»Was haben Sie denn schon so gemacht?«
Besorgt war man eigentlich nie. In der Schule reichte die Planung nur bis zum Abitur, in der Wahl des Studienfachs entschied man nach grober Interessenlage und merkte dann ziemlich schnell: Seminararbeiten kann man auch betrunken schreiben.
Beim Joggen auf dem Sportplatz in Prenzlauer Berg machte ich einen Schlenker und scherte aus Bahn drei aus. Die Neugier, zu wissen, ob es sich noch genau so anfühlt wie früher, war einfach zu groß. Dann nahm ich Anlauf und rannte auf die Weitsprunggrube zu. Wie damals in der Schule, als man Sport noch deswegen machte, weil man es nun mal musste, nicht weil man Bandscheibenvorfällen vorbeugen wollte.
Mir wurde bereits beim Anlaufsprint klar, dass ich über die Jahre noch unsportlicher geworden sein musste, als ich es ohnehin damals schon war. Beim Sprung erreichte ich das Kiesbett nur knapp. Außerdem hatte ich übertreten.
Tatsächlich fühlte ich mich genau so wie früher. Eine unangenehme Erinnerung an schulischen Leichtathletikunterricht: das Wissen darum, gerade eine Tätigkeit auszuüben, für die man gänzlich ungeeignet ist und es auch trotz Trainings auf immer bleiben wird. Dazu die Erinnerung an die sich völlig natürlich einstellende Renitenz, einfach nicht das tun zu wollen, was eine drahtige Frau mit lederner Haut, Kurzhaarschnitt, Multifunktionsweste und Stoppuhr um den Hals von einem erwartet, die Blicke der Herumstehenden, die Erinnerung an die zwei anderen Schüler, die gleich nach dem Sprung ein Maßband an die Grube mit den Fußabdrücken hielten und laut das Ergebnis einer Distanz ansagten, die andere Menschen im Hochformat zu springen in der Lage sind.
Was sich außerdem immer noch ganz genauso anfühlte wie früher, war der Sand in den Schuhen, den ich in einem kleinen Häufchen auf den rostroten Sportplatzboden goss, woraufhin ein Platzwart in einem ausgebeulten Jogginganzug aus fliederfarbener Ballonseide aus seiner Aufseherhütte schnellte und mich sofort einmal quer übers ganze Gelände grob zurechtwies.
Ich bin froh, dass die Zeiten vorbei sind. Manchmal wache ich morgens auf und freue mich, dass ich nicht mehr zur Schule gehen muss. Und das, obwohl ich ohne nostalgische Verklärtheit behaupten kann, zumindest meinem Empfinden nach in der Schule bei Mitschülern und Lehrkörper gleichermaßen eine einigermaßen beliebte Schülerin gewesen zu sein. Eine im soliden Mittelmaß zwar, die sich trotzdem aber nie ernsthafte Sorgen um das Nichtbestehen des Abiturs machen musste.
Eine Schülerin dennoch, deren Stärken laut Zeugniskopfbewertungen vorwiegend im schriftlichen Bereich gelegen hätten und die zu mündlicher Mitarbeit immer wieder ermuntert werden musste. Ein Blick in meine rosafarbene Zeugnismappe mit Wolkenprint attestiert außerdem die »Übernahme freiwilliger Dienste innerhalb des Klassenverbands« sowie ein sicheres Blockflötenspiel, mit dem ich einen unersetzbaren, festen Pfeiler des schulischen Musikunterrichts darstellte.
Ein Senkrechtstart, zumindest auf den ersten Blick. Der erste Rückschlag ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Es stand die Klassensprecherwahl der 4 b oder 5 b an. Der Dramatik halber wird diese Passage im historischen Präsens erzählt:
Von zahlreichen Kandidaten können sich genau zwei Anwärter mittels aufdringlichen Fingerschnipsens als Favoriten hervortun, die nun in einer Stichwahl gegeneinander antreten. Einer von ihnen bin ich. Der andere Kandidat heißt Judith, die ich bis zu diesem Zeitpunkt für eine eher mäßig beliebte Mitschülerin halte.
In einem an US-amerikanische Vorwahlen erinnernden Wahlkampf kann ich mich im Stechen nicht gegen die Gegnerin durchsetzen und gehe als deutlicher Verlierer aus der Klassensprecherwahl hervor. Auf den Schock folgen verbales Umsichschlagen sowie wahllose Schuldzuweisungen.
Ich zweifle die Legitimität der Stimmabgabe an, da die Namenszettel nicht in Wahlkabinen beschriftet und in uneinsehbare Urnen gesteckt wurden, um eine geheime Wahl zu ermöglichen. Stattdessen bleibt die Wählerschaft zur Wahl an ihren dunkelgrünen, nach »Ata«-Reinigungspulver riechenden Tischen sitzen, schützt ihre Abstimmungszettel höchstens durch notdürftig aufgestellte Federmäppchen oder zu Bushäuschen geformte Hände vor fremden Blicken, und die Wahlzettel werden in Frau Werners oller Wollmütze gesammelt.
An der Tafel faltet anschließend ein Schüler einen Zettel nach dem anderen auseinander – ein Job, der sich immer großer Beliebtheit erfreute – und spricht den auf den jeweiligen Zetteln stehenden Kandidatennamen laut und psychosadistisch langsam aus, oft sogar mit einem vorherigen kessen Blick ins Plenum, damit ein weiterer Schüler unter dem jeweils vorgelesenen Namen einen Strich an der Klassentafel machen kann, um auf diese Weise denjenigen als Sieger zu ermitteln, der die meisten Striche unter seinem Namen verzeichnen kann, nachdem alle Zettel aus der Wollmütze gezogen und verlesen wurden. Nicht durch Zufall erinnert dieses Prozedere an das Galgenmännchenspiel.
Trotz eines machiavellistisch geführten Kampfes kann ich bei der Wahl nur eine einzige Stimme auf meinem von Lara L. (Tafeldienst) akribisch geführten Strichlistenkonto verbuchen. Als ob das nicht demütigend genug wäre, wird später der Klassenkamerad, der bei der Wahl die Zettel auseinanderfaltete und die daraufstehenden Namen verlas (Niklas M.), behaupten, auf diesem einen Stimmzettel, der sich für mich als neue Klassensprecherin aussprach, meine eigene Handschrift erkannt zu haben.
Selbstverständlich wurde diese Vermutung postwendend an die große Glocke gehängt. Anschließend weigert sich Schulkamerad Mario K. wenige Wochen später bei einer routinemäßig anberaumten Neuverteilung der Klassensitzordnung der 4 b, weiterhin mein Sitznachbar zu sein, und lässt sich mit der fadenscheinigen Begründung, ich würde zu laut kopfrechnen, umsetzen.
Ich ziehe anschließend zum ersten Mal einen Schulwechsel ernsthaft in Betracht, verwerfe diesen Gedanken aber aus Liebe zu einem Mitschüler. Ich finde zwar, dass er nicht besonders gut riecht und außerdem eine miserable Rechtschreibung hat, dafür ist er aber der Beste in Weitsprung und hat eine weiße Levi’s-Jeans.
Später wird der Junge in einem schüchternen Zwiegespräch durch Zufall und aus Mangel an sonstigen Themen auf meine Gesprächsanregung »coole Hose …« erwidern, dass die Hose nicht ihm, sondern seinem großen Bruder gehört und er sie nur gegen eine Gebühr von fünf Mark am Tag entliehen hat, was meinen Empfindungen zu ihm den Todesstoß geben und schließlich zur endgültigen Trennung führen wird, die meine Freundin Karoline telefonisch für mich vollzieht.
Wie eine zum Sterben bereite Katze wird sich der verschmähte Junge ins Gerätelager der Turnhalle verziehen. Er wird eine Zeitlang behaupten, sich demnächst eventuell das Leben nehmen zu wollen, dann wird er tausendmal hintereinander »End of the road« von der mittlerweile im musikalischen Orbit verschwundenen Formation »Boys to men« hören, sich deren Bandnamen zu Herzen nehmen, anschließend gestärkt und reifer aus seinem Leid aufsteigen und sich dann sehr schnell anderweitig orientieren, als ob zwischen uns nie etwas gewesen sei.
Das lief damals halt so. Es war einfach. Ich habe eine Freundin, die ihren ersten Freund im frühen Teenageralter nach einer Unterhaltung verlassen hat, in der er zufällig erwähnt hatte, dass er noch nie in seinem Leben davon geträumt habe, fliegen zu können. Da ja der Traum vom Fliegen einen Topos der eigenen Nächte sowie der gesamten anglophonen Musikkultur darstellt, die in Teenagertagen eine nicht zu verachtende Inspirationsschablone für die eigene Gefühlswelt war – zumindest, wenn man den korrekten Text verstand –, war die Sache für sie sofort gelaufen. Ein Mensch, der nicht weiß, was gemeint und zu fühlen ist, wenn beim Klammerblues zu »Sailing« von Rod Stewart die Textzeile »I am flying« kommt, war als eigener Partner natürlich kurz- sowie langfristig undenkbar. Was für ein unsensibler, was für ein tumber Mensch.
Eine andere Freundin verließ ihren ersten Freund erbarmungs- wie diskussionslos, nachdem er sich bei einem Treffen in der elterlichen Küche erst eine tiefgekühlte Thunfisch-Pizza zubereitete und dann auf ihrer gemusterten Schlafcouch mit ihr knutschen wollte, ohne sich zuvor die Zähne geputzt oder auch nur einen Schluck Wasser getrunken zu haben. Sie ekelte sich nun mal vor Fisch. Kollateralschäden mussten in Kauf genommen werden, wenn man seinen Prinzipien treu bleiben wollte.
Nicht zu vergessen die Freundin, die im Urlaub zum ersten Mal mit einem gerade erst beim Abspüldienst in den Sanitäranlagen eines spanischen Campingplatzes kennengelernten Jungen das hatte, was in der »Bravo-Girl« unter dem Stichwort »Petting« subsumiert wurde. Als sie die Initiative ergriff (was den Mädchen in der »Bravo-Girl« stets dringend angeraten wurde, um so die Kontrolle über die Reichweite des gesamten Liebesakts in den eigenen Händen zu behalten) und dem Jungen das Unterhemd aus der Hose ziehen wollte, klemmte es fest. Sie zog also immer fester am weißen Rippstoff, bis die vage Vermutung sich zur grausamen Feststellung auswuchs, dass der Junge kein Unterhemd, sondern einen Body aus weißem Feinripp trug. Es folgte ein kurzer Blickkontakt zwischen der Freundin und dem Jungen. Der entgeisterte Blick der Freundin traf das feiste Grinsen des Jungen, in dem die Freundin Stolz auf das unmännliche gerippte Kleidungsstück abzulesen meinte.
Natürlich konnte sich diese noch taufrische Liebesbeziehung nach...