2 Erklärungsansätze zur Bestimmung von Übergängen
Die Klärung der mit dem vorliegenden Buch verknüpften Zielsetzungen und Fragestellungen setzt voraus, die einschlägigen soziologischen, psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Theoriebezüge bzw. Übergangstheorien in ihren Grundzügen aufzunehmen. Beispielhaft ergänzt werden diese durch die Ergebnisse der empirischen Übergangsforschung und durch eine erweiterte Konzeption für Didaktik und Lehrerbildung. Fallbeispiele und hieran anschließende Aufträge regen zum (gemeinsamen) kritisch-reflexiven Mit- und Weiterdenken an und fordern Leserinnen und Leser dazu auf, eigene Beiträge zur weiteren Theorieentwicklung zu leisten.
2.1 Begriffsklärung
Dem Übergangsbegriff haftet eine hohe Komplexität an. Die diesbezüglich entstandene Unübersichtlichkeit spiegelt sich letztlich auch im Begriffsverständnis der unterschiedlichen Bezugswissenschaften wider. In Abhängigkeit der jeweils fachspezifischen Erkenntnisinteressen und Forschungslage rückt entweder die psychologische, die soziologische bzw. sozialisationstheoretische oder die erziehungswissenschaftliche Sicht stärker in den Fokus.
Welzer (1993) ist um ein umfassendes Begriffsverständnis bemüht, indem er Übergänge als ineinander übergehende, sich überblendende und insofern schwer durchschaubare und bestimmbare Wandlungsprozesse beschreibt, die sich an der Schnittstelle zwischen dem Handlungs- und Bewältigungsvermögen eines Individuums und den jeweils bestehenden gesellschaftlich-institutionellen Anforderungen vollziehen. Weiter wird davon ausgegangen, dass sich in diesen Phasen verschiedenartige Belastungen anhäufen, die Anpassungsleistungen und Veränderungen auf der individuellen, interaktionalen und kontextuellen Ebene erfordern (Griebel & Niesel, 2004, S. 35).
Neben dieser mehrkontextuellen Perspektive fließen sozialökologische Einflüsse (Bronfenbrenner, 1980) und die von Lazarus (1995) entwickelte Stresstheorie in das Begriffsverständnis ein, von welchen das von Griebel und Niesel (2004) entwickelte Transitionsmodell geprägt ist. Dieses Theoriemodell bezeichnet Übergänge als Transitionen, die sich auf Lebensereignisse beziehen, die eine Bewältigung von Veränderungen in mehreren definierten Lebensweltkontexten erfordert. Diesbezüglich ist der Einzelne in der Auseinandersetzung mit seinem sozialen System auf individueller, interaktionaler und kontextueller Ebene dazu aufgefordert, bedeutsame biografische Erfahrungen zu sammeln, die ihren Niederschlag in der Identitätsbildung finden (Griebel & Niesel, 2004, S. 36). In Anbetracht der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ist eine Disziplin- bzw. Theoriegrenzen überschreitende Definition gesucht, die eine eingängige allgemeine Begriffsbestimmung zu leisten vermag. Impulse hierzu liefert Abbildung 2.1.
Abb. 2.1: Strukturmerkmale von Übergängen
Betrachtet man die einzelnen Elemente in Abbildung 2.1, lassen sich folgende Festlegungen ableiten:
• Der die vier Rechtecke umschließende Rahmen zeigt an, dass Übergangsprozesse in sich geschlossen sind, d. h. dass sie in zeitlicher Hinsicht einen Anfang und ein Ende haben, und dass sie – sozioökologisch betrachtet – in spezifische Kontexte eingebunden sind.
• Die Rechtecke bringen zum Ausdruck, dass das Übergangsgeschehen soziale und persönliche Erwartungen sowie institutionelle und persönliche Potenziale beinhaltet, die in unterschiedlichem Umfang miteinander in Beziehung stehen.
• Die Zeitachse mit dem über den Rahmen hinausweisenden Pfeil, zeigt an, dass es sich bei Übergängen nicht um einen einmaligen Vorgang handelt, sondern dass das menschliche Leben durch unbestimmt viele Übergänge gekennzeichnet ist. Überdies teilt die Zeitachse das Übergangsfeld in zwei Hälften (eine zurückliegende und eine prinzipiell unvorhersehbare zukünftige Lebenswelt) und weist diesem damit eine Schnittstellenfunktion zu.
• In diesem Zusammenhang veranschaulichen die beiden in den Rahmen hineinreichenden, d. h. mit dem Übergangsprozess verbundenen Rundpfeile, dass Übergänge – in Abhängigkeit von der Passung bzw. Nichtpassung der jeweils vorherrschenden Erwartungen und Ressourcen – einen Entwicklungssprung oder einen Rückschritt einleiten können.
• Der unübersehbar dicke Punkt in der Mitte bringt die zentrale Bedeutung zum Ausdruck, die Übergängen und ihrer Bewältigung im Hinblick auf die Lebensgestaltung von Menschen zukommt.
Aus den obigen Erläuterungen lässt sich zusammenfassend der folgende allgemeine Definitionsversuch ableiten:
Der Begriff Übergänge (syn. Transitionen) bezeichnet die biografiespezifisch unterschiedlich häufig auftretenden und verschiedenartig geprägten Veränderungsprozesse im menschlichen Lebensverlauf. In Abhängigkeit von der Passung bzw. Nichtpassung der sozialen und individuellen Erwartungen, Potenziale und Ressourcen bestimmt die Bewältigungsqualität das künftig folgende Übergangserleben und Bewältigungsverhalten maßgeblich mit. Grundsätzlich können diese Prozesse erfolgreiche oder aber auch misserfolgsorientierte Entwicklungen nach sich ziehen.
Fallbeispiele1
1. Markus, Einzelkind, 6 Jahre alt, wurde vor wenigen Wochen eingeschult. Bis vor kurzem hatte er den Kindergarten und zuvor eine Kindertagesstätte besucht. Seine Eltern sind beide berufstätig, aber kümmern sich stets verantwortungsvoll darum, dass Markus zuverlässig betreut wird. Nach Feierabend und am Wochenende unternimmt die kleine Familie viel miteinander. Die Tiere im Zoo interessieren Markus besonders. Neben den Erzieherinnen in Markus’ Kindergarten und Hort sind Nachbarn und gute Freunde als Bezugspersonen in seine Betreuung eingebunden. Da Markus’ Vater und Mutter auch künftig berufstätig bleiben und sich die bisherigen Bezugspersonen auch weiterhin einbringen, hat sich an Markus’ Betreuungssituation – abgesehen von den neuen schulischen Anforderungen – kaum etwas geändert. Markus geht gern zur Schule, hat Freude am Lernen und fühlt sich mit seinen Lehrerinnen und in der Klassengemeinschaft wohl.
2. Schulanfänger Jonas, 6 Jahre alt, lebt seit vier Jahren mit seiner nicht berufstätigen Mutter und seiner kleinen Schwester in einem schönen Einfamilienhaus mit Garten. Da sich die Eltern kürzlich getrennt haben und an Scheidung gedacht wird, ist fraglich, ob die bisherige Wohnsituation beibehalten werden kann. Drei Wohnungen hat Jonas mit seiner Mutter und Schwester schon angeschaut, aber bisher hat keine gepasst. Jonas sieht seinen Vater derzeit an jedem zweiten Wochenende, eine endgültige Regelung der geteilten Betreuungszeiten haben die Eltern noch nicht vereinbart. Offen ist auch noch, ab wann Jonas’ Mutter wieder ihren Beruf ausüben wird. Zwar verdient der Vater recht gut, aber das Geld wird wohl nicht reichen, um zwei Haushalte auf Dauer zu finanzieren. In der Schule ist Jonas oft traurig, und eigentlich würde er viel lieber spielen als Lesen und Schreiben zu lernen oder sich mit den Zahlen zu beschäftigen. Am schönsten findet er, wenn die Lehrerin eine Geschichte vorliest.
3. Nina, 7 Jahre, besucht schon vier Jahre den Kindergarten. Meistens ist sie nur am Morgen da, die Nachmittage verbringt sie zu Hause mit ihrer nicht berufstätigen Mutter und ihren zwei größeren und zwei kleineren Geschwistern. Ihr Vater ist die Woche über im Schichtdienst in einem Labor tätig und ruht sich am Wochenende am liebsten aus. Seit der Kinderarzt bei Nina vor drei Jahren Entwicklungsverzögerungen im motorischen Bereich sowie eine Hyperaktivität diagnostiziert hat, stehen am Nachmittag häufig Termine bei der Ergotherapeutin an. Die psycho- und spieltherapeutische Betreuung ist vor einem Jahr ausgelaufen, nachdem die Krankenkasse die Kosten hierfür nicht mehr übernehmen wollte. Zu Hause hat Nina am Rande mitbekommen, dass ihre Eltern sich sorgenvoll über ihren anstehenden Wechsel zur Schule austauschen und auch darüber, welche Schule die passende ist. Auch Ninas Kindergartenfreundinnen und -freunde unterhalten sich im Kindergarten häufig über ihren...