Vorwort
Die Beschäftigung der Psychologie und Psychiatrie mit traumatischen Erinnerungen hat eine lange und ehrwürdige Geschichte. Diese reicht mindestens bis in das Paris der 1870er-Jahre zurück. Damals faszinierte Jean-Martin Charcot, den Vater der Neurologie, die Frage, was die Lähmungserscheinungen, Zuckungen, Ohnmachten, das unvermittelte Zusammensacken, das wahnsinnige Gelächter und die dramatischen Tränenausbrüche der an Hysterie Erkrankten auf den Stationen der Salpêtrière auslöste. Nach und nach erfassten Charcot und seine Studenten, dass diese merkwürdigen Bewegungen und Körperhaltungen die physischen Hinterlassenschaften von Traumata waren.
1889 verfasste Charcots Student Pierre Janet das erste Buch zu dem, was wir heute Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nennen würden: L’automatisme psychologique.1 Darin argumentierte er, dass Traumata im Prozessgedächtnis abgespeichert würden – in automatischen Aktionen und Reaktionen, Empfindungen und Einstellungen – und dass das Trauma in Form instinktiver Empfindungen (Ängste und Panik), körperlicher Bewegungen oder visueller Bilder (Albträume und Flashbacks) immer wieder von Neuem durchgespielt und reinszeniert würde. Janet setzte das Thema Erinnerung beim Umgang mit Traumata an die erste und zentralste Stelle: Aus einem Ereignis wird nur dann ein Trauma, wenn überwältigende Emotionen eine angemessene Verarbeitung der Erinnerung stören. Danach reagieren Traumatisierte auf alles, was sie an das Trauma erinnert, mit Reaktionen, die eigentlich für Akutsituationen vorgesehen sind und bei der Konfrontation mit der ursprünglichen Bedrohung einmal sinnvoll waren, heute jedoch vollkommen unangebracht sind – sich etwa panisch unter den Tisch zu ducken, wenn ein Glas zu Boden fällt, oder einen Wutanfall zu bekommen, wenn ein Kind schreit.
Seit gut einem Jahrhundert verstehen wir, dass die Spuren von Traumata nicht in Form von Erzählungen über schlimme Vorfälle in der Vergangenheit gespeichert werden, sondern als körperliche Empfindungen, die wir wie eine unmittelbare Bedrohung für unser gegenwärtiges Leben erfahren. In der Zwischenzeit hat sich herauskristallisiert, dass der Unterschied zwischen gewöhnlichen Erinnerungen (Geschichten, die sich im Laufe der Zeit verändern und dann verblassen) und traumatischen Erinnerungen (wiederkehrende Körperempfindungen und Bewegungen, die von heftigen Emotionen der Angst, Scham, Wut und Resignation begleitet werden) auf den Zusammenbruch jener Hirnsysteme zurückgeht, die für die Erzeugung »autobiografischer Erinnerungen« zuständig sind.2
Zudem fiel Janet auf, dass Traumatisierte in der Vergangenheit stecken bleiben: Sie befassen sich geradezu zwanghaft mit dem Horror, den sie auf der bewussten Ebene hinter sich lassen wollen, erleben diesen aber weiterhin und verhalten sich, als bestünde er noch immer. Da sie außerstande sind, das Trauma in die Vergangenheit zu verweisen, erfordert es ihre gesamte Energie, die eigenen Emotionen in Schach zu halten. Der Preis dafür ist zu wenig Aufmerksamkeit für das, was die Gegenwart verlangt. Janet und seine Kollegen lernten aus bitterer Erfahrung, dass die ihnen anvertrauten traumatisierten Frauen weder vernünftigen Argumenten zugänglich waren, noch mit Einsicht, Verhaltensänderungen oder Bestrafung zu kurieren waren. Allerdings sprachen sie auf hypnotische Suggestion an: Zur Traumalösung kam es durch erneutes Durchleben des Geschehenen in einem hypnotischen Trancezustand. Dadurch, dass die Frauen die zurückliegenden Erlebnisse noch einmal (nur dieses Mal ohne damit verbundene Gefahr) durchspielten und dann in ihrer Fantasie einen befriedigenden Ausgang konstruierten – etwas, das ihnen während des Originalereignisses nicht möglich gewesen war, da sie zu sehr von Hilflosigkeit, Angst und Entsetzen überwältigt gewesen waren –, konnten sie erst voll und ganz erkennen, dass sie das Trauma tatsächlich überlebt hatten. Und erst dann ging ihr Leben für sie weiter.
Als ich Peter Levine vor etwa 25 Jahren zum ersten Mal begegnete, dachte ich, die leibhaftige Reinkarnation eines der alten Magier vor mir zu haben, deren Wirken mir von meiner Beschäftigung mit den verstaubten Manuskripten, die ich stapelweise in alten Krankenhausbibliotheken fand, so vertraut war. Nur dass Peter, wie er auf dem Rasen des Esalen-Instituts im kalifornischen Big Sur stand, statt Halsbinde und Gehrock, wie sie die Herren auf den frühen Fotografien trugen, ein Bob-Marley-T-Shirt und Shorts anhatte. Peter zeigte unverkennbar, wie umfassend er verstand, dass Traumata ihre Spuren im Körper hinterlassen. Ferner demonstrierte er, dass die Heilung solcher Traumata nach einem geschützten Trancezustand verlangt, aus dem heraus die grauenvolle Vergangenheit gefahrlos beobachtet werden kann. Und er fügte noch das entscheidende Element hinzu: die subtilen physischen Spuren von Traumata zu erkunden und das erneute Zusammenbringen von Körper und Geist in den Blickpunkt zu rücken.
Seine Beobachtungen schlugen mich sofort in ihren Bann. Von den frühesten Erforschern traumatischer Belastungen bis zu den Vertretern der neuesten Neurowissenschaft konstatierten Wissenschaftler immer wieder die alles entscheidende Beziehung zwischen körperlicher Aktivität und Erinnerung. Traumatisch wird Erlebtes dann, wenn der menschliche Organismus davon überwältigt wird und mit Hilflosigkeit und Lähmung reagiert. Wenn man absolut nichts tun kann, um etwas am Ausgang von Ereignissen zu ändern, bricht das gesamte System zusammen. Selbst Sigmund Freud war fasziniert von der Beziehung zwischen Trauma und physischer Aktion. Nach seiner Theorie wiederholten Menschen alte Traumata deshalb, weil sie sich nicht vollständig an das Geschehene erinnern konnten. Da die Erinnerung verdrängt wird, ist der Patient »vielmehr genötigt, das Verdrängte als gegenwärtiges Erlebnis zu wiederholen, anstatt es, wie der Arzt es lieber sähe, als ein Stück der Vergangenheit zu erinnern«3. Wenn jemand sich nicht erinnert, wird er wahrscheinlich ausagieren: »… so dürfen wir sagen, der Analysierte erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt. … man versteht endlich, dies ist seine Art zu erinnern.«4 Was Freud jedoch nicht erkannte, war, dass Menschen nur dann wieder ihrer selbst Herr werden, wenn man ihnen hilft, sich in ihrem eigenen Inneren geborgen und ruhig zu fühlen.
Peter verstand, dass der Weg zur Traumalösung über die Bewältigung von Lähmung und Aufruhr körperlicher Art und die Auseinandersetzung mit der erfahrenen Hilflosigkeit führt. Ihm war klar, dass es darum geht, auf die eine oder andere Art körperlich aktiv zu werden, um das Heft des eigenen Lebens wieder in die Hand zu nehmen. Allein schon von dem Erlebten zu berichten, ist eine wirksame Maßnahme. Durch sie entsteht ein Narrativ, eine erzählte Geschichte, die uns selbst und den Menschen in unserer Umgebung hilft, das Geschehene zu verstehen. Leider bleiben zahllose Traumatisierte in ihrem Trauma stecken und haben nie die Chance, dieses so wichtige Narrativ zu entwickeln.
Als ich Peter besser kennenlernte, wurde mir mehr und mehr klar, wie gut er die kritische Rolle körperlicher Empfindungen und körperlicher Aktivität verstand. Er zeigte auf, dass posttraumatisches Handeln sich nicht nur in krassen Verhaltensformen äußert wie etwa der, bei der kleinsten Kränkung zu explodieren oder bei Angst wie gelähmt zu reagieren. Vielmehr zeigt es sich auch in einem kaum merklichen Luftanhalten, in Muskelanspannung oder in der Kontraktion des Schließmuskels. Er zeigte mir, dass der gesamte Organismus – Körper, Geist und Seele – sozusagen im Trauma stecken bleibt und sich weiterhin so verhält, als bestünde eindeutig eine gegenwärtige Gefahr.
Peter Levine absolvierte ursprünglich eine neurophysiologische Ausbildung und erlernte dann am Esalen-Institut Körperarbeit bei Ida Rolf. Als ich ihm bei der Ausübung seines Handwerks zusehen konnte, erinnerte er mich an Moshé Feldenkrais, der behauptete, es gäbe keine rein psychischen (das heißt geistigen) Erfahrungen: »Die Vorstellung von zwei Leben, einem somatischen und einem psychischen, hat … sich überlebt.«5 Unsere subjektive Erfahrung weist stets eine körperliche Komponente auf, ebenso wie alle sogenannten körperlichen Erfahrungen eine mentale Komponente haben.
Die Programmierung unseres Gehirns basiert auf mentalen Erfahrungen, die sich körperlich ausdrücken. Und Emotionen teilen sich in Mimik und Körperhaltung mit. Wut wird durch geballte Fäuste und zusammengebissene Zähne erlebt. Angst wurzelt in angespannter Muskulatur und flacher Atmung. Gedanken und Emotionen werden von Veränderungen des Muskeltonus begleitet, und um gewohnheitsmäßige Muster zu durchbrechen, heißt es, etwas an den somatischen Feedbackschleifen zu verändern, die Körperempfindungen, Gedanken, Erinnerungen und Handlungen verbinden. Die primäre Aufgabe von Therapie besteht dann darin, diese somatischen Veränderungen zu beobachten und aufzugreifen.
In meiner Studienzeit an der University of Chicago versuchte Eugene Gendlin mir etwas über den Felt Sense zu vermitteln – das Gewahrsein unserer selbst und des Raums zwischen Gedanke und Handlung. Was es jedoch mit diesem Felt Sense auf sich hatte, konnte ich erst voll und ganz...