Verliebt, verlobt, verheiratet, geschieden – Patchwork!
»Ich glaube an große Familien. Schon deswegen
sollte jede Frau mindestens drei Ehemänner haben.«
Zsa Zsa Gabor
»Ehen halten nicht. Wenn ich einen Mann treffe,
stelle ich mir als Erstes die Frage: Ist das der Typ,
mit dem meine Kinder die Wochenenden verbringen sollen?«
Rita Rudner
Verliebt, verlobt, verheiratet war früher. Nach geschieden kommt heute oft: Patchwork. Und Patchwork heißt Familie von Anfang an, hier gibt es keine Aufwärmphase als Paar ohne Verantwortung für Kinder. Insofern ist Patchwork etwas für Fortgeschrittene. Das fängt beim Einstiegsalter an: Patchwork-Bindungen sind notwendigerweise für mindestens einen der Partner der zweite Anlauf, oft auch für beide. Darum ist Patchwork Familie in Potenz – hoch drei, vier, fünf. Auch, was die Herausforderungen angeht. Stieffamilien bilden bereits heute die dritthäufigste Familienform in unserem Land. Jede sechste Familie lebt in einer Patchwork-Konstellation, Tendenz steigend. Dem Statistischen Bundesamt zufolge wächst in Deutschland bereits jedes vierte Kind zeitweise in sogenannten alternativen Lebensformen auf, also bei Noch-Alleinerziehenden oder Schon-Patchworkern. Und bei Scheidungskindern, die eine Woche bei Mama, dann eine Woche bei Papa wohnen, spricht das Behördendeutsch von »paritätischer Doppelresidenz«.
Immer mehr Kinder erleben also im Laufe ihrer Jugend eine Situation, wo sie es mit Stiefvater oder Stiefmutter, oft auch mit Geschwistern zu tun haben, mit denen sie nicht oder nur zur Hälfte leiblich verwandt sind. Wie häufig das Modell Patchwork-Familie geworden ist, kann jeder am eigenen Umfeld feststellen, im Bekannten- und Freundeskreis. Da sind Konstellationen wie »der Sohn des zweiten Mannes meiner Schwester«, der Kumpel mit vier Kindern von zwei oder drei Frauen oder die Nichte, die älter ist als ihr Onkel, weil es sich um den Jüngsten des zum dritten Mal verheirateten Großvaters handelt, heute kein Grund mehr für hochgezogene Brauen. Kein Wunder, dass in Kindergärten bereits der moderne Abzählreim kursiert »Verliebt, verlobt, verheiratet, geschiiieden – wie viele Kinder willst du kriiiegen?« oder dass Schulanfänger berichten, beim Kennenlernen laute eine der ersten Fragen: »Und, sind deine Eltern noch zusammen?«
Die Patchwork-Familie ist also keine Ausnahme mehr, sondern Normalität – was auch damit zu tun haben dürfte, dass die Scheidungskinder der siebziger und achtziger Jahre inzwischen selbst ein- bis zweimal geheiratet und Kinder bekommen haben. In naher Zukunft bereits dürften die Patchworker ebenso häufig sein wie die sogenannte, aber immer weniger als solche empfundene »normale« oder »klassische« Familie. In amerikanischen Großstädten soll es bereits jetzt mehr Patchwork- als traditionelle Familien geben (und nach wie vor mehr Singles als beide zusammen). Dennoch wird diesseits der Unterhaltungsindustrie und des Boulevards noch immer auffallend wenig über sie berichtet – oder wenn, dann dient Patchwork in erster Linie als Synonym für moderne Familienführung, die ja ohnehin von der Frage bestimmt ist, wie man alles unter einen Hut bekommt, Kinder und Karriere, Ausgaben und Einkommen, Romantik und Selbstverwirklichung.
Ganz wie der angelsächsische Quilt, von dem das Flickwerk-Modell seinen Namen hat, sind Patchwork-Familien auf Erweiterung angelegt; hier kommt zusammen, was ursprünglich nicht zusammengedacht war, und indem man versucht, aus unterschiedlichen Nöten eine gemeinsame Tugend zu machen, ergibt das Ganze ein neues, buntes, fröhlich wirkendes Muster, das Geborgenheit ausstrahlt. Nur dass jede Naht, die das Flickengewebe zusammenhält, hier zugleich eine Narbe ist.
Kinder in Patchwork-Familien, das sind die mit den doppelten Müttern, den Ersatzvätern und den vielen Großeltern, die einander noch nie begegnet sind. Die mindestens zweimal Weihnachten und Geburtstag feiern und in den Ferien erst mit Mama und deren zweitem Mann nach Südfrankreich und dann mit Papa und seiner Freundin an die Ostsee fahren. Manche bekommen auf diese Weise zunächst fertige Brüder und Schwestern, mit denen sie gar nicht verwandt sind, und später vielleicht noch Halbgeschwister, die sie an einen Ur-Zustand von Familie erinnern, den sie selbst verloren haben. Damit Patchwork gelingt, müssen alle Beteiligten zu allen Entwicklungen eine glaubwürdige gute Miene aufsetzen – vielleicht daher die auffällige Verbreitung dieser Familienform unter Politikern und Schauspielern.
Als es in den achtziger Jahren erstmals größere mediale Aufmerksamkeit fand, nannte man das Phänomen gutbürgerlich deutsch »Ich heirate eine Familie« und machte eine rührende Vorabendserie mit Thekla Carola Wied daraus; inzwischen heißt das Modell nach amerikanischem Filmvorbild eher »Deine, meine, unsere« oder schlicht »Modern Family«, sieht sympathisch aus und auf chaotische Weise kuschelig. Zugleich steht diese Familienform unter Verdacht, weil Außenstehende stets argwöhnen, dass hier die romantische oder erotische Selbstverwirklichung mindestens eines Elternteils auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wird. Denn dass es immer mehr Patchwork-Familien gibt, heißt keineswegs, dass sie auch immer besser funktionieren. Im Gegenteil: Je mehr Beispiele die Statistik füttern, desto ungewisser scheint die Aussicht auf dauerhaft stabile Verhältnisse. Die Hälfte aller Patchwork-Familien geht wieder in die Brüche – und bringt so immer neue hervor.
Das dürfte nicht nur mit den besonderen Belastungen und Herausforderungen zu tun haben, denen alle Familienmitglieder in solchen Situationen ausgesetzt sind, sondern auch mit der Erfahrung des Scheiterns, die ihnen vorangeht: Die schlimmste Scheidung ist bekanntlich immer die erste. Das tut der idealistischen Annahme, dass beim nächsten Mal alles anders sein könnte, aber offenbar keinen Abbruch. Die Institution Ehe ist jedenfalls durch die immer größer werdende Gruppe der Patchworker nicht, wie oft behauptet wird, in Gefahr, im Gegenteil. Kinder sind eine konservative Kraft: Von den gut zwölf Millionen Familien mit Kindern in Deutschland sind knapp achtzig Prozent (wieder-)verheiratet. Nur bei zwei Prozent aller Patchwork-Zweitehen war ein Elternteil zuvor verwitwet.
Die Anzahl der Patchwork-Familien hierzulande entspricht laut Studien ziemlich genau der Anzahl geschiedener Ehen mit Kindern, weil der Nachwuchs offenbar der stärkste Antrieb für eine familiäre Neukonstellation ist – die oftmals erstaunlich rasch auf die gerade zu Bruch gegangene Ehe folgt. Da in den neuen Bundesländern statistisch die meisten Ehen geschieden werden, ist dort auch die Zahl der Stief- und Patchwork-Familien am größten.
Dass die Patchworker immer zahlreicher, aber dabei nicht unbedingt langfristig glücklicher werden, dürfte vor allem daran liegen, dass ihnen noch keiner so recht vorgemacht hat, wie das gehen könnte. Gerade für diese bunte und variantenreiche Familienform fehlt es bislang weitgehend an Vorbildern und Mustern jenseits von Klischees. Dabei täten sie hier besonders not. Da Soziologen schon lange herausgefunden haben, dass Kinder, die die Scheidung ihrer Eltern erlebt haben, sich als Erwachsene selbst schneller trennen als Nicht-Scheidungskinder, dürfte es sich mit Patchwork ähnlich verhalten: Wer als Kind Patchworker war, für den ist das Bild der heilen Familie unheilbar zerbrochen, und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass er selbst als Erwachsener mehrere Trennungen erleben wird. Wer das weiß, will im zweiten Anlauf erst recht vorbildlich sein, um seinen Kindern doch noch vorzuleben, dass glückliche Familie auf Dauer möglich ist – oder dass sich Konflikte in der Partnerschaft auch anders bewältigen lassen als durch Auseinandergehen.
Wer sich mit einer Frau oder einem Mann samt Anhang zusammentut, weiß zwar theoretisch, was das bedeutet, ist aber in der Praxis trotzdem oft überfordert: Das belegen die ratlosen, bedrückten und verzweifelten Postings in den zahlreichen Internetkummerkästen für Stieffamilien. Dort sind vor allem Beiträge von Frauen zu lesen, deren neue Partner Kinder aus einer früheren Beziehung mitbringen. Tausende von Einträgen dokumentieren die Frustration darüber, immer in der Minderzahl zu sein, die quälende Eifersucht auf die Kinder des Mannes und die bittere Erfahrung, dass die Wahlverwandtschaft einer neuen Liebesbeziehung sich letztlich fast immer als schwächer erweist als die Bindung zum eigenen Kind. Vielleicht um dieses dauernde Ungleichgewicht im Gefühlshaushalt auszubalancieren, wird in Patchwork-Familien besonders häufig adoptiert, wenn gemeinsame Kinder ausbleiben – schließlich sind Stief- und Adoptivelternschaft einander nicht ganz unähnlich.
Patchwork ist bloß ein neuer Name für eine Konstellation, die so alt ist wie die Menschheit. Denn die biologischen Zwänge der Fortpflanzung bedeuteten noch nie, dass die leibliche Mutter zwangsläufig auch die soziale sein muss. Mutterschaft wird der französischen Ethnologin Nicole-Claude Mathieu zufolge in den meisten Gesellschaften »weniger durch das Gebären als durch die soziale Rolle begründet, die der Mutter zugeschrieben wird«. Biologische Verwandtschaft ist keineswegs erforderlich, um eine hohe emotionale Bindung zwischen Vater, Mutter und Kindern herzustellen. Wer überleben will, muss sich seit jeher zusammentun. Schon die in Rudeln lebenden Höhlenmenschen waren Patchworker, und die Geschichte ist reich an vergessenen Stiefvätern und Stiefmüttern, angefangen bei...