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Trennungsfamilien - lösungsorientierte Begutachtung und gerichtsnahe Beratung

AutorJörg Fichtner
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl229 Seiten
ISBN9783844425178
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Scheidung und Trennung stellen für Eltern und Kinder fast immer eine belastende Situation dar. Dieser Band stellt vor, wie bei der Begutachtung und Beratung von Trennungsfamilien, auch bei solchen mit hoher Konflikthaftigkeit, die Nachscheidungsregelungen in Bezug auf die Kinder mit einem lösungsorientierten Ansatz erarbeitet werden können. Aus einer systemischen Sichtweise heraus werden zunächst der Wandel der Familie und gesellschaftlicher Vorstellungen in den letzten Jahrzehnten betrachtet, familiengerichtliche Streitgegenstände vor dem Hintergrund aktueller psychologischer Forschung diskutiert und die Rolle von Psychologie im Familienrecht kritisch analysiert. Anschließend wird ein Interventionsmodell bei hochkonflikthaften Eltern vorgestellt, das den Ansatz einer lösungsorientierten Begutachtung und gerichtsnahen Beratung verfolgt. Praxisbezogen vermitteln die weiteren Kapitel, wie die Kinder und weitere betroffene Familienmitglieder einbezogen und mit den Eltern die zentralen Fragen der Umgangs- und Sorgerechtsregelung geklärt und geregelt werden können. Für Personen, die gutachterlich und beratend mit Scheidungs- und Trennungsfamilien arbeiten, bietet dieser Band wertvolle Hilfen für die tägliche Arbeit.

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Leseprobe

|7|2 Wandel der Familie und Veränderungen des Familienrechts


2.1 Individualisierung, Pluralisierung und Planungszumutung


Selbstverständlich sind Trennungen von (Ehe-)Partnern, gerade im Beratungsprozess, zunächst als individuelle Krisen zu sehen, die in aller Regel mit Enttäuschungen und Erschütterungen bei beiden Partnern einhergehen. Vom großen, meist aus Liebe entstandenen, Projekt einer gemeinsamen Familiengründung ist häufig nur noch der Wunsch geblieben, endlich Ruhe vom anderen zu haben und sein eigenes Leben leben zu können.

Doch gerade aus einer systemischen Perspektive sind Liebe, Partnerschaft, Ehe, Familie, aber auch Trennung, Scheidung, der Streit um Geld und Besitz und vor allem Auseinandersetzungen um die Kinder und um die Frage, was gut für diese sei, immer auch als individuelle Reaktionen auf gesellschaftliche Wertvorstellungen und deren Wandel zu sehen. Während noch vor 50 Jahren Ehe und Familie wie unerschütterliche Säulen der deutschen Gesellschaft schienen und die Scheidungsziffern so niedrig waren wie die Bereitschaft, den ewigen Ehebund leichtfertig zu lösen, wird es heute zunehmend begründungsbedürftig, warum man eine Ehe aufrechterhält, zu der offensichtlich bessere Alternativen bereitstehen. Der Hintergrund ist eine zunehmende Individualisierung, in der jeder sein Glück selbst in die Hand nehmen kann, aber vor allem auch muss. Bereits in den 80er Jahren formulierte der Soziologe Ulrich Beck die Entscheidungszumutung, mit der grundsätzlich jeder konfrontiert ist: „In der individualisierten Gesellschaft muss der Einzelne entsprechend bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen“ (Beck, 1986, S. 217). Arbeitsplätze, Berufe, Wohnorte, Residenzländer, Partnerschaften und auch Ehen sind nicht mehr auf Dauer angelegt, sondern können oder müssen neu gewählt werden, wenn die individuelle Bilanz nicht mehr stimmt. Lediglich in Bezug auf die Kinder besteht auch oder gerade in der individualisierten Gesellschaft sogar der zunehmend juristisch verbürgte Anspruch, diese Bindungen zumindest ein (Kinder-)Leben lang aufrechtzuerhalten. Ein wenig scheint es so, als ob der Gesetzgeber zunehmend dort für Kontinuität sorgen muss, wo das System oder die Institution „Familie“ diese schon längst nicht mehr garantieren kann.

|8|2.1.1 Tradition, Liebe und Pluralisierung von Familie

Unter den Stichworten „Pluralisierung“ oder „Krise der Familie“ werden bereits seit den 90er Jahren gesellschaftliche Veränderungen beschrieben, die den Bedeutungsverlust der traditionellen Kleinfamilie mit Kindern und einer eindeutigen Geschlechterrollenzuschreibung gegenüber anderen Partnerschaftsformen konstatieren. Alleinerziehenden, unverheirateten Paaren, kinderlosen Ehepaaren oder Singles wird seit den 90er Jahren eine Normalität zugesprochen, die für eine Generation davor noch undenkbar gewesen wäre. So konnten bereits Ende des letzten Jahrtausends gravierende Veränderungen seit den 60er Jahren festgestellt werden, die als Ausdifferenzierung privater Lebensformen im Allgemeinen und des familialen Zusammenlebens im Besonderen beschreibbar sind. Soziodemographisch ließ sich der Wandel festmachen an Geburtenrückgang, gesunkener Heiratshäufigkeit und steigenden Scheidungsziffern, die seitens der Familiensoziologie als „Attraktivitäts-, Stabilitäts- und Leistungsverluste des herkömmlicherweise einzigen Familientypus“ interpretiert wurden (Kaufmann, 1992, S. 400). Der traditionell selbstverständliche Zusammenhang von „Liebe – Ehe – Elternschaft – gemeinsame Haushaltsführung – exklusive Sexualität – Mann als Ernährer und Familienoberhaupt“ wurde unverbindlich und lockerte sich auf. Jede einzelne Komponente konnte negiert oder mit anderen kombiniert werden, ohne dass eine solche Lebensform ihre Realisierungsberechtigung verlor (Beck, 1990).

Grundlagen für diese Veränderungen bildetet das Zusammenspiel mehrerer Faktoren in den späten 60er Jahren: Im Anschluss an die wirtschaftliche Expansionsphase nach dem Zweiten Weltkrieg wurden finanzielle Abhängigkeiten von familialer Versorgung verringert; im Zuge der Bildungsexpansion wurden besonders Frauen besser ausgebildet und konnten stärker qualifizierte Berufstätigkeit als Alternative zur Mutterschaft in ihre Lebensplanung mit aufnehmen. Die Verbreitung der „Pille“ und die veränderten Vorstellungen von Sexualität durch den reformatorischen Aufbruch der Studentenbewegung entkoppelten Sexualität, Partnerschaft und Mutterschaft. Diese Erweiterungen des Handlungsspielraumes nutzte besonders die neue Frauenbewegung zur Infragestellung tradierter Geschlechterrollen. Biographien wurden damit individueller gestaltbar und die Familie verlor ihren Monopolanspruch in der Lebensplanung. Soziologisch ging mit diesem Bedeutungsverlust eine Deinstitutionalisierung von Ehe und Familie einher, was zu erhöhten Anforderungen an jeden Einzelnen führt, sein eigenes Familienmodell zu konstruieren. Lebensläufe wurden zu „Wahl- oder Bastelbiographien“ (vgl. Beck & Beck-Gernsheim, 1990), das Individuum wurde gezwungen, die eigene Identität selbst zu konstruieren, sich Normen zu setzen, die es selber (für sich) als richtig und angemessen einschätzt.

Allerdings verfügt die „traditionelle Familie“ und die damit verbundene Vorstellung von romantischer Liebe ohnehin über weniger Tradition, als das Mitte des letzten Jahrhunderts schien: Noch bis in die zweite Hälfte des 18. Jahr|9|hunderts galt in Alteuropa das „ganze Haus“ als wichtigste Institution, um eheliche, elterliche und haushaltliche Herrschaftsverhältnisse zu organisieren. Seine „Ganzheit“ erlangte es dadurch, dass der Mann des Hauses an allen drei Bereichen partizipierte: als Ehemann, als Vater und als Arbeitgeber. Die Vorstellung einer Kleinfamilie als Einheit von Vater, Mutter und Kind war darin genauso wenig enthalten wie Liebe als Grundlage (Burkart, 1997). Erst mit der Moderne wurde die Familie zur Liebeseinheit, die auf die Einheit von Vater, Mutter und Kind zielte. Und auch das Ideal der romantischen Liebe wird da erst zur Leitkategorie, fängt ab da an, alle anderen Formen von Beziehungen zu überstrahlen und definiert die Liebenden als ganz auf sich gegenseitig bezogen, auch sexuell (vgl. Tyrell, 1987). Allerdings waren „Liebesheiraten“ bis ins 19. Jahrhundert für eine Mehrheit tatsächlich nur ein Ideal. Tatsächlich war die Kleinfamilie in vielen Schichten aus wirtschaftlichen Gründen damals noch kaum zu realisieren. Erst eine Synthese zwischen Elementen des im 19. Jahrhunderts entstandenen bürgerlichen Familienideals mit dem lohnarbeitsabhängigen Familientypus im 20. Jahrhundert führte zu diesem verbreiteten Familienmodell, das bis in die 1960er Jahre an Bedeutung gewonnen hat (Kaufmann, 1992).

Aber ab der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts begann der Stern der romantisch-dyadischen Liebe schon wieder zu sinken: Die lebenslange, monogame Ehe verlor durch die studentische Familienkritik ihre Legitimität, ihre Monopolstellung, und wurde durch alternativer Vorstellungen von Lebensglück untergraben. Soziale Kontrolle gegenüber Abweichungen wie voreheliche Sexualität, Ehebruch, „wilde Ehen“ etc. findet kaum mehr statt. Damit verliert aber gleichzeitig die Institution der Familie das Monopol auf soziale Funktionen, die bislang nur durch sie erfüllt wurden. „Das Paket der alten Institution ist aufgeschnürt, die einzelnen Elemente sind gegebenenfalls isolierbar und für sich zugänglich, aber auch in verschiedenen Varianten kombinierbar … [und] sukzessive nacheinander wählbar“ (Tyrell, 1992, S. 155).

Die Gründe für diesen Wandel, die bis heute auch bei Trennung und Scheidungen mitspielen, sind verschieden. Fraglos stellt eine – zumindest partielle – Veränderung der Geschlechterverhältnisse einen Kernpunkt dar. Das lässt sich etwa an der gewandelten Zustimmung von Männern und Frauen zu Ehe und Familie illustrieren: Während in den 60er Jahren Ehe vor allem von Frauen noch mit Lebensglück aufgrund wenig verlockender Alternativen gleichgesetzt wurde, waren es in den 90er Jahren eher die Männer, die Ehe als Sinn ihres Lebens definierten. Damit war die Geschlechterfrage in den Paarbeziehungen angekommen, was manche Soziologen auch als Chance für Emanzipation innerhalb der Familie ...

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