [die Lehrer; Anm. d. Autors], daß ihr in allen Fächern mehr durch Handlungen als durch Worte belehren müßt. Denn Kinder vergessen leicht was sie gesagt haben und was man ihnen gesagt hat, aber nicht, was sie getan haben und was man ihnen tat.“ [30]
Die Kinder sollten aus ihren Handlungen lernen und die Folgen direkt zu spüren bekommen. Lieber sollten sie im Zug einer zerbrochenen Scheibe frieren, als „närrisch“ zu werden.
Rousseau entlarvte die verkopfte Anhäufung von Wissen seiner Zeit als zu einseitig. Er wollte aus den Schülern keine Wissenschaftler machen, sondern ihnen die Freude am Lernen schenken. Für ihn gehörte mehr zur menschlichen Existenz: Erfahrung durch die Sinne und den Körper, Sensibilität für inneres Empfinden, Gewahrwerden der Gefühle. Für ihn hatte nicht derjenige am meisten gelebt, der am ältesten wurde. Vielmehr hatte derjenige am meisten gelebt, der am stärksten erlebt hat. Diese Ansicht gipfelte in der radikalen Formulierung: „Es wäre ein Gewinn gewesen, wenn er als Kind gestorben wäre, wenn er wenigstens bis dahin gelebt hätte.“ [31]
Der Mensch wird mit Empfindungen geboren und er erforscht seine Umwelt mit seinen Sinnesorganen: Hände, Augen, Ohren, Nase und Zunge werden eingesetzt, um die ihn umgebende Welt zu erkunden. Gegenstände, die einen lustvollen Gewinn bringen, werden aufgesucht, gegenteilige werden gemieden. Erst durch die Erforschung der Umwelt werden Urteile, Maßstäbe, Vorstellungen, Ideen und die Moral und Sittlichkeit gebildet. Der Erzieher darf diesen natürlichen Drang des Kindes, der von der Natur vorgezeichnet ist, weder stören noch unterbrechen. Das Kind soll selbst eine sinnliche Wahrnehmung seiner Umwelt erleben. Es soll eigene Erfahrungen sammeln, statt rezeptiertes Wissen aus Büchern beigebracht zu bekommen. Diese Erfahrungen lassen sich für Rousseau am besten in der freien Natur machen. Das Erlebnis und die Unmittelbarkeit des Augenblicks sind die zwei wichtigsten Säulen seiner Erziehungstheorie. „Man muß sich mit der Gefahr selbst vertraut machen, um zu lernen, sie nicht mehr zu fürchten.“ [32]
Das Kind hat ein Eigenrecht auf seine Kindheit - so einfach postuliert Rousseau seine Forderung nach Zurückhaltung der Erzieher. Das Kind braucht die Freiheit, sich von der Erziehung zurückziehen zu können. Es braucht Zeit und Muße, zu einem Menschen zu reifen. Die Kindheit ist für ihn „der Schlaf der Vernunft“ [33] aus dem das Kind nicht zu früh geweckt werden darf. Wenn es dem Kinde gefällt nichts zu tun, so sollte es der Erzieher dabei belassen und nicht eingreifen - jeder Mensch ist sein eigener Kosmos. Der Heranwachsende muß alle Phasen der Entwicklung durchlaufen, ehedem er zum Menschen reift. Für ihn gehören hierzu auch die Bedürfnisse nach Geborgenheit, Nahrung und Sexualität. Diese natürlichen Bedürfnisse müssen während der Kindheit erlebt werden. Er sieht im Kinde einen jungen Wilden dem das Bedürfnis nach klettern, springen, kriechen, laufen usw. nicht beschnitten werden darf. Die Natur und die Dinge geben die Erziehungsziele schon vor; das Kind erzieht sich selbst durch Erlebnisse.[34] Der Erzieher soll im Hintergrund agieren und die Umwelt des Kindes von...