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E-Book

Überschreitungen

Biblische Glaubenserfahrungen als Schlüssel heutiger Sinnsuche

AutorStefan Knobloch
VerlagMatthias Grünewald Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl159 Seiten
ISBN9783786730774
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Um den Glauben scheint es heute schlecht bestellt zu sein. Zumindest dann, wenn man sich das Engagement der Menschen in den Ortsgemeinden ansieht. Desinteresse am Glauben? Zügelloser Individualismus? Untergehen in der virtuellen Welt des Big-Data? Wegbrechen jeder Sinnperspektive? Allerdings wird pessimistisches Schwarzweiß-Denken der Wirklichkeit nicht gerecht. Das Leben ist vielfältig! Stefan Knobloch spürt deshalb den heutigen bedrängenden Ungewissheiten, aber auch den hoffnungsvollen Aufbrüchen für authentische und Leben ermöglichende Glaubensformen nach. Er konfrontiert sie mit biblischen Erfahrungen und zeigt, wie auf unscheinbare Weise Grenzen überschritten werden und so Sinn neu erfahrbar wird. Ein eindringliches Plädoyer, in unruhigen, lauten Zeiten die Leben öffnende Kraft des Säuseln Gottes wahrzunehmen.

Stefan Knobloch, Dr. theol., geboren 1937, Kapuziner, ist emeritierter Professor für Pastoraltheologie an der Katholisch- Theologischen Fakultät der Universität Mainz.

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Leseprobe

Zweites Kapitel:
Signaturen der Gegenwartsgesellschaft

Wir charakterisierten die Gegenwartsgesellschaft mit Zygmunt Bauman als „Brutstätte der Ungewissheiten“. Eine Charakteristik, die die Zeitgenossen nicht einfach in schicksalhafte und unüberwindliche Orientierungslosigkeit treiben muss. Da halten schon das metaphysische Bedürfnis, die Wende zum Spirituellen und im Fall des Glaubens die Erinnerung an die verkündete zuverlässige Liebe Gottes dagegen. Außerdem ist es so, dass das bloße Label „Brutstätte der Ungewissheiten“ zu grobschlächtig wäre, beließen wir es allein bei ihm, ohne uns die Signaturen der Gegenwartsgesellschaft näher vor Augen zu führen. Sie sind ja das Umfeld und der Kontext unseres Lebens. Aber welche sind das? Lassen sie sich halbwegs benennen? In einer fluiden Zeit wie der unseren, in der ein Ereignis das andere jagt? Folgende Phänomene seien als Signaturen der Gegenwart herausgestellt: die Big-Data-Welt, die Kolonialisierung der Öffentlichkeit durch die Privatsphäre, das heutige Raum-Zeit-Verhältnis, das Unbehagen an der gegenwärtigen Weltlage und die Erfahrung der Welt als einer labyrinthischen Welt.

Die Big-Data-Welt

Heute leben wir in einer digitalisierten Welt. Die digitale Technik ist aus unserem Leben, aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sensoren, Mobiltelefone, Datenerfassungsgeräte begleiten uns auf Schritt und Tritt. Als User, als Nutzer sind wir für die Erleichterungen, die die Big-Data-Welt mit sich gebracht hat, dankbar. Das Internet bietet einen raschen und einfachen Zugang zu allen möglichen Wissensgebieten. Es macht eine „horizontale bürokratiefreie Kommunikation“17 möglich. Browser und Suchmaschinen sind uns zu Diensten. Das soziale Netzwerk eröffnet eine ungeahnte Teilnahme am sozialen Leben.

Die Unternehmen Google, Facebook, Microsoft, Yahoo und andere beherrschen das Feld. Mark Zuckerberg rief am 4. Februar 2004 das soziale Netzwerk Facebook ins Leben. Manche hielten ihn für einen Spinner. Heute hat Facebook über eine Milliarde Mitglieder. Die Google-Autoren Eric Schmidt und Jared Cohen entwarfen in ihrem Buch „Die Vernetzung der Welt“ am Beispiel eines Tagesbeginns einer jungen Frau das Bild einer digitalisierten Welt: Am Morgen öffnen sich die Vorhänge des Schlafzimmers der Frau selbsttätig. Der Duft des von selbst gekochten Kaffees zieht schon durchs Zimmer. Die junge Frau gönnt sich auf ihrem Kopfkissen eine automatische Nackenmassage. Ihr Küchenschrank erinnert die Frau daran, dass die Kaffeedose zur Neige geht. Er informiert sie darüber, welche Kaffeesorten zurzeit besonders in seien. Bevor sie das Haus verlässt, trägt sie dem Hausroboter noch auf, die Toilette zu reinigen. Sie steigt ins Auto und wird vom selbstfahrenden Wagen ins Büro gebracht.18

Ist das Zukunftsmusik? Es mag überzeichnet sein, aber erst die Überzeichnung macht uns auf die Falle aufmerksam, deren Opfer der Mensch durch die digitale Technik zu werden droht. Der ehemalige Feuilleton-Chef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, sah in der Big-Data-Welt die Herausforderung unserer Tage.19 Die Silicon-Valley-Firmen haben von vielen Usern unbemerkt „institutionelle Fakten“20 geschaffen. Sie gaukeln ihnen in einer Mischung aus Bluff und Täuschung vor, für sie nur das Beste zu wollen, indem sie deren Verlangen nach Wissen und Kommunikation stillen. In Wahrheit aber haben sie längst die Datenschutzrechte ihrer User usurpiert und über den Haufen geworfen. Das konnte auch deshalb geschehen, weil der Gesetzgeber die Möglichkeiten des virtuellen Datenschutzmissbrauchs nicht rechtzeitig erkannte. Die Internetunternehmen haben Überwachungssysteme geschaffen, deren Ausmaße und Möglichkeiten die Erfassungsmöglichkeiten der DDR (vgl. „Vom Leben der anderen“) um Lichtjahre übertreffen. Dabei waren schon die DDR-Erfassungsmaßnahmen maßlos menschenverachtend und persönlichkeitsverletzend. Die digitalen Überwachungssysteme von heute stellen in ihrer Überwachungsgier ein Monstrum des Misstrauens dar. Das Misstrauen bildet die Grundlage ihres „ethischen“, besser gesagt, ihres amoralischen Betriebssystems. Sie fischen das Datenmaterial ihrer User ab und verwandeln es in bester Kapitalismusmanier in produktives Kapitel. Ihre Algorithmen bewerkstelligen das in „Echtzeit“.

Nicht wenige kritische Kommunikationswissenschaftler erheben dagegen längst ihre Stimme. Der im russischen Exil lebende Edward Snowden sagte von sich: „Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich tue und sage, aufgezeichnet wird.“21 In dieser Welt leben wir schon! Und diese Entwicklung war von niemandem vorhergesehen worden. Das heutige Wissens- und Kommunikationsbedürfnis vor allem junger Menschen, die gewissermaßen rund um die Uhr online sind, hinterlässt ständig Datenspuren. Man muss immer wieder updaten, will nichts verpassen, man verspürt den inneren Zwang, den Refresh-Button zu drücken. Dabei sind junge Leute heute längst dabei, Facebook Adieu zu sagen. Sie bevorzugen lieber die Fotosharing-Plattform Instagram. Hier verbreiten sie unbedenklich Selvies und andere vertrauliche Fotos. Selbst wer ein E-Book liest, hinterlässt Datenspuren. Er wird überwacht und wird alsbald mit Buchtiteln ähnlichen Inhalts „bombardiert“. Die Wissenszugänge und Kommunikationsmöglichkeiten, die das Internet eröffnet, werden also von den IT-Unternehmen gnadenlos „abgeschöpft“, was man sich bisher nicht hinreichend bewusst macht. Manche sprechen in einem drastischen Bild von „Datenabgasen“ (englisch: data exhaust), die unsere online-Aktivitäten zurücklassen. „Darunter fällt alles von Facebook-Likes über Google-Suchen und Twitter-Nachrichten bis zu E-Mails, Texten, Fotos, Liedern und Videos, Aufenthaltsorten, Bewegungen und Einkäufen, jedem Klick, jedem Tippfehler, jedem Seitenaufruf – und mehr.“22

Hier spielt sich ein „großer Schmuggel“ ab. Das Wissensbedürfnis der Nutzer wird von den IT-Unternehmen umgewandelt in ein Datenwissen über die Nutzer, woraus sie ihre Geschäftsgewinne beziehen. Was die Nutzer für vernachlässigbare Datenspuren, gewissermaßen für „Abfall“ ihrer Suchanfragen halten, das forcieren ihrerseits die IT-Unternehmen, indem auch sie in bewusster Täuschung und Irreführung vom „Daten-Abfall“ sprechen, aus dem sie aber ihre riesigen Profite ziehen. Überspitzt gesagt, was so überspitzt gar nicht ist: Die IT-Unternehmen missbrauchen die User als Abfallproduzenten, ja sie degradieren sie selbst zum Abfall.

Das eröffnet eine weitere bedenkliche Möglichkeit. Die IT-Unternehmen sind aufgrund ihrer Datenkenntnisse in der Lage, Personenprofile ihrer User zu erstellen, die deren Selbstporträt an Genauigkeit und Präzision noch übertreffen. So werden Schleusen geöffnet, die es ermöglichen, über die „Datenabgase“ Einfluss auf das reale Verhalten der User auszuüben. Als Ziel wird das sogar von Google offen eingestanden. In eine ähnliche Richtung ging, was man auf einem Amazon-Gipfel im Sommer 2013 zu hören bekam. Man werfe Daten nicht weg, weil man nicht wisse, welche Bedeutung sie in Zukunft noch bekommen können. „Wir bewegen uns weg von dem Paradigma der Suche hin zur Korrelation von Daten im Voraus, um zu wissen, was passieren wird.“23 Noch dreister liest sich die Antwort des Google-Chefs aus dem Jahr 2013 auf die Frage, warum die Internetgiganten ständig herausfinden wollen, was ihre User als Nächstes täten oder kauften. Die Antwort lautete: „Wir werden die Antworten auf ihre Fragen kennen, ehe sie selbst die Frage wissen.“24 Hier ziehen längst schwarze Gewitterwolken auf.

Das heißt nicht weniger, als dass es die Internetunternehmen auf die Manipulation des Menschen absehen, also darauf, über ihn Macht zu erlangen. Insofern trifft auf die Internetgiganten das gern gebrauchte Bild des „trojanischen Pferdes“25 nur äußerst bedingt zu. Denn sie nennen in einem Anflug von Arroganz sogar „Ross und Reiter“ bzw. Ross und die im Bauch des Rosses versteckten Krieger. Sie brüsten sich damit, die Würde und die Freiheit des Menschen gewissermaßen in der Hand zu haben. Sie reden vom Wissensgewinn der User, von deren unbegrenzter Kommunikation, von Mobilität, von Offenheit und Freiheit. Aber gerät das nicht alles zu einer Scheinfreiheit, die dem Menschen die Freiheit nimmt?26 Die Arroganz und Anmaßung der Internetgiganten ist nicht hinnehmbar, wenn sie für sich in Anspruch nehmen, aus einer geradezu „göttlichen Perspektive“27 auf den Menschen zu blicken. Man muss dem zu früh verstorbenen Feuilleton-Chef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, Recht geben: Die Machtausübung der Big-Data-Welt über den Menschen, über die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse einschließlich der Politik steht als die Debatte unserer Tage an. Sie stellt eine höchstgefährliche Signatur der Gegenwartsgesellschaft dar.

Kolonialisierung der Öffentlichkeit durch die Privatsphäre

Zygmunt Bauman, der aus Polen stammende englischsprachige Soziologe, hat als einer der Ersten in seiner vor mehr als zehn Jahren erschienenen Veröffentlichung „Flüchtige Moderne“ die Beobachtung festgehalten, dass sich in der Gesellschaft eine Trendumkehr abgespielt habe. Habe bisher die Öffentlichkeit die Privatsphäre beherrscht, so dominiere jetzt die Privatsphäre die Öffentlichkeit.28 Diese Trendumkehr ist von anderer Qualität als die „Trendumkehr“, mit der ein Ostberliner Witz – um diesen Witz hier einzuschieben – den Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus auf den Punkt brachte. „Welcher Unterschied, Genosse Plisckke, ist nun zwischen dem...

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