Suse Z. – eine betroffene Lehrerin
Suse Z. kommt gut erholt und motiviert aus den Sommerferien. Sie hat in den Ferien einiges gelesen und in der letzten Ferienwoche auch ein Seminar zu innovativen Unterrichtsformen besucht. Seit dem ersten Schultag hat sie einen neuen Schüler in ihrer dritten Klasse. Fritz ist mit seinen Eltern aus einer anderen Großstadt zugezogen. Die erste Woche mit ihm läuft recht gut. Ein netter Junge. Fritz versucht, sich zu orientieren, und meldet sich sogar schon einige Male im Unterricht. In dieser Stunde steht Sachunterricht auf dem Stundenplan. Die Schüler arbeiten an ihren Arbeitsplänen. Die Klasse ist bereits recht geübt in dieser Arbeitsform, sodass nach einer kurzen Einweisungsphase alle mit der Arbeit beginnen. Auch Fritz nimmt sich seinen Arbeitsplan.
Suse Z. geht herum, hilft verschiedenen Schülern und kommt schließlich auch zu Fritz, um zu gucken, wie er mit dem Plan zurechtkommt. Sie hockt sich neben seinen Tisch, um sein weiteres Vorgehen zu besprechen. Plötzlich springt Fritz auf, schreit und wirft seinen Tisch um. Der Tisch fällt gegen Anna, die vor ihm sitzt. Sie und der Rest der Klasse schreien nun ebenfalls erschrocken auf. Anna weint und hält sich schmerzverzerrt den Rücken. Fritz läuft blitzschnell quer durch den Raum und schließlich aus der Klasse heraus. Suse Z. guckt, ob Anna ernsthaft verletzt ist. Dies ist nicht der Fall. Sie bittet die Mitschüler, sich um Anna zu kümmern und die Kollegin der Nachbarklasse zu informieren. Dann läuft sie los, um Fritz zu suchen. Er ist weder im Schulgebäude noch auf dem Schulhof zu finden. Schließlich gibt Suse Z. auf, bittet das Sekretariat um Hilfe und geht in die Klasse zurück. Zehn Minuten später kommt der Hausmeister mit einem verstörten Fritz in den Klassenraum. Der Junge ist leichenblass, zittert und hat einen eigenartig abwesenden Gesichtsausdruck. Der Hausmeister hat Fritz hinter den Mülltonnen kauernd gefunden.
Was ist passiert? Fritz ist ein traumatisiertes Kind und hatte, ausgelöst durch das neue Parfüm der Lehrerin, einen Flashback.
Flashbacks sind unvermittelt aufblitzende Wahrnehmungserinnerungen aus als traumatisierend wahrgenommenen Situationen in der Vergangenheit. Sie können durch Reize/Trigger wie Bilder, Gerüche, Stimmen, Melodien usw. ausgelöst werden. Flashbacks können die gleichen stark belastenden Emotionen auslösen wie das eigentliche Trauma, das beispielsweise durch die Trennung von den leiblichen Eltern, durch Misshandlungen oder im Krieg / auf der Flucht Erlebtes hervorgerufen wurde.
Sie können dafür sorgen, dass die betroffene Person erstarrt, wegläuft oder aggressiv reagiert und das tut, was sie damals in der bedrohlichen Situation nicht tun konnte.
Flashbacks tauchen unterschiedlich häufig und zunächst immer unerwartet auf. Kennt man den betreffenden Schüler etwas länger, so wird man kritische Situationen eher ausmachen und erkennen können. Diese gilt es dann zu meiden. Aber ähnlich wie etwa bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten ist ist es nicht einfach herauszufinden, welcher Reiz den Flashback auslöst.
Was kann Suse Z. tun, damit es möglichst selten zu ähnlichen oder andersgearteten Vorfällen mit Fritz kommt? Was kann sie tun, um Fritz vor Flashbacks zu schützen? Wie sollte sie bei auftretenden Flashbacks mit Fritz umgehen? Wie kann sie die Mitschüler schützen und stärken, indem sie ihnen Erklärungsmodelle für Fritz’ Verhalten an die Hand gibt und Ablaufpläne für den Krisenfall einübt?
Fritz, Daniel und Moarmas – drei traumatisierte Schüler
Fritz könnte auch Daniel oder Moarmas heißen. Die drei Schüler haben gemeinsam, dass sie eine Traumatisierung erlitten haben und dass sie währenddessen dem Parfüm ausgesetzt waren, das Suse Z. trägt. Folgende ansonsten sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten sind denkbar:
Fritz ist ein Adoptivkind. Seine leibliche Mutter war zum Zeitpunkt der Geburt gerade volljährig geworden. Sie zog in der Endphase der Schwangerschaft mit dem Vater von Fritz zusammen. Zunächst versuchten die jungen Eltern, Fritz selbst zu versorgen. Die Großeltern unterstützten sie dabei. Aber es kam immer häufiger zum Streit und infolgedessen zum Kontaktabbruch mit den Großeltern. Aufgrund der Überforderung der jungen Eltern lag Fritz viel und lange alleine in seinem Bett im Kinderzimmer. Auf sein Schreien wurde nicht immer reagiert. Die Mutter benutzte das gleiche Parfüm wie Suse Z. Ob er regelmäßig mit Nahrung versorgt wurde, ist unklar. Leichte Anzeichen von Unterernährung kann der Kinderarzt später feststellen. Nach mehreren Hinweisen aus der Nachbarschaft auf langes und anhaltendes Schreien des Säuglings greift das Jugendamt ein und bringt Fritz in einer Pflegefamilie unter. Nach acht Wochen ist dann eine Adoptivfamilie gefunden. Fritz zieht im Alter von sieben Monaten zu Familie Schulz.
Daniel ist das zweite Kind seiner Mutter. Beide Kinder haben verschiedene Väter. Inzwischen hat sich die Mutter einen neuen Lebensgefährten gesucht. Dieser neigt zu Gewalt, wenn er alkoholisiert ist. Dies kommt leider immer öfter vor. Die Nachbarn rufen mehrfach wegen lauter Streitereien und Schreie in der Wohnung die Polizei. Nach dem letzten großen Streit, bei dem der Partner seine Freundin auch schlug, nehmen die Polizisten Daniel und seinen Bruder gleich mit und bringen beide ins Kinderschutzhaus. Die Polizistin, die sich um die Kinder kümmert und sie ins Kinderschutzhaus bringt, benutzt das gleiche Parfüm wie Suse Z. Da die Mutter und ihr Partner in Zukunft eng mit dem Jugendamt zusammenarbeiten wollen, dürfen die Kinder nach drei Wochen wieder zurück nach Hause. Bisher hat es keine Anrufe von Nachbarn mehr bei der Polizei gegeben. Daniel ist jedoch recht schreckhaft, kann sich nur schwer länger auf eine Arbeit konzentrieren und scheint ständig „unter Strom zu stehen“.
Moarmas ist mit seiner Familie nach Deutschland geflüchtet. Beide Eltern haben im Heimatland studiert. Allerdings konnten sie aufgrund des Krieges in ihrem Land noch keine Berufserfahrung sammeln. Moarmas ist in seinem Heimatland bis kurz vor der Flucht zur Schule gegangen. Die junge Familie möchte in Deutschland ein neues Leben beginnen. Derzeit läuft ihr Asylantrag und hat gute Chancen, genehmigt zu werden. Moarmas hat miterlebt, dass das Nachbarhaus von einer Bombe getroffen wurde. Es gab einen sehr lauten Knall, Menschen schrien und rannten aus dem Haus, es brannte sofort lichterloh. Die Oma war zum Zeitpunkt des Bombeneinschlags mit Moarmas und seinem kleinen Bruder zu Hause. Sie hatte das gleiche Parfüm wie Suse Z.
Die Beispiele zeigen, wie traumatisierende Ereignisse aussehen können und wie „eigentlich“ ganz neutrale und harmlose Reize später (etwa bei der Hilfestellung im Unterricht wahrgenommen) Flashbacks auslösen können. In fast jeder Klasse sitzt inzwischen ein traumatisiertes Kind. Nicht immer sind es Pflege- oder Adoptivkinder, häufig auch Kinder aus problembelasteten Familien oder, sehr aktuell, Flüchtlingskinder. Traumatisierte Kinder sprengen mit ihrem auffälligen und manchmal seltsam anmutenden Verhalten nicht selten den Unterricht.
Derzeit gibt es auf dem deutschen Markt zu diesem Thema so gut wie keine Literatur. Diese Lücke möchte ich mit diesem Buch schließen. In meiner langjährigen Beratungs- und Seminartätigkeit zum Thema „Trauma und Schule“ mit Pflege- und Adoptiveltern entstand die Idee, dieses Thema auch für Lehrkräfte aufzuarbeiten. Denn sie sind es, die, neben den Familien, mit den tagtäglichen Herausforderungen dieser Schüler in Schule und Unterricht umgehen müssen.
Traumatisierte Schüler reagieren auf nicht sichtbare und nicht nachvollziehbare Auslöser teilweise sehr heftig. Ihre Alarmbereitschaft ist oft permanent erhöht. Konzentrationsstörungen, dissoziative Zustände und eine Beeinträchtigung der Beziehungsfähigkeit können die Folge von erlebten Traumata sein. Dies führt zu stark zurückgezogenem oder auch aggressivem Verhalten. Die teilweise großen schulischen Systeme, in denen häufige Raum-, Fächer- und Lehrerwechsel die Regel sind, irritieren diese Schüler zusätzlich. Sie kommen nicht zur Ruhe und damit auch nur schwer ins Lernen. Positive Lernerfahrungen jedoch stärken das Selbstwertgefühl und damit die Fähigkeit, das Trauma zu überwinden.
Traumatisierte Kinder sind eine große Herausforderung für jede Lehrkraft. Erkenntnisse aus der Hirn- und Traumaforschung können helfen, die Verhaltensweisen dieser Kinder zu verstehen, und damit Lehrkräften Unterstützung für den Schulalltag geben. Lehrkräfte fühlen sich häufig überfordert. Es fehlt ihnen das nötige Fachwissen über die Entstehung und die Folgen von Traumata.
- Ab wann spricht man bei einem einschneidenden Erlebnis von einem Trauma?
- Warum kontrolliert das Erlebte bis heute, oft viele Jahre später, die Gedanken und Gefühle des Betroffenen?
Mit dem entsprechenden psychologischen und pädagogischen Handwerkszeug jedoch kann ein verantwortungsvoller Umgang mit traumatisierten Kindern gelingen. Es geht darum, den Lehrkräften Strategien des Umgangs mit Traumafolgestörungen aufzuzeigen.
- Worauf muss ich achten? Was muss ich mindestens tun?
- Was ist zu vermeiden, damit den Kindern nicht zusätzlich geschadet wird? Wie werde ich den anderen Kindern gerecht?
- Welche Erfahrungen und Situationen ermöglichen es den Schülern,...