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E-Book

Umkämpfte Zone

Mein Bruder, der Osten und der Hass

AutorInes Geipel
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl277 Seiten
ISBN9783608115185
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Woher kommt die große Wut im Osten? Fremdenfeindlichkeit und Hass auf »den Staat«: Verlieren wir den Osten Deutschlands? Das Buch sucht Antworten auf das Warum der Radikalisierung, ohne die aktuell bestimmende Opfererzählung nach 1989 zu bedienen. Es erzählt von den Schweigegeboten nach dem Ende der NS-Zeit, der Geschichtsklitterung der DDR und den politischen Umschreibungen nach der deutschen Einheit. Verdrängung und Verleugnung prägen die Gesellschaft bis ins Private hinein, wie die Autorin mit der eigenen Familiengeschichte eindrucksvoll erzählt. »Ein wirklich grandioses Buch. Kein Wort zu viel und jeder einzelne Satz ein Volltreffer. Eins der wichtigsten Bücher des Jahres.« Markus Lanz, ZDF - Markus Lanz, 11.04.2019 Seit 2015 haben sich die politischen Koordinaten unseres Landes stark verändert - insbesondere im Osten Deutschlands. Was hat die breite Zustimmung zu Pegida, AfD und rechtsextremem Gedankengut möglich gemacht? Ines Geipel folgt den politischen Mythenbildungen des neu gegründeten DDR-Staates, seinen Schweigegeboten, Lügen und seinem Angstsystem, das alles ideologisch Unpassende harsch attackierte. Seriöse Vergangenheitsbewältigung konnte unter diesen Umständen nicht stattfinden. Vielmehr wurde eine gezielte Vergessenspolitik wirksam, die sich auch in den Familien spiegelte - paradigmatisch sichtbar in der Familiengeschichte der Autorin. Gemeinsam mit ihrem Bruder, den sie in seinen letzten Lebenswochen begleitete, steigt Ines Geipel in die »Krypta der Familie« hinab. Verdrängtes und Verleugnetes in der Familie korrespondiert mit dem kollektiven Gedächtnisverlust. Die Spuren führen zu unserer nationalen Krise in Deutschland. »Das Buch 'Umkämpfte Zone' hat mich sehr beeindruckt - durch die Fülle treffender Beobachtungen und scharfsinniger Analysen [...]. Insbesondere die Ausführung zum Buchenwald-Mythos, zur AfD und zur Blockade des ostdeutschen Wegs in eine Verantwortungsgesellschaft finde ich treffend. Und wie recht Ines Geipel hat: '50 Jahre Diktatur-Welt kann mit Pampern, Regionalismus und Rückzug aus dem Politischen nicht bewältigt werden'!« Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a. D. »Geipel aber verknüpft die eigene Familiengeschichte so gekonnt und kühl mit der Geschichte der DDR, wechselt derart einleuchtend zwischen intimen Mikro- und historischen Makrokosmos hin und her, dass daraus ein beeindruckendes Buch über die jahrzehntelange Mehrfachvergletscherung einer Gesellschaft wurde.« Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 01.03.2019

Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium aus Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Ihr Buch »Verlorene Spiele« (2001) hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung einen Entschädigungs-Fonds für DDR-Dopinggeschädigte einrichtete. 2005 gab Ines Geipel ihren Staffelweltrekord zurück, weil er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war.Ines Geipel hat neben Doping auch vielfach zu anderen gesellschaftlichen Themen wie Amok, der Geschichte des Ostens und auch zu Nachwendethemen publiziert. 2020 erhielt sie den Lessingpreis für Kritik, 2021 den Marieluise-Fleißer-Preis.

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Leseprobe

Kleiner Admiral


Bilderloses. Hinter dem Körper die Idee. Nur welche? Vier Tage nach unserem Nachmittag auf der Palliativstation wird Robby ein intravenöses Portsystem gelegt. Demnächst ist nichts mehr mit Schlucken, erklärt er am Telefon. Einen Tag später kommt er nach Hause. Die Ärzte raten dringend ab, aber er besteht darauf. So oft es geht, sitze ich an seinem Bett. Es gibt nichts Unbestimmtes mehr. Die Vorboten sind deutlich. Aber er ist das Vertraute. Und er ist da. Wie beides zugleich anwesend sein kann, denke ich: Das, was immer da war, und das, was gleich für immer fort ist. mein Bruder liegt im Wohnzimmer. In seinem Blick der Weihnachtsbaum, dahinter der Balkon, der Regen am Fenster, die kahlen Bäume auf der Straße. Rechts von seinem Bett das große Bücherregal.

Meist schläft er, dämmert, fällt ins Koma. Es ist der 12. Dezember, der 14. Dezember, der 17. Dezember. Nachmittage, an denen die Stille nur dazu da ist, sich selbst zu befragen. Über Stunden kein Zeichen von ihm. Nur sein einsamer Körper, das Zimmer, der Eispickel in meinem Kopf, der ausnahmsweise mal aufgehört hat zu tackern. Irgendwann wacht Robby auf, blinzelt mich an, fragt mit trockenem Mund: Hast du Himbeeren dabei? – Fünf Schalen, handverlesen aus dem KaDeWe. Von ihm keine Reaktion. Er kann sie nicht mehr essen. Er kann gar nichts mehr essen.

Ich hab kaum noch Bilder in mir, sagt er. Sondern? – Weiß nicht. Irgendwie viel Weiß. Ein großes Nichts. Das plötzliche Bedürfnis, ihn zu bergen, ihn wegzutragen, ihn an einen Ort zu bringen, wo alles gut sein soll für ihn. Das plötzliche Bedürfnis, ein Foto zu machen, meinen Bruder festzuhalten, mich gegen die Dimension des Augenblicks zu wehren. Wie kann es sein, dass jede Pore von uns gegen etwas ist und es trotzdem geschieht? Es wird nichts mehr, sagt Robby. Der Eispickel meldet sich zurück. Darf ich?, frage ich und ziehe mein I-Phone aus der Tasche. Er sieht mich lange und bestimmt an.

Von dir hab ich noch Die helle Kammer, sagt er.

Ja.

War am Ende doch gut, dass du in den Westen bist. Hatte ich endlich deine Bücher und das, was von dir dageblieben ist. Roland Barthes und die verlorene Mutter. Diese Sachen eben.

Die helle Kammer. Das Buch, das ich am Ende des Studiums immer in meiner Parka-Tasche hatte. Heute weiß ich nichts mehr davon, nur, dass es in ihm auf arkane Weise leuchtete, dass es unentwegt um Aura, Magie, Licht und solche Dinge ging und dass Barthes keinen Trost suchte. Er wollte keinen. Die Mutter sollte der Fixstern bleiben, nichts durfte mit ihr vergleichbar sein. Barthes schaute unentwegt Fotos an. Das Imaginäre scannte jedes Detail. In seinem Inneren aber existierte keine Zeit.

Robby ist weggedämmert. Ich nehme seine Hand, versuche zu sprechen, ihn anzusprechen. Vielleicht hört er mich ja. Anfangen, mit irgendwas, leise, nur so. Mit den brennenden Laubhaufen im Kindheitsgarten, dem missglückten Eiersuchen an Ostern, dem Geruch der Esskastanien in der Pfanne. Ich gebe mir Mühe, Bilder zu finden, auf denen wir zusammen sind, die uns beide ausmachen. Es sind Bilder, bei denen es weniger um Erinnerungen geht, als vielmehr darum, Sätze zu finden, die anknüpfen, die etwas herstellen, die das angespannte Warten aufeinander aussetzen, das womöglich nur ich empfinde.

Wegmarken. Robby stirbt am 6. Januar 2018. Genau einen Monat hatten wir, um voneinander Abschied zu nehmen. Dreißig Tage. Nicht mehr und nicht weniger. Solange er in seinem Zimmer in Dresden lag, wusste ich, was zu tun war. Ich stieg ins Auto und fuhr zu ihm. Manchmal lag auf den Bäumen an der Autobahn Schnee, manchmal sah ich in den grauen Winterhimmel, manchmal regnete es, manchmal war Stau. Einmal hörte ich im Autoradio ein Feature über die Wüste und wie man sich in ihr zu orientieren habe. Man solle Beduinen fragen, hieß es, und lernen, die Zeichen zu lesen. Besondere Wegmarken etwa, Wasserstellen, Kamelskelette, verdorrte Baumstämme. Auch Autowracks oder alte Reifen könnten Auskunft über den richtigen Weg geben. In den vergangenen vier Wochen sah ich kein einziges Zeichen, ich hatte auch keine Ahnung, wo ich mich befand. Trotzdem kam ich da an, wo ich hinmusste, bei meinem Bruder.

Der 6. Januar 2018 ist ein Nieseltag. Mild, trübe, schlierig. Ich fahre nach Dresden, um mich von meinem Bruder zu verabschieden. Er liegt in seinem Bett und sieht schön aus. Jung, erlöst, fast körperlos. Seine Lippen sind geöffnet, als hätte er zum Abschied noch etwas fragen wollen. In den Wochen an seinem Krankenbett war es mir so vorgekommen, als hätte die Zeit die Richtung verloren. Ich saß nur da und schaute in sein Gesicht. Manchmal redete ich ein bisschen. Irgendwann öffnete er die Augen und sagte: Als Kind hatte ich es immer mit den Ohren. Oder: Unsere Schiffe kommen nicht mehr voran. Oder: Federn, ich will Federn. Oder: Im Stasihaus regnet es immerzu rein. Ich dachte an ein Orchester, das im Graben hockt, sich aber nicht mehr dazu aufraffen kann zu spielen. Nur hie und da ein Ton, eine verkleckerte Phrase, ein paar lose Enden. Dabei hatte ich nie das Gefühl, dass Robbys Sätze ohne Zusammenhang waren. Ich glaubte sogar, das Muster zu erkennen. Aber es war sein Schlussakkord. Sollte er nicht offen bleiben?

Verdrängte Sehnsucht. Wenn ich von meinen Dresden-Besuchen nachts wieder zu Hause landete, setzte ich mich an den Computer und googelte. Gab es wirklich nichts, was ihn retten konnte? Das Glioblastom ist der häufigste bösartige hirneigene Tumor. Das Glioblastom geht von der weißen Substanz aus. Ein Glioblastom wird wegen seiner Form auch Schmetterlingstumor genannt. Das Wachstum von Glioblastomen ist diffus infiltrierend. Das Glioblastom ist durch seine inhomogene und vielfältige Erscheinung gekennzeichnet. Ein Gliobastom verdoppelt alle 50 Tage seine Größe. Das Glioblastom ist äußerst schwierig zu behandeln. Das mediane Überleben bei einem Glioblastom liegt bei 14,6 Monaten. Die endgültige Heilung eines Glioblastoms ist bislang nicht möglich.

Bösartig, inhomogen, diffus, infiltrierend, äußerst schwierig. Das Einzige, was mein Kopf behielt, war das Wort Schmetterling. Ich sah Robby und mich in unserem Kindheitsgarten. Mein Bruder kam direkt aus der Biologiestunde und musste entsprechend was loswerden. Er zeigte mir die Eier, die an der alten Schlehe klebten, die Raupen und ihre Puppenruhe, dann die dicken Admirale, die gierig auf den Disteln hockten. Auf dem Boden saß ein soeben Geschlüpfter, der ganz zerzaust vor sich hinzitterte. Wir retten ihn, rief Robby und klatschte in die Hände. Ich rannte los, holte eine Schüssel Zuckerwasser und tröpfelte ihm ein bisschen was vor die Nase. Der kleine Admiral sortierte bedächtig seine Flugmaschine, tupfte seine Rüssel ins Wasser, brauchte eine Weile, flatterte auf und landete einfach bei den anderen.

Der Schmetterling im Kopf meines Bruders hatte nur neun Monate. Ich sitze an seinem Bett und gehe in Gedanken die letzten vier Wochen durch: Wie etwas in mir stoisch darauf bestand, dass das, was mit Robby war, so ausgehen würde wie bei dem kleinen Admiral. Die Ärzte konnten gar nicht anders, als das Detail zu finden, das ihn rettete. Das Unfassbare fand nicht statt. Es durfte nicht, es konnte nicht sein, es musste verhindert werden. Was ist das eigentlich?, frage ich mich. Eine Art Irrsinn? Schockstarre? Der Versuch, der Ohnmacht zu entkommen? Komplette Verleugnung? Die Angst entspricht verdrängter Sehnsucht, sagt Sigmund Freud, aber sie ist nicht dasselbe. Die Verdrängung steht auch für etwas. Wofür?

Robbys Hände sind kalt. Wie tot man immer gleich ist, wenn man tot ist. Ich zähle die Tage zurück und nenne den letzten Monat Ausnahmezustand. Und wie heißt die Zeit jetzt? Wie nennt man die Ausnahme, die zur Regel wird, weil sie es werden muss? Ich stehe auf und trete ans große Fenster, durch das mein Bruder in den letzten Wochen seinen letzten Adventshimmel gesehen hat. Der Weihnachtsbaum ist weggeräumt, an dem der Schmuck unserer Kindheit hing. Als ob sich in diesem Zimmer etwas konserviert hat, denke ich. In dieser seltsamen Anhäufung von Dingen, an denen so viele alte Gefühle kleben. Ich nehme den kleinen Mohr in die Hand, den Räuchermann aus frühesten Tagen. Ein Überbleibsel vom Advent. Dass es ihn überhaupt noch gibt, wundere ich mich. Vielleicht liegt ja in diesem Sammelsurium Robbys Wunsch, etwas zusammenzuhalten, eine Art Vergewisserung, der Stempel einer Zeit, die längst preisgegeben, von nun an nur noch sich selbst gehören wird.

Unverbrüchliches. Wie vertraut mir sein Körper ist. Wie mein eigener. Hinter dem Körper die Idee. Aber was soll ich hier verstehen, was nicht ohnedies da war? Jeder müsste...

Blick ins Buch

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