Der Weg von #FreeInterrail begann in einem Wiener Schnitzelrestaurant. Wir waren damals auf Interrailreise unterwegs – ein Forschungsprojekt für die Stiftung Mercator und die Heinrich-Böll-Stiftung. In der schönen österreichischen Hauptstadt hatten wir das Glück, mit Robert Menasse (zu dem wir über die Stiftung Mercator, die unsere Reise förderte, einen Kontakt bekamen) zu Abend zu essen. In einem seiner Lieblingsrestaurants im Zweiten Bezirk tauschten wir uns über Europa und seine Bürger aus.
In den Wochen vor dem Abendessen hatten wir nicht weniger als elf europäische Länder besucht, junge Menschen getroffen und von ihren Sorgen und Hoffnungen erfahren, wir hatten viel gelernt, tolle Speisen gegessen und Europa von seiner besten Seite erlebt: vielfältig und einladend. Es war nicht übertrieben, als wir Robert Menasse erzählten, dass die Reise unsere Perspektive auf Europa grundlegend verändert hatte. Europa war lebendig geworden durch den persönlichen Kontakt mit dem Studenten in Sofia, der Aktivistin in Stockholm, dem Soziologieprofessor in Neapel, den Jobsuchenden in Athen und der Grenzpolizistin in der Türkei. Etwas, das wir vorher nur in der Theorie begriffen hatten, wurde plötzlich in einer praktischen Erfahrung bestätigt. Europa ist ein Kontinent voller Menschen unterschiedlichster Hintergründe, die aber alle zusammenkommen und die weitaus mehr eint, als dass es sie unterscheidet.
Dieser Enthusiasmus führte an diesem Tisch zu einer einfachen Frage: Wieso können nicht alle EU-Bürgerinnen und -Bürger die gleiche Erfahrung machen, die wir gerade machen durften? Wenn alle auf persönliche Weise erleben könnten, welch ein Geschenk der europäische Friedensprozess und die offenen Grenzen sind, würde dies nicht der politischen Union zu einem riesigen Sprung nach vorne verhelfen? Wir sind überzeugt: Europäerin und Europäer wird man nicht aus Theorie, sondern nur aus Erfahrung. Wie wäre es, wenn die Europäische Kommission allen jungen Europäern zum 18. Geburtstag Interrailtickets schenken würde? Der Gutschein für einen Ein-Monats-Interrailpass sollte per Post an alle jungen EU-Bürgerinnen und -Bürger gehen, zusammen mit einem Glückwunschschreiben und Informationen über die EU. Sechs Jahre Zeit sollten junge Menschen haben, um den Gutschein einzulösen.
Die Idee war einfach, aber vielleicht gerade deshalb interessant. Zunächst passierte damit aber nicht viel. Wir setzten unsere Reise fort, besuchten noch Polen und die Ukraine und kehrten nach Berlin zurück. Unser Interrail-Abenteuer war zu Ende, die Idee vom Wiener Abendbrottisch aber ließ uns nicht mehr los. Es dauerte über ein Jahr, bis wir den nächsten Schritt machten.
Im Sommer 2015 ging es der EU nicht gut. Die Griechenland-Schuldenkrise ließ Zweifel an der Einigkeit der EU-Mitgliedsländer aufkommen. Jugendarbeitslosigkeit, Staatsschulden und Kürzungen im Bildungssystem. Es brodelte nicht nur in Berlin und Athen. Die Idee der kostenlosen Interrailtickets für alle 18-Jährigen erschien uns mit einem Mal aktueller denn je. Wir begannen auf kleinen Veranstaltungen erstmals darüber zu sprechen. Im Rahmen einer Veranstaltung der Stiftung Mercator stellte Vincent während der Q&A dem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Frans Timmermans, die Idee vor. Frans Timmermans zeigte sich angetan.
Martin schrieb anschließend einen Artikel zur Idee für die Debattenplattform The European. Langsam kamen die Dinge ins Rollen. Politico Europe, eine der wichtigsten Nachrichtenquellen im politischen Brüssel, erwähnte den Vorschlag und das Gespräch mit dem Vizepräsidenten in seinem morgendlichen Newsletter (eine Information, die wir dem Newsportal zuvor zuspielten). Davon wiederum bekam der sozialdemokratische ungarische EU-Parlamentsabgeordnete István Uhjhelyi Wind und griff den Vorschlag in einer schriftlichen Anfrage an die Europäische Kommission auf. War die Idee vorher ein interessantes Gedankenexperiment gewesen, von dem uns aber von vielen Seiten immer wieder versichert wurde, der Vorschlag sei viel zu abstrus und unrealistisch, so spürten wir langsam, dass es doch einen gangbaren Weg zu einer Implementierung geben konnte. Davon motiviert, versuchten wir den nächsten größeren Wurf. Bei der Zeit-Redaktion in Hamburg wagten wir unser Glück und schickten einen Vorschlag für einen Gastbeitrag zu #FreeInterrail, wie wir die Sache nun nannten. Der Artikel wurde angenommen und kurze Zeit später in der gedruckten Ausgabe veröffentlicht. So wurden weitere Politiker und auch einfach mehr Menschen auf die Idee aufmerksam. Ohne es damals zu wissen, waren wir zu diesem Zeitpunkt schon tief in der Lobbyarbeit für unseren Vorschlag.
Die Sache begann richtig Spaß zu machen, und wir planten systematisch die nächsten Schritte. Wir bauten unseren Vorschlag aus und schrieben ein neunseitiges PDF mit Hintergrundinformationen, konkreten Vorschlägen zur Implementierung, zu Chancen- und Risikoabwägung und einem Kostenplan.
Bei der jährlichen Konferenz des Europäischen Forums Alpbach im August 2015 in Österreich (eine bemerkenswerte Veranstaltung inmitten der Berge) nutzte Vincent wieder die Q&A und fragte diesmal die damalige EU-Kommissarin für den Haushalt, Kristalina Georgiewa, was sie von dem Vorschlag halte. Ihre Antwort war zumindest offen, und sie zeigte sich interessiert. Als sich dann Vincent und die Kommissarin noch einmal auf dem Flur begegneten, tauschten sie ihre Visitenkarten aus, und sie bat uns, ihr unsere Präsentation zu schicken. Der erste Kontakt in die Europäische Kommission war damit hergestellt.
Wir schickten die Präsentation in den kommenden Wochen noch an weitere Personen in Brüssel, die uns nach einer ausgedehnten Google-Recherche relevant erschienen. Oft bekamen wir keine Antwort, aber ab und zu doch. Ein paar Monate später, Anfang 2016, waren wir nach langer Zeit mal wieder in Brüssel. In den Wochen davor hatten wir eine kleine erste Gruppe an interessierten Abgeordneten im EU-Parlament identifiziert, die wir nun alle persönlich trafen. Die Web-Auftritte der EU-Institutionen sind hervorragende Ressourcen, um herauszufinden, wer wo arbeitet und ein potenziell spannender Gesprächspartner sein kann. Darunter waren die Grünen-Abgeordneten Rebecca Harms und Michael Cramer, die Liberale Gesine Meißner und der Sozialdemokrat István Uhjhelyi. Es zeichnete sich schnell ab, dass die Abgeordneten bereit waren, einen Pilotprojektantrag für das nächste Jahr einzubringen. All dies war in weniger als einem Jahr geschehen.
Leider wurden die Pilotprojektvorschläge in den zuständigen Ausschüssen abgelehnt. Doch sowohl wir als auch die Abgeordneten ließen uns davon nicht entmutigen. Im Gegenteil. Mehr und mehr Politikerinnen und Politiker erfuhren von der Idee. Wir trommelten weiter fleißig. Wir starteten eine Petition auf change.org und konnten erste Unterschriften zusammenbringen, nutzten immer wieder den Hashtag #FreeInterrail in den sozialen Medien und teilten bei jeder erdenklichen Möglichkeit die Idee.
Bei der ersten Zeit-Online-Konferenz, Z2X, die explizit nach zivilgesellschaftlichen Lösungsansätzen junger Leute sucht (ein großartiges Format), hatten wir die Idee ebenso im Gepäck und stellten sie vor. Als am Ende der Veranstaltung die 500 Teilnehmer darüber abstimmen sollten, welche der präsentierten Ideen sie als besonders unterstützenswert ansahen, schaffte es #FreeInterrail auf Platz 2 – eine große Freude und ein wichtiger Rückenwind.
Im September 2016 griffen die europäischen Christdemokraten (EVP), und damit die größte Fraktion im Europäischen Parlament, die Idee auf. Der EVP-Fraktionsvorsitzende und CSU-Abgeordnete Manfred Weber erwähnte den Vorschlag während der State of the Union 2016 (die jährliche Europarede des Kommissionspräsidenten, samt Reaktionen aus dem Parlament). Jetzt kam auch der prominente Liberale Alexander Graf-Lambsdorff an Bord. Nun war wirklich Musik in der Sache.
Kurze Zeit später, am 4. Oktober 2016, gab es im Europäischen Parlament die erste offizielle Debatte zu dem Vorschlag. Es wurde heftig über die Idee diskutiert. Es zeichnete sich ab, dass jedoch eine Mehrheit der Abgeordneten dem Vorschlag gegenüber positiv eingestellt war. Die EU-Transportkommissarin Violeta Bulc bezeichnete die Idee gar als »exzellenten« Vorschlag und bewunderte die Ambitionen, die dahinterstanden.
Ein paar Wochen später wurden wir nach Brüssel eingeladen, um die Idee vor Parlamentarierinnen, Bahnexperten und Tourismusvertretern im Rahmen von Veranstaltungen der EVP und dann der S&D vorzustellen. Ein Pilotprojekt wurde für Anfang 2017 geplant und vorbereitet. Aber auch diesmal wurde daraus nicht wirklich was. Das Parlament mobilisierte rund 2,5 Millionen Euro für ein #FreeInterrail-Pilotprojekt, doch dieses wurde von der EU-Kommission dermaßen verkompliziert, dass es mit unserem Vorschlag rein gar nichts mehr zu tun hatte. Ein Ausschreibungsverfahren mit hohen Einstiegshürden, kein Fokus auf nachhaltige Verkehrsträger und nur Reisen in großen Gruppen – nicht ohne Grund bezeichneten Politik und Medien die Idee als »Bürokratiemonster«.
Immerhin: Die ZDF heute-show griff die Idee im März 2017 auf und nahm die Kommission für die schlechte Umsetzung auf den Arm. Das sahen wir als Trostpreis und Ansporn zugleich.
Ab diesem Zeitpunkt verstanden wir uns als Cheflobbyisten dieser Idee und konnten gar nicht mehr anders als weitermachen. Zu dieser Zeit versuchten wir, die Idee über verschiedene Kanäle voranzubringen. Wir schrieben weiter Artikel und boten sie Zeitungen oder Plattformen an, wir sprachen über den Vorschlag auf Europakonferenzen in Berlin und Brüssel, wir streuten die Petition und teilten die Idee...