Elisabeth Schieffer
„Wer hätte das gedacht?“
Seit gut 30 Jahren arbeite ich in verschiedenen Bereichen der katholischen Kirche: in der (Krankenhaus-)Seelsorge und in der Gemeinde, in der Leitung einer Ausbildung von pastoralen Mitarbeiter/innen, schließlich in der Studentenseelsorge und in den letzten Jahren in der Cityseelsorge. Kommunikation prägt meinen Beruf als Pastoralreferentin und Menschen im Umgang mit Konflikten zu begleiten zählt zu meinen Aufgaben. Die kirchlichen Strukturen selbst sind mitunter eine Herausforderung, Position zu beziehen, Unklarheiten anzusprechen und die Kommunikation zwischen verschiedenen Ebenen zu gestalten.
Über lange Zeit haben mich Konflikte viel Energie gekostet, mir Angst gemacht, nicht selten habe ich einfach mit Rückzug reagiert. Oder ich bin im Konflikt „ausgerastet“, habe plötzlich Positionen verteidigt, die mir sonst gar nicht so wichtig waren, und fand mich schließlich in einer Sackgasse wieder: Wie war ich da eigentlich hineingeraten? Als Christin fragte ich mich zunehmend, wie ich selbst mit dem hohen Anspruch des Evangeliums an Frieden und Versöhnung umgehen wollte.
Eine Freundin sprach mich auf ein Seminar bei Marshall Rosenberg in Frankfurt an; „Das könnte dich auch interessieren.“ War ja nur ein Wochenende, danach wüsste ich dann genauer, was es mit dieser „Gewaltfreien Kommunikation“ auf sich hat.
Tatsächlich war der erste Eindruck stark, auch wenn für mich nicht vorstellbar war, wie ich dieses neue Sprechen lernen sollte. Aber zumindest einen Schritt nahm ich mit: auf meine Wertungen zu achten und sie möglichst von der Wahrnehmung zu unterscheiden. Das wurde meine erste und am längsten zu übende Aufgabe – bis heute.
Ich habe in den folgenden Jahren die GFK immer wieder auch aus dem Blick verloren und doch wieder angefangen: Grundausbildung, Ausbildung zur Mediatorin auf der Basis der GFK, IITs mit Marshall Rosenberg und anderen Trainer/innen – gerade die Verschiedenartigkeit, mit der jede/r den Zugang wieder neu eröffnete, hat mir geholfen –, und so hat sich die GFK doch mehr und mehr in meinem Reden und Denken, im Umgang mit mir selbst und anderen „eingenistet“. Das Zutrauen, dass Verschiedenartigkeit nicht zu einseitigen Einschränkungen führt, sondern einen guten Ausgleich finden kann, dass Konflikte Beziehungen nicht zerstören, sondern sogar durch mehr Verständnis füreinander vertiefen können, hat meinem Leben mehr Gelassenheit, Ruhe und Leichtigkeit gegeben. Was ich zu Beginn gar nicht im Blick hatte, das wird heute zunehmend zum Hauptinhalt meines Arbeitens: andere Menschen in die GFK einzuführen und ihren weiteren Weg zu begleiten – gerade im Horizont des christlichen Glaubens als eine Form der Kommunikation, die Wege eröffnet zu Vergebung und Frieden mitten in aller Verschiedenheit.
Aber nicht nur im Blick auf diese „hehren“ Ziele ist mir die GFK wichtig geworden, ich erlebe sie auch als Entlastung mitten im alltäglichsten Alltag, wie die folgende „Erfolgsgeschichte“ zeigen kann:
Ich wohne in einem Reihenhaus, ziemlich genau in der Mitte einer Zeile von sechs Häusern. Jedes Haus hat ein Haupthaus, in dem inzwischen jeweils die Eigentümer wohnen. Im Dach gibt es in jedem Haus eine 1,5-Zimmer-Maisonette-Wohnung, die in der Regel vermietet ist.
Vor einigen Jahren hat ein neuer Eigentümer darauf hingewiesen, dass es für Häuserreihen mit gemeinsamem Keller das Angebot eines Sammelvertrages beim Anbieter von Kabelfernsehen gibt, der für jedes Haus einen sehr viel günstigeren Jahrespreis erbringt als ein Einzelvertrag. Gerne sind alle auf dieses Angebot eingegangen, haben ihre Einzelverträge gekündigt und genießen seither den sehr viel günstigeren Preis pro Haus.
Absolut verlässlich reicht der Nachbar (Herr C.), der den Vorschlag gemacht hat, jährlich einmal die Rechnung des Sammelvertrages in allen Häusern herum, listet für jedes Haus zwei Anschlüsse auf (Haupthaus und Einliegerwohnung), errechnet die Summe für jeden Beteiligten und jeder Eigentümer zahlt auf ein gemeinsames Konto den Teilbetrag für sein Haus ein.
So stand auch in diesem Jahr der Nachbar vor der Tür, reichte mir die Kopie des Vertrages und die Auflistung für die einzelnen Häuser herein und fügte hinzu: „Dieses Jahr ist es etwas teurer für alle, weil der Mieter bei Herrn A. nicht mitmacht. Der will kein Kabel. Hoffentlich steigen nicht noch mehr aus, sonst wird es für uns alle teuer.“
Ich bedanke mich für die Auflistung; die Anmerkung verstehe ich im Moment nicht, aber da ich gerade aus dem Haus gehen will, lasse ich es auf sich beruhen.
Ein langer Tag außer Haus liegt hinter mir. Am Abend läutet der Nachbar von der rechten Seite (Herr D.). Sichtlich empört sagt er zu mir: „Wir schreiben einen Brief an Herrn A., um ihm zu sagen, dass das so nicht geht. Frau B. hat schon zugesagt, und Sie werden doch sicher auch unterschreiben.“
Auf meine erstaunte Rückfrage wird deutlich, dass jeder der Eigentümer ca. 10 € mehr bezahlt, wenn in einem Haus nur ein Anschluss in den Sammelvertrag eingebracht wird. Bisher hatte jeder Eigentümer für beide Beiträge geradegestanden; wie er sie beibringt, ob der Mieter den Betrag zusätzlich bezahlt oder er in die Miete eingerechnet ist, war jedem selbst überlassen. Herr A. habe nur vor längerer Zeit in einer kurzen Bemerkung auf der Straße mitgeteilt, dass sein neuer Mieter nicht mitmache. Der Nachbar, der die Rechnung erstellte, hatte den Fehlbetrag jetzt auf die Gemeinschaft umgelegt, das war für alle Beteiligten im Laufe des Tages deutlich geworden.
Einige Nachbarn hatten abgewinkt; sie wollten wegen einer so kleinen Summe keinen Ärger provozieren, bei anderen war die Empörung inzwischen groß. Vor allem mein Nachbar zur Rechten, der unmittelbar neben Herrn A. wohnt, verband diese Erfahrung mit früheren, in denen er ihn als rücksichtslos erlebt hatte: „Das ist doch immer so bei denen …“ – und er breitete eine längere Leidensgeschichte auf seiner Seite aus.
Inzwischen hatte ich den Sachverhalt begriffen und schlug vor, mit Herrn A. zu sprechen, um sicher zu sein, dass ihm die Konsequenz für alle bewusst ist und von ihm ausdrücklich gewollt.
Der Vorschlag traf auf entschiedenen Widerspruch: Das bringe gar nichts; Versuche, miteinander zu reden, seien bisher immer gescheitert; Herr und Frau A. täten, was sie wollten, Rücksicht auf andere gebe es bei ihnen nicht.
Ich wusste – und einige Situationen hatte ich auch unmittelbar miterlebt –, dass es für diese Einschätzung konkrete Erfahrungen gab – spürte aber doch mein Erschrecken über diese grundsätzliche Verurteilung.
Ich bot an, mit Herrn A. zu sprechen. Sollte das Gespräch nicht zu einer Lösung führen, die für alle akzeptabel sei, wollte ich mich an einem Brief beteiligen.
Mein Nachbar schaute mich fast ängstlich an: „Wollen Sie das wirklich tun? Wollen Sie sich das antun?“
Als ich zwei Tage später am Morgen bei Herrn A. läute, habe ich das Gefühl, in die Höhle des Löwen zu gehen. Er ist zu Hause und reagiert auf meine Frage, ob er einige Minuten Zeit habe, freundlich erstaunt.
Ich hatte mir zuvor die Beschreibung der Situation überlegt: „Vorgestern hat Herr C. die Kabelrechnung vorbeigebracht. Ich sehe, dass für Ihr Haus ein Beitrag, nicht wie bisher zwei Beiträge eingerechnet sind. Damit erhöht sich der Beitrag für alle. Ich höre, dass es darüber in der Nachbarschaft Empörung gibt, und ich möchte fragen, was bei Ihnen dahintersteht, diese Regelung so zu treffen.“
Von Empörung habe er bisher nichts gehört, ist die Antwort; da sei er überrascht. Im weiteren Gespräch zeigt sich, dass Herrn A. die Regelung, dass jeder Eigentümer für zwei Beiträge haftet und selbst regelt, wie er sie erhebt, nicht (mehr) bewusst ist. „Ich kann doch meinen Mieter nicht zwingen zu bezahlen, wenn er den Anschluss gar nicht will. Das wäre ja ganz rücksichtslos.“ Im Übrigen sei er froh, jetzt einen Mieter zu haben, der langfristig dort wohnen will; den wolle er nicht verärgern. Und schließlich macht er die Rechnung auf, dass jeder Hausbesitzer ja immer noch eine Menge Geld spare, selbst wenn es jetzt für jeden 10 € im Jahr teurer wird.
Ich danke Herrn A., dass er seine Hintergründe deutlich macht, kommentiere sie aber von meiner Seite nicht. Ich gehe auf die Empörung der Nachbarn ein, die es nicht gerechtfertigt finden, dass die neue Regelung der Bezahlung in seinem Haus von allen Nachbarn mitgetragen werden soll.
Nachdem wir mehrfach diese „Gesprächsschleifen“ gezogen haben – Anerkennung für seine Argumentation, Darlegung der Empfindungen und Gedanken der anderen Seite –, wird Herr A. offener für den Ärger, den ich ihm zu vermitteln versuche.
Ja, Ärger wolle er auch nicht; er betont noch einmal, wie wenig er in dieser Frage mit Empörung gerechnet habe, und ich habe Gelegenheit, ihm zu versichern, dass ich zuerst einmal nicht davon ausgegangen bin, dass es seine Absicht sei, auf Kosten der anderen sein Problem zu regeln. Er hört die positive Aussage, die darin liegt, und ich nehme einen kleinen Anklang von Dank in seinen Worten wahr, als er mir abschließend versichert, die ganze Angelegenheit noch einmal mit seiner Frau zu besprechen.
Den Rest des Tages bin ich nicht zu Hause und finde am Abend eine neue Auflistung der Kosten für den Kabelanschluss in meinem Briefkasten: Jedes Haus zahlt zwei Anschlüsse, der alte Betrag ist wieder gültig.
Zwei Tage später, es ist ein Samstag, säubere ich den kleinen Vorgarten vor meinem Haus. Der Nachbar zu meiner Rechten kommt vorbei: „Wie haben Sie das denn gemacht!“ Bewunderung in der Stimme und in der...