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E-Book

Über das Poetische

AutorHartmut Lange
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl171 Seiten
ISBN9783957575081
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Noch während seiner jugendlichen Begeisterung für den sozialistischen Gedanken erfuhr Hartmut Lange den mangelnden Glauben an die Kategorie der Notwendigkeit. Als er sich später von der Sozialutopie verabschiedete, um sich immer mehr den Existenzfragen zuzuwenden, die auch Heidegger beschäftigten, wurde er als Novellist zum Meister des Fachs. In diesem Band vollzieht er nun seine Auseinandersetzungen mit Heidegger, Nietzsche, und dem ?Transzendenzbegehren? nach, die sein Leben und Schreiben antreiben, berichtet von einer wegweisenden Begegnung mit Odo Marquard und liefert im Anschluss mit einer Theaterszene die düster-schillernde Illustration seiner Überlegungen und Erkenntnisse.

Hartmut Lange, 1937 in Berlin geboren, arbeitete nach einer Tätigkeit am Ostberliner Deutschen Theater für verschiedene Berliner Bühnen. Für seine Dramen, Essays, Prosa und Übersetzungen wurde er vielfach ausgezeichnet. Unter anderem erhielt er 1968 den Gerhart-Hauptmann-Preis, 1989 den Prix Laure Bataillon, 1998 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, 2003 den Italo-Svevo-Preis und 2016 den Rom-Preis der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo. Bei Matthes & Seitz Berlin erschien Positiver Nihilismus: Meine Auseinandersetzung mit Heidegger.

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Leseprobe

Jenseits von Gut und Böse
Oder
Die letzten Stunden der Reichskanzlei


Personen

Hitler

Eva Braun

Goebbels

Magda Goebbels

Bormann

Stumpfegger

Nietzsche

Liszt

Walter Wagner

ZU GAST IN DER REICHSKANZLEI

Bunker der Reichskanzlei. Ein Tisch, ein Klavier. Brekers Skulptur Bereitschaft. Man hört Detonationen, Mörtel rieselt von den Wänden. Nietzsche und Liszt sitzen auf Stühlen und warten.

Nietzsche: Warum sitzen Sie hier, wenn ich fragen darf?

Liszt: Ich wurde eingeladen.

Nietzsche: Ich auch. Aber der Hausherr lässt sich, wie man sieht, reichlich viel Zeit.

Liszt: Vielleicht ist etwas dazwischengekommen. Können Sie mir sagen, was das für ein Lärm ist?

Nietzsche: Geschützdonner.

Liszt: Die Einschläge sind sehr nah. Es wird, hoffe ich, nichts passieren?

Nietzsche: Wenn schon. Der Gottlose fürchtet die Gefahr nicht.

Liszt: Nein, da haben Sie recht.

(Schweigen. Nietzsche betrachtet Liszt.)

Liszt: Ist irgendetwas?

Nietzsche: Ich sehe, Sie haben ein merkwürdiges Gewand an. Sind Sie Priester?

Liszt: Allerdings.

Nietzsche: Sie haben zu Ihrer Zeit viel Richard Wagner gespielt?

Liszt: Und Beethoven.

Nietzsche: Ach ja, Beethoven!

(Schweigen)

Nietzsche: Beethoven verabschiedet die Musik. Ich wünschte, ich hätte die Waldsteinsonate geschaffen.

Liszt: Ich habe sie fünfundvierzig Mal gespielt. Kennen wir uns vielleicht?

Nietzsche: Allerdings. Sie sind, verzeihen Sie mir, der unsterbliche Klaviervirtuose Franz Liszt.

Liszt: Pardon, ich kann mich nicht erinnern.

Nietzsche: Macht nichts. Dafür erinnere ich mich an Ihre Tochter Ariadne. Ariadne ist, verzeihen Sie mir, ja was soll ich sagen, wie das Leben so spielt: Cosima Wagner.

(Schweigen)

Liszt: Jetzt erinnere ich mich. Sie waren in Bayreuth.

Nietzsche: Vor allem in Tribschen.

Liszt: Sie sind Friedrich Nietzsche.

Nietzsche: Allerdings.

Liszt: Jetzt erinnere ich mich. Mein Schwiegersohn hat von Ihnen geschwärmt. Sie berechtigten zu großen Hoffnungen. Friedrich Nietzsche, der Hausfreund meiner geliebten Cosima, entschuldigen Sie meine Ungeschicklichkeit!

(Er erhebt sich, will Nietzsche die Hände schütteln.)

Nietzsche: Keine Ursache, Liszt. Sie haben ja genügend Geschicklichkeit, wie man so sagt, in Ihren Händen.

Liszt: Allerdings.

Nietzsche: Und was Wagner angeht: Ich habe empfindliche Nerven. Ich bräuchte ein Fläschchen Brom, und Sie werden einsehen, dass man dies unmöglich so schnell auftreiben kann.

Liszt: Allerdings.

(Er setzt sich auf seinen Stuhl zurück.)

Nietzsche: Sie entschuldigen meine Offenheit?

Liszt: Offenheit geht einem Christen über alles.

Nietzsche: Dahinten steht ein Klavier. Ich habe Sie nie spielen gesehen. Vielleicht riskieren Sie ein paar Takte?

Liszt: Völlig unmöglich. Diese staubige Luft bringt jedes Pianoforte zum Schweigen.

Nietzsche: Ich kann Ihnen nicht widersprechen. Zarathustra hat sich in der Luft von Sils Maria auch wesentlich wohler gefühlt.

(Schweigen. Auftritt Stumpfegger. Hackenschlagen, Führergruß.)

Stumpfegger: Heil Hitler! Der Führer des Großdeutschen Reiches erscheint in fünf Minuten. Die Gäste sollen sich einen Augenblick gedulden, Erfrischungen werden zur Zeit aus der Küche geholt. Heil Hitler! (Hackenschlagen, Führergruß. Er geht fort.)

Liszt: Was war das?

Nietzsche: Keine Ahnung. Aber es scheint, er hat es nicht böse gemeint.

(Detonation.)

Liszt: Nietzsche …

Nietzsche: Keine Angst, ich sagte doch: Der Gottlose fürchtet die Gefahr nicht. Spielen Sie auf dem Pianoforte, spielen Sie Beethoven. Ich bitte Sie darum, hochverehrter Meister und Klaviervirtuose Franz Liszt.

(Liszt geht zum Klavier, entfernt Mörtel, spielt die Waldsteinsonate.)

Nietzsche: Es bohrt mir in den Schläfen. Es ist der Geist der Musik, aber man muss diesen Geist wenigstens in den Händen haben.

(Auftreten Goebbels, Magda Goebbels, Bormann, Eva Braun. Sie setzen sich an den Tisch.)

Liszt (unterbricht nach einer Weile das Spiel): Pardon, meine Herrschaften, ich habe Sie nicht bemerkt.

Eva Braun: Wie wunderbar Sie spielen.

Goebbels: Der unsterbliche Franz Liszt spielt Beethoven, was für eine Bescheidenheit! Ich hoffe, Sie werden unserem Führer auch Ihr Les Préludes vorspielen, mit dem unsere Propaganda Triumphe gefeiert hat.

Magda Goebbels: »Es sind Glücksfälle nötig und vielerlei Unberechenbares, dass ein höherer Mensch, in dem die Lösung eines Problems schläft, noch rechtzeitig zum Handeln kommt.« Herr Nietzsche, ich habe Ihre Schriften über das Weib gelesen, und ich weiß, was ein Weib einem solchen Mann schuldig ist.

Goebbels: Haben Sie Richard Wagner gesehen?

Bormann: Nein. Richard Wagner ist offenbar nicht da.

Goebbels: Richard Wagner wird kommen, schon um dieses brennende Walhalla zu sehen. Die Krolloper steht in Flammen. Dieses Berlin ist, wenn Sie so wollen, eine gigantische Kulisse für Wagners Werke. Ja, sie übertrifft, wenn Sie so wollen, die Visionen seiner Götterdämmerung.

Magda Goebbels: »Böse Menschen haben keine Lieder.« Wie kommt es, dass die Russen Lieder haben? Vielleicht weiß Herr Nietzsche, warum unsere Feinde vor allem die Krolloper in Brand schießen?

(Detonation.)

Bormann: Das war das Adlon. Sie schießen komischerweise immer in das Hotel Adlon.

(Detonation.)

Goebbels: Und das war ein Panzer. Wie konnte der durchbrechen? Weiding muss doch wissen, dass die russischen Panzer nur ein einziges Ziel haben: Die Reichskanzlei.

(Detonation.)

Bormann: Jetzt haben wir ihn abgeschossen. Die Artillerie ist weiter weg. Dem Maschinengewehrfeuer nach kämpfen die Russen am Potsdamer Platz.

Goebbels: Und wer sichert den Tiergarten?

Bormann: Axmann und die Hitlerjugend.

Goebbels: Niemand wird diese Roboter aufhalten.

Sie werden alles vernichten, sie wissen nicht, was sie tun. Sie sind das Ende der Zivilisation.

Magda Goebbels: Aber noch herrscht Zivilisation in diesen vier Wänden, und niemand wird uns daran hindern, die Vermählung des Führers zu feiern.

Bormann: Die Zeit wird knapp. Es bleiben zwei, drei Stunden. Haben Sie einen Beamten organisiert?

Goebbels: Ja, wir machen eine Kriegstrauung. Der Mann muss jeden Augenblick hier sein.

Magda Goebbels: Wir sollten mit den Festlichkeiten warten, bis Richard Wagner kommt. Der Führer liebt Wagner über alles, und er hat heute Anspruch auf etwas Trost.

(Schweigen. Eva Braun zieht ihr Taschentuch.)

Eva Braun: Wie wunderbar Sie spielen.

Liszt: Ich danke Ihnen, Mademoiselle.

Magda Goebbels: Und wir haben Sie unterbrochen. Wäre es unbescheiden, wenn ich Sie bitte weiterzuspielen?

Liszt: Ich schlage einer Dame ungern etwas ab, aber Kunst ist schließlich auch eine Sache der Nerven.

(Schweigen.)

Bormann: Geht das Klavier überhaupt noch?

Liszt: Ein wenig.

Bormann: Man sollte es auf den Hof bringen. Hier fängt so etwas nur Feuer.

Magda Goebbels: Bormann, der Flügel wurde eigens für Herrn Liszt hier aufgestellt.

Bormann: Liszt hin, Liszt her, ich glaube nicht, dass den Führer so etwas noch...

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