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A WHITE BOY IN THE HAMMERSMITH PALAIS
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EIN WEISSER JUNGE IM HAMMERSMITH PALAIS
Ich glaube, ich habe den ersten Besuch eines Tanzlokals meiner Leidenschaft fürs Catchen zu verdanken.
In meiner Kindheit verging kaum eine Woche ohne folgendes Gespräch mit einem Fremden:
»Bist du mit dem verwandt?«
»Wie bitte?«
Im Nachhinein betrachtet, hätte ich lieber überhaupt nie etwas sagen sollen.
»Na, du weißt schon, bist du mit dem Catcher verwandt?«
Meine Mutter brachte vielleicht gerade noch ein müdes Lachen zustande, als wollte sie sagen: »Ähm, das habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört.«
Ich kam mir einfach nur bescheuert vor.
Obwohl ich tatsächlich den Verdacht hatte, ich könnte ein entfernter Verwandter von Mick McManus sein, einem Proficatcher, dessen Kämpfe jeden Samstagnachmittag im Fernsehen übertragen wurden. In den frühen 1960er-Jahren gab es bei den Wettkämpfen noch nicht die Pyroeffekte der heutigen Spektakel, nur gut eingeölte Entertainer wie Jackie Pallo oder Johnny Kwango, die sich in einem engen Boxring Raufereien mit schweißüberströmten Muskelpaketen lieferten, sie durch die Luft schleuderten und manchmal auch aus dem Ring herauskatapultierten.
Mick McManus schrieb sich wie der Name meines Daddys, bevor der ein »a« hinzufügte, weil »MacManus« in Druckbuchstaben irgendwie schicker und besser aussah.
Ich kam dahinter, dass wir beide obendrein dieselbe untersetzte Figur wie der Typ in dem Film The Man You Love to Hate von Erich von Stroheim hatten. Auch mein schwarzes Haar war vergleichbar mit Pomade festgeklebt.
Später stellte sich heraus, dass man Mick, genau wie mich, nur durch Kitzeln zum Aufgeben zwingen konnte. Spät in seiner Laufbahn kassierte er eine beispiellose Niederlage, weil sein Gegner diese hinterhältige Taktik anwandte, worauf der Meister dem Ring empört den Rücken kehrte.
Um 1961 übte ich meine Spezialtechnik »Fliegende Schere« vor dem Fernseher und sackte dann immer so zusammen, als sei ich von einem Vorderarmschlag niedergestreckt worden. Schließlich wurde es den Nachbarn unter uns zu bunt, dass ich ständig von den Möbeln heruntersprang; und außerdem wollte meine Mutter die Wohnung aufräumen. Deshalb überredete sie meinen Dad, mich samstagnachmittags mit zur Arbeit ins Hammersmith Palais zu nehmen.
Das war der Arbeitsplatz meines Vaters. Sein Büro. Seine Fabrik.
Es war ein altes Straßenbahndepot, das zu einem Tanzpalast umgebaut worden war, eingeklemmt zwischen der Kneipe The Laurie Arms und einer Ladenzeile ganz in der Nähe vom Hammersmith Broadway.
Während andere Väter abends um halb sechs nach Hause kamen, machte sich mein Vater erst abends um sechs zur Arbeit fertig, oder, wie in diesem Fall, samstagnachmittags. Mein Dad war Sänger im Joe Loss Orchestra.
Die Wände des Palais sahen aus, als seien sie mit dunklem Samtstoff überzogen, doch wenn man mit der Hand darüberfuhr, rieselte es wie Staub herab. Es roch ziemlich merkwürdig und fühlte sich komisch an. Nicht gerade ein Ort für Kinder.
Heute kann man sich kaum noch vorstellen, dass ein Etablissement wie dieses für so wenige Gäste schon nachmittags öffnete, doch wenn das Joe Loss Orchestra auf der Drehbühne allmählich sichtbar wurde, konnte man schon vergessen, dass es draußen noch hell war.
Auf der Galerie war ich sicher und konnte auf die Tanzfläche schauen. Ich bekam eine Flasche Limonade und eine Packung Chips in die Hand gedrückt und die strikte Anweisung, mit niemandem zu reden.
Das Publikum war so seltsam wie spärlich. Als ich darauf hinwies, dass zwei ältere Damen miteinander tanzten, hieß es, das wären »alte Jungfern«.
Da war eine Mutter, die ihrer kleinen Tochter Tanzschritte beibrachte und sie dabei manchmal hochhob und auf ihre eigenen Füße stellte, um dem Mädchen das Gefühl für den richtigen Rhythmus zu vermitteln.
Das Kommando über die Tanzfläche hatten die Profitänzer, die die Nachmittagsvorstellungen am Samstag für Trainingseinheiten nutzten. Eifersüchtig hüteten sie ihr Territorium und waren unduldsam gegenüber unachtsamen Hindernissen wie Kindern. Aus meiner Perspektive wirkten ihre hochnäsigen Gesichter und ihre unvermittelt einfrierenden Posen ziemlich lächerlich, wenn sie den Kopf schief legten und ihren Hals wie pickende Hühner bewegten. Manchmal hatten sie auch etwas Bedrohliches an sich, vor allem wenn sie beim Quickstep in den Galopp schalteten. Aus demselben Grund fürchten Infanteristen die Angriffe der Kavallerie.
Sonst war niemand auf der Galerie, abgesehen von den Frauen, die für die Garderobe zuständig waren, und einem Kioskverkäufer, der Erfrischungen anbot. Ich glaube, mein Dad hatte eine von ihnen beauftragt, von Zeit zu Zeit nach mir zu sehen, um sicherzugehen, dass ich nicht umherirrte.
Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen, denn ich starrte wie gebannt auf die Bühne.
Das Joe Loss Orchestra war damals eines der erfolgreichsten Tanzorchester im Land. Es bestand aus drei und manchmal auch vier Trompetern, vier Posaunisten, fünf Saxofonisten, einer Rhythmusgruppe und drei Sängern. Ihre Sets und Radiosendungen eröffneten und beendeten sie jeweils mit ihrer Erkennungsmelodie »In the Mood«, die sie sich vom Glenn Miller Orchestra geliehen hatten.
Eigentlich spielten sie eine ganze Menge Kompositionen von Miller aus den Kriegsjahren, wie zum Beispiel die wunderbar sentimentalen Stücke »Moonlight Serenade« und »Pennsylvania 6-5000«, bei dem die Bandmitglieder die Telefonnummer der Titelzeile laut ausrufen. Mein Lieblingsstück war »American Patrol«, wahrscheinlich weil es wie der Titelsong eines Räuber-und-Gendarm-Films klang.
Was die Gestaltung an musikalischer Abenteuerlust vermissen ließ, machte Joe Loss wett, indem er Arrangeure mit scharfem Gehör für kurzlebige Tanzmoden auftrieb. Sie hatten einen Hit mit »Must Be Madison« und nahmen Songs mit humoristischen Elementen auf. Die hießen etwa »March of the Mods« und »March of the Voomins«. Den Titel »Go Home, Bill Ludendorf« schrieb mein Dad gemeinsam mit dem Bandpianisten Syd Lucas.
Mein kindliches Gehör war noch unbefangen gegenüber dem schmalzigen Arpeggio, das die Bläser in »Wheels Cha Cha« spielten. Wegen der lustigen Tanzschritte wartete ich immer auf den Tango, auf die Paso-doble-Stücke oder auf den Samba, weil mein Vater dann die Rassel nahm oder auf der Conga spielte. Die professionellen Turniertänzer machten sich nicht viel aus Sängern, weil die beim Phrasieren den Takt herumreißen. Deshalb kam mein Dad auch nur ein oder zwei Mal am Nachmittag zum Einsatz.
Ich wartete ungeduldig auf diese Augenblicke, trat mit dem Fuß gegen die Wand der Galerie, stocherte träge in einem auf der Tischplatte befestigten Gehäuse mit Klappdeckel herum, bis ich meinen grauen, von Asche bestäubten Finger herauszog.
Schließlich wurde mein Vater ans Mikrofon gebeten, um ein spanisches Lied zu singen. Er konnte tatsächlich Spanisch. Einmal errötete die spanische Ehefrau eines Freundes von mir, als sie sich erkundigte, wo er Spanisch gelernt habe.
»Im Bett«, antwortete er.
Ich glaube, er sagte die Wahrheit.
Mit seinem Talent, sich die Songs nach ihrem Klang anzueignen, gelang es ihm, die meisten Leute zu blenden, wenn sie ihn baten, auf Italienisch, Französisch oder gar Jiddisch zu singen. Der internationale Hit aus Argentinien »Cuando Calienta el Sol« und Peppino di Capris schwermütiger italienischer Popsong »Roberta«, auf Spanisch gesungen, waren zwei Rumbas, die er an diesen Nachmittagen sang. Sie wurden schließlich für das Album mit dem wunderbaren Titel Go Latin with Loss aufgenommen, auf dem Ross auch »La Bamba« von Ritchie Valens sang.
Mein Vater sah nicht gerade so aus wie der typisch romantische Frontmann. Er war nur einsachtundsechzig groß und trug eine schwarze Hornbrille wie die, die ich selbst größtenteils im Laufe meiner Karriere zur Schau gestellt habe. Sein Haar war an den Seiten angeklatscht und zu einer dezenten pechschwarzen Schmalztolle gestylt, bis um 1965 auch ihn die Mode einholte, das Haar nach vorn zu kämmen, und er bei Topper in der Carnaby Street Chelsea-Stiefel mit hohen Absätzen kaufte.
Im Jahr 1961 war mein Vater dreiunddreißig und »die Jungs in der Band«, wie er sie immer nannte, wirkten auf mich wie alte Männer, waren aber wahrscheinlich auch nur Ende dreißig, Anfang vierzig. Sie trugen zusammenpassende Bandgarderobe mit Schalkragen, Jacken in Weinrot und Babyblau sowie Anzughosen mit einem Seitenstreifen aus glänzendem Satin. Bei den Nachmittagsvorstellungen trug mein Vater einen dunklen Straßenanzug und Abendgarderobe, wenn die Umstände es erforderten. Die Ansicht, einen Anzug zu tragen, wenn man zur Arbeit geht, verfestigte sich derart in mir, dass es bis auf den heutigen Tag schon gut achtunddreißig Grad Celsius werden muss, bevor ich mein Jackett ausziehe.
Ende 1980 hatte ich bereits meinen eigenen kurzen Karrieremoment als Blamage der Popmusik hinter mir, als mein Dad und ich uns mit Rose Brennan, der ehemaligen Starsängerin von Joe Loss, und dem Tänzer Lionel Blair in einem durch einen Vorhang abgetrennten Bereich im Ballsaal des Lancaster-Gate-Hotels unterhielten. Auf dem Fernsehschirm konnte ich sehen, wie Joe seine Band in dem Stil dirigierte, wie ich ihn aus meiner Kindheit kannte. Noch immer stieß er mit einer formvollendeten Handbewegung die Spitze seines Taktstocks zuerst Richtung Fußboden, danach zur Decke, wobei er seinen kleinen Finger...