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E-Book

Und sie wunderten sich sehr

Weihnachten für Realisten

AutorChristina-Maria Bammel
VerlagKreuz
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783451337987
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Weihnachten als Wunder wahrnehmen? Geht das heute noch? Christina-Maria Bammel zeigt, wie es gehen kann. Ihre Alltagsgeschichten für die Weihnachtsnächte wurzeln fest in unserer Zeit und sind doch durchlässig für das Lied der Engel. Sie erzählen vom Friede auf Erden und kommen ohne Kitsch aus: Schließlich kann man immer noch ärmer dran sein als das Jesuskind. Eine Lesereise, die von Bethlehem bis nach Weißrussland, von Berlin-Mitte bis an den Hudson River führt. Zum Staunen schön.

Dr. Christina-Maria Bammel, geboren 1973 in Erfurt, arbeitet als Pfarrerin in Berlin-Mitte. Deutschlandradiohörern ist sie als Autorin des Wortes zum Tag bekannt. Die Mutter zweier kleiner Töchter ist überzeugt: Theologe ist man mit Freude oder gar nicht.

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Leseprobe

II


Beziehungsgeschichten


»Am Anfang war das Wort …« So beginnt der Prolog des Evangelisten Johannes, der in vielen Kirchen weltweit nicht nur zur Heiligen Nacht gehört wird. Mindestens ebenso häufig hören die abendlichen und vielen nächtlichen Besucher im Gottesdienst: »Als alles still war und ruhte und eben Mitternacht war, fuhr dein mächtiges Wort vom Himmel herab …«

 

In diesen Worten höre ich ein Zweites; vielleicht ist es das Eigentliche: Am Anfang war Beziehung, denn dafür stehen ja Worte und das Wort; und diese Beziehung wird immer wieder neu entdeckt, neu infrage gestellt, abermals ausprobiert, manchmal gefeiert, manchmal verhöhnt. Am Anfang aller Begegnung versucht einer, den Weg zum anderen zu finden. Ob dann die Brücke zwischen beiden tatsächlich trägt, hält und alle Beteiligten auch noch gemeinsam weiterbringt, bleibt die offene Frage. Nur der Anfang ist bekannt: Beziehung.

Am Anfang war ein Gott, der nicht relationslos bleiben wollte, sondern ein Beziehungsangebot wagte – sich selbst als hilfloses Kind.

Welcher Art sind die Beziehungsangebote, die wir machen oder die wir empfangen? Welcher Art waren die Beziehungen, die in unseren Lebensanfängen aufblühten oder vielleicht am Blühen gehindert wurden? Manch einem mag das Wort von der Beziehung zu technisch oder zu alltäglich klingen. An der Sache ändert es nichts: Indem wir auf einen anderen bezogen sind, sind wir menschlich, mag diese Bezogenheit glücken oder scheitern. Ganz so wie der biblische Gott des Alten und Neuen Testaments, der nichts anderes sein möchte als bezogen auf seine Schöpfung und die, die in ihr leben. Wie Beziehungen scheitern oder glücken, wie sie entstehen oder nie zustande kommen, davon erzählen die Menschen – Söhne, Töchter, Mütter – im Spiegel der einen Beziehung zwischen göttlichem Himmel und menschlicher Welt, deren Urdatum eine Geburtsgeschichte ist.

Man kann noch ärmer dran sein als das Jesuskind


Jakob zeugte Josef,

den Mann der Maria,

von der geboren ist Jesus,

der da heißt Christus.

Matthäus 1,6

 

Wir feiern Weihnachten auch mit unseren Toten. Wir feiern mit denen, die vorausgegangen sind, auch wenn wir sie vielleicht nie kennen gelernt haben. Der mir das erzählt, hat ein Leben lang versucht, ein Maß für die Weite dieses Weges zu seinen Toten zu finden. Es ist die Geschichte einer Sehnsucht. Diese Sehnsucht ist nicht immer gleich stark. Mal sind die, die fehlen, uns näher, mal ferner.

So beschreibt es jedenfalls der Mann, Ende 60, der sich heute wirklich und von Herzen darüber freut, dass sein eigener Sohn Elternzeit nimmt. Er freut sich, dass Vaterschaft so selbstverständlich sein kann. Wir schlendern gemeinsam durch den Park, mit dem ihn zahlreiche Kindheitserinnerungen verbinden. Er sieht noch die alte Ruinenlandschaft, die Schutthügel, in denen er gespielt hat. Damals.

Als er vor fast sieben Jahrzehnten zur Welt kam, so konnte ihm seine Mutter immer wieder neu erzählen, da fielen brennende Christbäume aus den Flugzeugen. So nannten die Leute die Leuchtmarkierungen der Bomberverbände – Christbäume, todbringende Christbäume. Die Mutter spürte damals in solchen Bombennächten das Kind in sich wachsen, und sie ahnte wohl schon, dass sein Vater, der irgendwo an der Ostfront kämpfte, aus dem gnadenlosen Krieg nicht lebend zurückkehren würde. Auf diese Geschichte hatte sich das Erinnerungsvermögen der Mutter im Laufe der Jahre eingespielt. Die erzählte sie ihrem Sohn wieder und wieder.

Der Junge wuchs im Nachkriegsmangel auf. Der Vater war anwesend in Gestalt eines schwarz umrandeten Porträtfotos auf dem Küchenbuffet. Liebevoll wischte die Mutter den Staub darum herum, liebevoll wurden die Blumen aus dem Garten der Großmutter ausgesucht, wenn der Kalender Geburtstag oder Hochzeitstag anzeigte. Sie hatte nie wieder geheiratet.

An den Weihnachtstagen stand die Krippe, bestehend aus der geschnitzten Familie und einigen mit Wollresten beklebten Schäfchen, ganz nah beim Bild des Vaters. In der Kirche sangen sie: »Er kommt aus seines Vaters Schoß und wird ein Kindlein klein, er liegt dort elend nackt und bloß in einem Krippelein …«

Und der Junge spürte: Er selbst war noch ärmer dran als das Jesuskind. Denn er muss so gänzlich ohne einen Joseph, ohne den Vater, hier sitzen. Da hatte das kleine Christkind ihm wirklich etwas voraus. Es hatte ja gleich zwei Väter. Der Joseph auf dem Küchenbuffet schien alle Zeit der Welt zu haben, seinem Jungen beim Wachsen und Werden zuzusehen. Alle Geduld und aller Schmerz über das, was war und was – die Gesichtszüge lassen es schon ahnen – kommen wird, sind eingeschnitzt in die Züge des Josephgesichts.

Der halb verwaiste Junge kannte jeden Winkel in diesem Gesicht. Aber den eigenen Vater, den er so sehr entbehrte, den kannte er nicht. Er wusste nicht einmal, wer ihm eigentlich fehlte. Nur dass ihm jemand fehlte, war so klar wie der Glasrahmen mit dem Bild des Vaters. Die Erinnerungen der Mutter, die sie ihm immer und immer wieder erzählte, die er immer und immer wieder hören wollte, wurden zur standardisierten Geschichte. Sie waren die einzige Möglichkeit, den Vater und Ehemann gegenwärtig zu halten, und sei es auch nur in den immer wieder mit denselben Worten erzählten Szenen. Triviale Szenen aus dem Leben des nur kurz zusammengekommenen Paares. Neue konnte man sich ja schlecht ausdenken 

Aus dem Schuljungen wurde ein Konfirmand und später ein Student. In der stickigen Geistes-Enge der DDR eckte er an, flog Anfang der 60er Jahre von der Universität, suchte Schutz und Freiheit gleichermaßen in einem Seminar zur Ausbildung von Pfarrern und Pfarrerinnen. Nicht nur dort sehnte er sich in den schwärzesten und ohnmächtigsten Stunden immer wieder nach einem Vater, der ihm den Rücken gestärkt oder – ja – ihn vielleicht auch hier und da mal zur Zurückhaltung gerufen hätte.

Es ehrte und schmerzte ihn, wenn seine Mutter kopfschüttelnd meinte: »Dass du immer mit dem Kopf durch die Wand musst – wie dein Vater!« Es ehrte und schmerzte ihn aber auch, wenn seine Mutter feststellte: »Du hast die Handschrift deines Vaters.«

Stolz und Traurigkeit waren eins. Der vaterlose junge Mann heiratete und wurde schließlich selbst Vater. Auf seiner Hochzeit und bei der Taufe des ersten Sohnes wurde das Bild des Vaters vom Küchenbuffet mit aufgestellt – gut sichtbar für Familie und Gäste. Alle wussten: Einer fehlt – und das ist die Normalität.

Was ebenso fehlte, war ein Grab. Je älter er wurde, desto mehr spürte er die Macht dieser Leerstelle und desto begreiflicher wurde ihm der alte Kummer seiner Mutter. Wo ist mein Vater, wo kann ich ihn betrauern? Am Küchenbuffet geht das nicht immer.

Es war nicht viel, was sie wussten. Irgendwo in Weißrussland hatte sich die Spur des Vaters verloren. Die Kriegsgräberfürsorge hatte keinen Zugang zu den gefallenen Soldaten. In den Weiten und Sümpfen Weißrusslands lagen und liegen sie zum Teil noch immer ohne Gräber. Jede dritte weißrussische Familie hat selbst ein Kriegsopfer zu beklagen. Das Trauma ist noch Generationen später gegenwärtig. Nur zu klar war es, dass der Kriegsgräberfürsorge bis in die 90er Jahre hinein keine Erlaubnis erteilt wurde, nach den gefallenen Soldaten zu suchen und jeden Einzelnen zu bestatten.

Umso größer der Schock, als der Junge, der nun schon lange dreifacher Vater, ja sogar Großvater ist, einen Brief erhält. Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest 2004. Sein Vater, der Soldat von damals, sei identifiziert worden. Der Brief berichtet, dass es eine Umbettung und schließlich eine Bestattung auf dem Soldatenfriedhof Berjosa gegeben hatte. Mehrere Tage liegt dieser Brief neben dem Bilderrahmen. Das Kerzenlicht der Weihnachtstage fällt auf das amtliche Papier, jener Nachricht aus einer anderen Welt. Die so früh verwitwete Mutter hätte sich darüber auf ihre traurige Weise gefreut, denkt er. Aber dort, wo sie jetzt ist, braucht sie keine amtliche Nachricht mehr von dem einzigen Mann in ihrem Leben.

Dann steht die Reiseplanung: Der Junge von damals möchte zu seinem toten Vater. Aufschieben will er das in seinem Alter nicht mehr. Er wird mit seinen Söhnen nach Weißrussland reisen – zum Vater. Sofort. Eine Reise von einigen Tagen, für den vaterlosen Jungen von damals eine Erinnerungsreise, ohne dass er auch nur eine einzige Erinnerung an seinen Vater hätte.

Nach einer Bahnfahrt durch weite Landschaften und graue Dörfer, versunken im Matsch von Weißrussland, erreichen sie schließlich das Ziel. Die Plakette auf der Begräbnisstelle trägt den Namen des Vaters, ein Geburtsdatum, kein genaues Sterbedatum. Sie stehen zu dritt am Grab. Drei Generationen sind verbunden. Die Lebenden sprechen ein Gebet und legen ein kleines Holzkreuz ab. In der Manteltasche steckt eine vorbereitete Rede, nur ein paar Worte. Aber der verwaiste Sohn wird die Worte nicht sagen, nicht heute. In der anderen Manteltasche steckt ein Päckchen: Es ist der alte geschnitzte Joseph vom Küchenbuffet aus Kindertagen. Der Junge von damals, der das Jesuskind so brennend um seinen Vater beneidet hatte, stellt ihn behutsam unter den auf der Plakette eingravierten Namen seines unbekannten Vaters.

Trauer? Ja. Auch.

Aber diese Trauer hat sich über die Jahre gewandelt. Hier an dieser Stelle, mitten auf dem winterlichen Soldatenfriedhof unter klirrendem klaren Sternenhimmel, bricht ein Moment von Dankbarkeit darüber auf, dass der Weg...

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