|17|Kapitel 2
Manual zur Intervention
2.1 Einordnung „Mein Weg“: Gestuftes Versorgungsmodell
Aktuell erhalten nur wenige der zum Teil schwer traumatisierten minderjährigen Flüchtlinge psychologische Hilfe. Grund dafür sind verschiedene Barrieren, welche einer adäquaten Behandlung entgegenstehen. Einerseits handelt es sich hierbei um strukturelle Barrieren wie das Fehlen von migrationsspezifischen Angeboten, ungünstige gesetzliche Bedingungen für Asylbewerber mit unsicherem Aufenthaltsstatus, lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz oder die geringe Verfügbarkeit muttersprachlicher Therapeuten. Andererseits gibt es auch auf Seiten der Betroffenen Barrieren wie unzureichende Sprachkenntnisse, das Fehlen eines subjektiven Krankheitskonzeptes, Angst vor Stigmatisierung, mangelnde Kenntnisse über das deutsche Gesundheitssystem und Psychotherapie generell, sowie eine negative Einstellung gegenüber psychosozialen Behandlungen. Die Entwicklung weiterer (ökonomischer) Behandlungsmethoden, welche diese Barrieren überwinden, ist somit unbedingt notwendig.
Aufgrund der Vielzahl der Barrieren und der unterschiedlichen Bedürfnisse von Flüchtlingen empfehlen verschiedene Forschergruppen im deutschsprachigen Raum gestufte Versorgungsmodelle (engl. „stepped and collaborative care model“; Elbert, Wilker, Schauer & Neuner, 2017; Schneider, Bajbouj & Heinz, 2017). Einzelne Komponenten werden in der untenstehenden Abbildung 3 dargestellt. Die Grundidee dieser Versorgungsmodelle ist, in einem Umfeld mit limitierten Ressourcen (z. B. zu wenige Therapieplätze) Versorgungsangebote partizipativ, kultursensibel und bedarfsgerecht anzubieten. Jedes Individuum soll letztendlich das Hilfsangebot erhalten, das seinen aktuellen Bedürfnissen am besten entspricht. Hilfsbedürftige Menschen werden zunächst mit den üblichen Behandlungsangeboten versorgt und nur bei fehlender Wirksamkeit dieser Maßnahmen wird eine intensive, psychotherapeutische Behandlung initiiert.
Abbildung 3: Darstellung eines gestuften Versorgungsmodells für Flüchtlinge, angelehnt an Schneider et al. (2017)
|18|Die pädagogische traumafokussierte Gruppenintervention „Mein Weg“ kann als eine Komponente in solch einem gestuften Versorgungsmodell für junge Flüchtlinge betrachtet werden. Die Intervention ist in diesem Modell als ein spezialisiertes Angebot (traumafokussiert) für junge Flüchtlinge mit mild-moderater Stresssymptomatik einzuordnen und wird durch Pädagogen durchgeführt. „Mein Weg“ kann somit auch der Türöffner für eine Einzelintervention (z. B. Traumatherapie) sein und als mögliche Vorstufe einer psychotherapeutischen Behandlung durchgeführt werden.
2.2 Das Rational der Intervention „Mein Weg“
Die Ziele der traumafokussierten Gruppenintervention „Mein Weg“ sind zum einen die Reduktion der posttraumatischen und depressiven Stresssymptomatik und zum anderen eine tiefgreifende Weiterbildung und Befähigung der Pädagogen (Jugendhilfemitarbeiter, Lehrer) im Umgang mit traumatisierten jungen Flüchtlingen. Die Inhalte der Intervention wurden von der evidenzbasierten Traumatherapie TF-KVT und allgemeinen Wirkfaktoren in der PTBS-Behandlung (vgl. Kapitel 1.3) abgeleitet und an die Zielgruppe „(unbegleitete) junge Flüchtlinge“ sprachlich sowie kulturell angepasst. Des Weiteren wurden die Komponenten an ein Gruppenformat adaptiert, was Vorteile gegenüber dem Einzelsetting mitbringt (vgl. Kapitel 1.3). Gerade im Jugendalter spielen Peers (Gleichaltrige) eine wichtige Rolle, besonders wenn diese einen ähnlichen kulturellen und sozioökonomischen Hintergrund haben. Die Gruppendynamik ist somit ein sehr wichtiger Wirkfaktor der hier dargestellten Intervention. Aufgrund der häufigen Wohnortwechsel der Jugendlichen und der oftmals unsicheren Bleibeperspektive haben die Autoren die Intervention ganz bewusst als ein kurzzeitiges und abgeschlossenes Konzept entwickelt. Jeder Teilnehmende soll die Möglichkeit haben, an allen Terminen teilzunehmen. Die Hauptkomponenten der insgesamt sechs Sitzungen, die in sechs bis acht Wochen durchgeführt werden, umfassen Psychoedukation, Entspannung, das Traumanarrativ (graduierte Exposition/Konfrontation) und kognitive Umstrukturierung. Das „Herzstück“ der Intervention ist das Traumanarrativ, die graduierte Exposition mit den Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse, welches über vier Sitzungen hinweg bearbeitet wird. Es wird dringend empfohlen die Intervention mit allen Modulen und Sitzungen in der im Manual angegebenen Reihenfolge durchzuführen, da die Inhalte stark aufeinander aufbauen. Die Sitzungen sind zeitlich chronologisch aufgebaut, beginnend mit dem Leben im Heimatland und abschließend mit einem Blick in die Zukunft. Lediglich die Inhalte von Sitzung 1 (Psychoedukation und Entspannung) könnten auch unabhängig verwendet werden. Das Rational der einzelnen Komponenten und Sitzungen ist in Kapitel 2.6.3 und vor der jeweiligen Sitzung detailliert beschrieben. Die Inhalte werden anhand verschiedener Materialien (Workbooks, Karten, Gefühlskärtchen, etc.) vermittelt, welche an der entsprechenden Stelle im Manual eingeführt werden.
Die Gruppenintervention wurde vor dem Hintergrund individueller und kultureller Unterschiede sowie möglicher sprachlicher Barrieren der Teilnehmenden entwickelt. Deshalb sind die Inhalte meist ohne differenzierte Deutschkenntnisse durchführbar. Zum Sitzungsinhalt passende Grafiken (s. Psychoedukation oder Bauchatmung) sowie die Möglichkeit, Teile der Intervention in der eigenen Sprache zu bearbeiten (z. B. Einzelarbeit im Narrativ), erleichtern die Durchführung zusätzlich.
Die Gruppenintervention „Mein Weg“ wurde speziell für (unbegleitete) junge Flüchtlinge von 13 bis 21 Jahren mit milden bis moderaten posttraumatischen Belastungssymptomen in Jugendhilfeeinrichtungen (und Schulen) entwickelt und evaluiert. Die Intervention hat sich bislang in folgendem Zeitfenster bewährt: Die Flüchtlinge sind zu Interventionsbeginn bereits seit sechs Monaten in Deutschland (Stabilisierung, Gewöhnung an Deutschland, grundlegende Deutschkenntnisse vorhanden). Außerdem können sie noch weitere drei Monate in der jeweiligen Einrichtung verbleiben und, wenn möglich, ist eine sichere Bleibeperspektive für die folgenden drei Monate in Aussicht.
Die Intervention kann auch mit begleiteten jungen Flüchtlingen durchgeführt werden sowie mit an die Jugendhilfe angebundenen jungen Flüchtlingen, die in einer Gemeinschaftsunterkunft leben. Man sollte hier aber auch die Besonderheiten im Alltag berücksichtigen (z. B. wenige bis keine Rückzugsmöglichkeiten). Die Intervention kann nicht mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund durchgeführt werden, da besonders die Narrativ-Teile migrations-spezifisch sind.
Eine Limitation der Intervention ist, dass die Thematik „Asylverfahren“ nicht speziell in einem dezidierten Modul thematisiert wird. Handlungsmöglichkeiten der Gruppenleiter zum Umgang mit belasteten Teilnehmern aufgrund ihrer unsicheren Bleibeperspektive oder des Erhalts eines Abschiebungsbescheides, werden nur kurz an verschiedenen Stellen im Manual adressiert. Der Fokus von „Mein Weg“ liegt auf der Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen und nicht auf dem Umgang mit dem Asylverfahren. |19|Bei hoher Belastung aufgrund aktueller Stressfaktoren, die ein narratives Arbeiten nicht möglich machen, sollte über eine Vorstellung bei einem Kinder- und Jugendpsychiater/Psychotherapeuten oder in einer Beratungsstelle nachgedacht werden.
2.3 Allgemeine Anwendungshinweise
Die Inhalte des Manuals basieren auf langjähriger Erfahrung sowohl in der (Trauma-)Therapie als auch in niedrigschwelligen traumafokussierten Gruppeninterventionen und umfassen die wesentlichen notwendigen Informationen zur Durchführung der Intervention „Mein Weg“. Nach den allgemeinen Anwendungshinweisen wird jede einzelne Sitzung in drei Schritten detailliert dargestellt:
- (1)
Rational der Sitzung
- (2)
Durchführung mit den jeweils relevanten Materialien
- (3)
Mögliche Schwierigkeiten und Tipps
Die Intervention wird bereits seit drei Jahren in verschiedenen Jugendhilfeeinrichtungen implementiert und evaluiert (vgl. Kapitel 3). Die Autoren haben mit ihrem Team somit bereits mehr als 38 Gruppen begleitet und mehr als 86 Gruppenleiter geschult und supervidiert. Die bisherigen Erfahrungen mit der Intervention wurden in dieses Manual...