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E-Book

Tschüss Deutschland

Aufzeichnungen eines Ausgewanderten

AutorHannes Stein
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783462302066
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Von einem, der auszog, die Fremde kennenzulernen ... Was kommt heraus, wenn einer der klügsten und komischsten Essayisten Deutschlands eine Greencard gewinnt? - Ein Glücksfall für den Leser. Denn der Autor braucht auf die alte Heimat keine Rücksicht mehr und auf die neue noch keine zu nehmen... Was passiert, wenn man aus Jux und Tollerei an der Verlosung einer Greencard teilnimmt, nichts mehr davon hört und die Sache irgendwann vergisst - dann aber aus heiterem Himmel einen Anruf bekommt, dass man einen amerikanischen Pass haben könne; freilich nur, wenn man auch wirklich auswandert?Die meisten würden ein wenig verdutzt dreinblicken, sich schütteln, freuen, mit der Anekdote schmücken - und zu Hause bleiben. Wer will schon wegen eines Zufalls seinen Job aufgeben, seine Freunde zurücklassen, die Wohnung auflösen und sein gesamtes Leben umkrempeln?Hannes Stein wollte. Vor drei Jahren ereilte ihn - übrigens mitten im Mittagsschlaf - das große Los. Der ohnehin als unerschrockener Schreiber bekannte Autor mutierte flugs zum furchtlosen Auswanderungsanfänger. Mittlerweile hat er eine Wohnung in Manhattan, und alles ist anders. Wirklich anders: Denn nichts von dem stimmte, was Stein über Amerika gelesen oder gehört hatte. Bzw.: Es stimmt nichts und es stimmt alles zugleich. Mit der unerschütterlichen Vorurteilslosigkeit des Ethnologen arbeitet sich Hannes Stein seither an seine neue Umwelt heran, lernt die Rituale des fremden Alltags (von wegen: modernstes Land der Welt!) kennen, begutachtet Extremformen amerikanischer Politik (den Wahltag Barack Obamas erlebt er ausgerechnet in Sarah Palins Alaska), erkundet als teilnehmender Beobachter Geschichte und Religion (u. a. bei den Mormonenfestspielen). Und macht dabei manch überraschende Entdeckung, auch über das, was er verlassen hat. Denn seine alte Heimat dient ihm immer wieder als Kontrastmittel und sorgt für Überraschungen aller Art.

Hannes Stein, geboren 1965 in München, aufgewachsen in Salzburg, lebt jetzt als Korrespondent für die Welt in New York. Er schrieb für die FAZ und den Spiegel. Im Sommer 2007 ist er nach Amerika ausgewandert. Bei Galiani Berlin erschienen von ihm die Romane »Der Komet« (2013), »Nach uns die Pinguine« (2017) und »Der Weltreporter«. Hannes Stein bloggt bei den Salonkolumnisten und ist Mitglied des amerikanischen PEN-Clubs.

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Leseprobe

Wie man einen Scheck ausfüllt

Dieses Kapitel schreibe ich ein Jahr später in meinem Arbeitszimmer in Brooklyn: Vor meinem Fenster liegt ein idyllischer, ein grüner Hinterhofgarten mit einem großen, blühenden Hibiskus und einer Schaukel für die Nachbarskinder – und ich schaue zwei amerikanischen Rieseneichhörnchen dabei zu, wie sie ihren Morgenspaziergang über mehrere Stromkabel unternehmen. Die Kabel hängen schwarz, schwer und schlaff zwischen zwei Masten, die nichts weiter als roh behauene Bäume ohne Rinde sind. Solche altertümlichen Strommasten sieht man überall in Amerika. Sie fielen mir schon vor Jahren in Georgia auf, als ich dort eine Freundin besuchte, danach traf ich die entwurzelten Bäume in Minnesota wieder, wo sie neben den schnurgeraden Straßen stumme Wacht hielten. Bei jedem schweren Unwetter knickt der Wind, das himmlische Kind, solche Masten mit leichter Hand um, dann fällt mal wieder der Strom aus. Das kommt in Amerika öfter vor. So wie man auf amerikanischen Straßen öfter mal einem Schlagloch begegnet; so wie amerikanische Rohrsysteme den Eindruck erwecken, sie seien vor mehreren Generationen zusammengeschraubt und seither nicht mehr gewartet worden.

In Amerika kann man in jedem Elektronikladen für einen Spottpreis einen hochmodernen Computer oder einen hervorragenden Flachbildschirm kaufen. Die bekannte Firma »Apple« wurde in einer kalifornischen Garage geboren. Die gleichfalls nicht ganz unberühmte Firma »Microsoft« hat ihren Hauptsitz im amerikanischen Bundesstaat Washington. Aber all dies täuscht, wie jeder schnell herausfindet, der sich – und sei es als Tourist – länger in diesem Land herumtreibt: Die moderne Technologie ist nur ein hauchdünner Firnis, darunter befindet sich eine charmant verschimmelte Infrastruktur, die noch aus der Steinzeit stammt.1

Ich muss gleich meine Elektrizitäts- und meine Gasrechnung bezahlen. Das erledige ich in Amerika per Scheck: Von Banküberweisungen oder Einzugsermächtigungen hat hierzulande noch kein Mensch je gehört. Als ich meinen ersten Scheck ausstellen sollte, war ich dermaßen hilflos, dass ich seufzend meinen Bruder anrief. Der war gerade amerikanischer Staatsbürger geworden, und so konnte er mir zum Glück weiterhelfen. »Unter ›Pay to the order of‹ musst du die Firma hinschreiben, die das Geld bekommt«, informierte er mich. »Das Datum notieren wir Amerikaner bekanntlich verkehrt herum: Monat, Tag, Jahr. ›Nine Eleven‹, du erinnerst dich doch? Hinter das Dollarzeichen schreibst du den Betrag, und zwar wie folgt: die Tausenderstelle, dann ein Komma – ein Komma, hörst du mich! –, dann den Restbetrag, dann einen Punkt – ja, einen Punkt! –, dann die Cents. Also zum Beispiel: $ 1,385.87. Okay? Den Dollarbetrag schreibst du auf der Zeile darunter aus, den Centbetrag als Bruchsumme dahinter, das heißt in unserem Beispiel: 87/100. Unter ›Memo‹ kommt die Nummer der Rechnung, die du grade bezahlst. Und MP gleich daneben ist, wie der gebildete Lateiner weiß, die Abkürzung für ›manu propria‹, dort kritzelst du deinen Friedrich Wilhelm hin, fertig.« Wahrscheinlich, dachte ich ehrfürchtig, lernen amerikanische Kinder das in der Schule.

Von der Post und anderen Nationalheiligtümern

Nachdem ich meine Schecks in ihre Umschläge getütet habe, trage ich sie mit zitternden Händen zur Post. Einmal die Straße hinunter bis zur Fußgängerampel, dann scharf rechts in die Fulton Street abgebogen, diese dann ein paar Minuten entlanggewandert, bis sie anfängt, sehr bunt und karibisch zu wirken – und ich stehe vor Adelphi Station in Brooklyn: dem örtlichen Postamt. Der Post eignet in Amerika etwas durchaus Mythisches. Da man dort so viele wichtige Dinge erledigt (man bezahlt nicht nur seine Rechnungen, sondern versendet auch Geld an ferne Verwandte oder beantragt seinen blauen amerikanischen Pass), würde umgehend die Zivilisation zusammenbrechen, wenn diese Institution ihre Pforten für immer schlösse. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Post hierzulande eine Chiffre für die Zivilisation schlechthin geworden ist.2 »Nicht Schnee noch Regen, weder Hitze noch Nachtdüsternis werden diese Kuriere davon abhalten, ihre vorgeschriebenen Runden schnell zu vollenden«, steht in Riesenlettern auf dem Portal des General Post Office von Manhattan, das wie ein Tempel wirkt, der dem Götterboten Hermes geweiht wurde.

Die drei dunklen Grazien, die in der Adelphi Station ihren Dienst abreißen, scheinen davon nichts zu ahnen. Übel gelaunt, meist Kaugummi kauend, sorgen sie dafür, dass die Schlange vor ihren drei Schaltern nicht zu kurz wird. Es gilt hier, bestimmte Rituale einzuhalten. Wünscht der Kunde Postwertzeichen zu erwerben, hat er den entsprechenden Betrag abgezählt bereitzuhalten und im richtigen Moment – den er gefälligst abzuwarten hat – unter der Panzerglasscheibe durchzuschieben, sonst riskiert er zumindest einen vernichtenden Blick. Nimmt der Kunde ein Paket in Empfang, muss er einen Ausweis zeigen; an der Wand steht aufgelistet, was als Ausweis taugt und was nicht. (Militärische Ausweispapiere etwa sind nicht zugelassen.) Wenn die Grazie das Paket, das der Kunde in Empfang zu nehmen wünscht, auf den Tresen wuchtet, muss der Kunde warten, bis sie auf ihrer Seite des Tresens ein Fenster aus schusssicherem Glas heruntergelassen hat; erst dann kann er auf seiner Seite des Tresens ein entsprechendes Fenster hochschieben und das Paket in die Arme schließen.

Neulich war die Schlange besonders lang und eine Kundin machte Rabatz. Aber natürlich pflaumte sie nicht die drei Grazien an – das wäre auch nicht ratsam gewesen –, sondern nahm sich stattdessen einen älteren Mann vor, der gerade bedient wurde und ihrer Meinung nach entschieden zu lang brauchte. »Kaufst du Sondermarken?«, fragte sie laut. »Mit Frank Sinatra drauf? Oder mit Bing Crosby? Oder der gottverdammten Barbra Streisand?« Die Kundin war nicht mehr ganz jung, nicht mehr ganz schlank, und schwarz. Sie trug Trainingshosen. Der Mann ließ sich nicht beirren. Auf dem Weg nach draußen nahm er sich Zeit, vor ihr stehen zu bleiben; er grinste übers ganze Gesicht und sagte: »Schönes neues Jahr auch.« Ungefähr eine halbe Stunde später war die Trainingshosenfrau an der Reihe. Breitbeinig pflanzte sie sich vor ihrem Schalter auf. »Ich will Sondermarken!«, donnerte sie. »Habt ihr Frank Sinatra? Nein? Barbra Streisand? Auch nicht? Aber Martin Luther King! Den muss es doch geben!« Dann fehlte ihr exakt ein Dollar für ihre Transaktion. Jemand aus der Schlange lieh ihn ihr.

Fahrenheit, Dollars und arme Ritter

Ach ja, die Post! Mit ihr ist der Gipfel der Altertümlichkeit indes noch lange nicht erklommen. Heute Nachmittag fahre ich mit der Eisenbahn nach New Jersey, und ich weiß schon jetzt, was mich im Zug erwarten wird: ein Schaffner, der korrekt in eine eckige blaue Uniform mit Mütze gekleidet ist, vielleicht wird sein Gesicht sogar von einem weißen Bart gerahmt sein. Ein Bilderbuchbeamter, eine Erscheinung wie aus Kindertagen; am liebsten würde man ihn mit »Herr Oberschaffner« anreden. Der Herr Oberschaffner wird meine Fahrkarte entgegennehmen, und dann wird er mit einem gewaltigen Eiseninstrument, das er am Gürtel trägt, etwas Erstaunliches tun – er wird meine Fahrkarte nach einem sehr komplizierten System lochen. So etwas hat man in Deutschland eigentlich seit der Kaiserzeit nicht mehr gesehen. Die Neue Welt erweist sich dem Einwanderer – wie seltsam, wie paradox – als eine sehr alte Welt.

– Altmodisch die Maße und Gewichte: Unzen, Fuß, Zoll, Meilen, Gallonen.

– Altmodisch die Temperaturskala des Daniel Gabriel Fahrenheit, die geradewegs aus dem achtzehnten Jahrhundert stammt und jeder Vernunft frech ins Gesicht lacht: Fahrenheit bestimmte den Nullpunkt seiner Skala nach einem ganz besonders strengen Winter, den er 1708 in seiner Heimatstadt Danzig erlebt hatte. Mithilfe einer Mischung von Eis, Wasser und Salmiak ließ er ihn in seinem ...

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