Ein Zettel im Briefkasten
Es gibt ein Video von der Hochzeit meiner Eltern. Es ist Herbst, 1987. Ich bin an diesem Tag knapp vier Monate alt, mein Bruder ist gerade sechs Jahre alt geworden. Im Strampler werde ich von allen betüddelt, aber niemand schaut mich so verliebt an wie mein Bruder. Beinahe bei jeder Aufnahme mit mir sieht man ihn nur Zentimeter von dem kahlen Kopf im Strampler entfernt. Wenn ich von meinem Vater getragen werde, steht mein Bruder ganz dicht daneben und streichelt mich an den Fingern. Wenn ich im Bettchen liege, schaut er sorgsam auf mich herab. Sein Blick ist in jedem dieser Momentaufnahmen weich, beinahe verträumt und voller Zuneigung.
Wenn ich diese Aufnahmen sehe, kommen mir die Tränen. Da ist ein kleiner Junge, der seine neugeborene Schwester abgöttisch liebt. Und ich tat es ihm später gleich. All meine Kindheit war Sven mein geliebter großer Bruder. Er brauchte gar nichts Besonderes zu machen, ich war einfach so schon stolz auf ihn.
Natürlich, er sah gut aus. Meine Schulfreundinnen verliebten sich reihenweise in ihn. Aber auch so: Alles, was er tat, fand ich lustig, interessant, aufregend. Er schenkte mir zum Geburtstag oder zu Weihnachten oft selbst genähte, gebastelte oder gezeichnete Handwerke. Sie waren schrill, kitschig oder im Alltag unbrauchbar. Ich habe sie geliebt und bewahre die meisten noch immer in einer Kiste auf. Ich liebte die Wochenenden bei seinen Handballturnieren und habe mit viel Begeisterung seinen Spielzügen zugesehen. Das ist mein Bruder, der da ein Tor geworfen hat. Oder: Halt, wie kommt der Rüpel von Gegner dazu, meinen Bruder zu schubsen?
Wann immer er mich inmitten seiner Pubertät nervig fand, war ich todtraurig – und gab mir Mühe, wieder cool genug für ihn zu sein. Egal welchen Bockmist er damals angestellt hatte, ob er bei Verwandten Geld geklaut hatte, ob er eine Mitschülerin mit einer Schere verletzt hatte, ob er die Schule geschwänzt und stattdessen lieber bei Bier und Zigaretten mit Freunden abgehangen hat; für mich hat er bei keiner dieser Aktionen an Status verloren.
Die Streitigkeiten zwischen ihm und meinen Eltern wurden jedoch mit jedem Monat öfter, lauter und anhaltender. Türen knallten, Worte schepperten durch die Räume, Tränen flossen. Bei meinen Eltern, meinem Bruder. Und bei mir. Seine jugendlichen Fehltritte schockierten mich, aber ich hatte irgendwie immer Verständnis für seine Ausbrüche. Er muss das gemerkt haben. Er erzählte mir von vielen seiner Querschläge, damals und auch heute noch.
Als mein Bruder kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag seine Ankündigung wahrmachte und auszog, sobald er sein Abschlusszeugnis in den Händen hielt, waren meine Eltern vermutlich erleichtert. Ich war einfach nur traurig.
So weit ist das zwischen mir und meinem Bruder wohl normal. Geschwister sind nun mal die Menschen, mit denen wir die meiste Zeit unseres Lebens verbringen. Weder unsere Eltern noch Ehepartner noch enge Schulfreunde werden uns so lange im Leben begleiten wie unser Bruder oder unsere Schwester. Sie erleben uns von Beginn an oder wir sie. Wir sehen einander aufwachsen. Wir wohnen mit ihnen in Kindheit und Jugend, den prägendsten Jahren unseres Lebens, unter einem Dach, Tür an Tür, manchmal gar im gleichen Raum. Für Jahre. Keiner erlebt uns so nahe, so unverfälscht und echt wie Geschwister. Sie sind in all der Zeit an unserer Seite, sind Verbündete und Komplizen – aber nicht selten auch schlimmste Kontrahenten. Selbst wenn sich Geschwister als Erwachsene auseinanderleben, jeder seinen Weg geht, bleibt dieses unsichtbare Band aus frühen Jahren meist bestehen.
Gerade das ist es, was den Aufprall einer psychischen Erkrankung so schmerzhaft macht. Wenn sich diese zwischen die zwei Menschen wirft, die ein Kinderzimmer, eine Jugend und das Erwachsenwerden miteinander geteilt haben. Wenn sie den einen ummantelt und versucht, ihn dem normalen Leben zu entreißen. Wenn sie Familien sprengt.
Ich war zwölf Jahre alt, als etwas Unbekanntes an meinem Bruder zu zerren begann. Die vielen Konflikte mit meinen Eltern waren in Teilen ein Vorbote, wie ich viel später erst verstand.
Nach seinem Auszug hörte ich wenig von Sven. Er lebte sein neues Leben, ich meines im Ruderverein. Er war volljährig, ich nicht mal wirklich jugendlich. Unsere Schnittstellen waren denkbar gering.
Eines Nachmittags fand ich einen Zettel im Briefkasten, es war ein abgerissenes Randstück einer Zeitung. Darauf stand mit blauem Kugelschreiber geschrieben: »Im Krankenhaus Weißensee wg. Suizidversuch«. Die Schrift war eindeutig von meinem Bruder, niemand schreibt so spitz und filigran wie er. Unbehagen machte sich in mir breit. Ich verstand seine Nachricht nicht und ging mit dem Papierfetzen eiligst nach oben in die Wohnung. Krankenhaus ja, das vernahm ich, aber Suizid, was sollte das sein? Ich schlug ein Wörterbuch auf. Die Antwort des Nachschlagewerks las ich mehrmals hintereinander, als würde ich nicht verstehen, was dort steht. Dabei hatte ich das Wort »Selbstmord« sofort kapiert.
An diesem Tag, als ich diesen Zettel im Briefkasten fand, nistete sich in mir eine tiefe Angst ein. Der Gedanke, mein Bruder hätte nicht mehr sein können, war nicht zu ertragen. Ich weinte bitterlich mit dem Zettel auf meinem Schoß. Und auch nachdem ich ihn in der Klinik besucht hatte. Und viele weitere Abende, wenn ich allein im Bett lag.
Die Angst blieb viele Jahre mein Begleiter. Immer wenn Sven einfach so anrief, immer wenn er zu lange nicht anrief, immer wenn ich anrief. Wenn wir uns sahen, ging es. Denn dann konnte ich ihn ja drücken, trösten, etwas Nähe und Halt geben.
Mein Bruder hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Er ist impulsiv und übermäßig empfindsam. Gefühle wie Wut kann er schwer steuern. Für Borderline-Patienten können Situationen, die für Gesunde nur leicht stressig sind, emotional überbordend werden. Die Gefühle der Überlastung suchen dann ihren Weg nach draußen. Beziehungen sind für Sven unverzichtbar, aber auch schwierig. Er braucht viel Nähe von seinen Partnerinnen und fordert zugleich auch großen Freiraum ein. Mittelschwere Konflikte können ihn viel tiefer verletzen als andere Menschen. Sie sind keinesfalls schnell vergessen, sondern brennen sich oft lange Zeit in sein Gedächtnis.
Mein Bruder fügt sich selbst Schaden zu. Er ist keiner, der seine Haut aufritzt. Sich selbst zu verletzen, das geht auch ohne Blut. Mit Anfang und Mitte zwanzig sind es bei ihm Drogenexzesse, mit denen er seinen Körper schindet. Mit komplizierten Beziehungskisten reizt er sein Gefühlsleben aus. Piercings sind zeitweise ein weiteres Ventil. Er neigt zu Depressionen. Zu Weltschmerz. Kann Familienkonflikte nicht abschließen, sie jagen ihn regelrecht. Sucht ist damals sein Weg, seine innere Unruhe zu stillen.
Mit sechsundzwanzig Jahren wird mein Bruder Vater. Meine Nichte Louisa kommt auf die Welt – und verändert sie für meinen Bruder. Er begibt sich in einen Entzug und in eine siebenmonatige Reha, um mit den Drogen Schluss zu machen. Er beginnt, sein Seelenleben in die Hand zu nehmen, und lässt seine Sucht und Depression behandeln.
In dieser Zeit telefonieren wir fast wöchentlich, manchmal öfter. Meist mehr als eine Stunde. Nicht selten weint er am Telefon, manchmal wütet er, sodass ich den Hörer vom Ohr fernhalten muss. Er lässt alles raus, was er so lange mit Drogen weggedrückt hatte. Es ist schmerzhaft für ihn, kraftraubend.
Aber für mich auch. Wenn wir telefonieren, kullern auch mir Tränen über die Wangen. Aber ich versuche, das zu verheimlichen, er soll nicht hören, dass es mich so mitnimmt, ich will für ihn stark sein. Und doch: Ich kann ihm nur zuhören, nur helfen, indem ich da bin. Mehr nicht. Wir gehen in diesen Telefonaten oftmals seine Behandlungsthemen gemeinsam durch. Manchmal fühle ich mich wie eine Co-Therapeutin. Ich stecke damals schon mitten im Psychologiestudium und trotzdem kann ich davon nichts für unsere Situation verwenden.
Dennoch denke ich damals erstmals darüber nach, welchen Einfluss sein Leben und seine Erkrankung auf mein Leben gehabt haben. Und noch immer hat. Zu behaupten, diese Erkrankung hätte keine Auswirkungen auf mich und manche meiner Charakterzüge gehabt, wäre schlichtweg gelogen. ...