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Ungeheuer ist der Mensch

Eine Geschichte der Ethik von Sokrates bis Adorno

AutorVolker Spierling
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl429 Seiten
ISBN9783406704192
FormatPDF/ePUB
KopierschutzDRM/Wasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Auf die Fragen nach dem richtigen Handeln und dem guten Leben hat die westliche Philosophie in den vergangenen 2400 Jahren sehr verschiedene Antworten gegeben. Volker Spierling greift elf grundlegende ethische Positionen heraus, die er im Kontext der sich in der Geschichte wandelnden Weltsichten und Revolutionen des Denkens reflektiert und vertieft vorstellt. Ist der Mensch ein grässliches, unfassbares Ungeheuer oder ein sanftmütiges, einsichtiges Wesen? Der Aufgabe, Antworten auf diese und andere für die Ethik entscheidende Fragen zu geben, sind Philosophen auf unterschiedliche Weisen begegnet. Während Augustinus das Gute in der Liebe zu Gott findet, erhebt Nietzsche den überwältigenden Lebenswillen zum Prinzip des Handelns. Die elf chronologisch angeordneten Kapitel werden mit Stichworten zu Leben und Werk der Philosophen eingeleitet, die die Verflechtung mit dem Geschehen ihrer Zeit sowie die Bedeutung ihrer Schriften unterstreichen. Eine Zusammenschau am Ende des Buches gibt anhand einiger Hauptmotive einen kurzen Überblick über die Positionen von Sokrates bis Adorno.

Volker Spierling hat zunächst das Handwerk des Schriftsetzers gelernt und dann Philosophie, Pädagogik, Psychologie und Soziologie studiert. Er arbeitet als Publizist und Philosophiedozent, hat zahlreiche Schriften Arthur Schopenhauers herausgegeben und eine sehr erfolgreiche Kleine Geschichte der Philosophie vorgelegt.

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Leseprobe

ANFÄNGE DER WESTLICHEN PHILOSOPHIE


Mythos und Logos


«So ward Zeus’ Wille vollendet.»

Homer, Ilias (Beginn des ersten Gesangs)

Die Grundlage des griechischen Daseins ist der Mythos (gr. Erzählung, Rede). Die Götter- und Heldengeschichten, wie sie von alters her von Homer (ca. 8.Jh. v. Chr.) und Hesiod (ca. 7.Jh. v. Chr.) oder durch den Sagenstoff um Orpheus (ca. 6.Jh. v. Chr.) überliefert werden, spiegeln existentielle Grunderfahrungen des Menschen. In die bildhafte Vorstellungswelt dieser Mythen sind starke Begierden und tiefe Leidenserfahungen eingeschrieben, schuldhafte Selbstbehauptungen des Menschen gegenüber Göttern wie generell die Konflikthaftigkeit des Lebens. Die Welt der griechischen Mythen mit ihren Erzählungen vom Anfänglichen, vom Ursprünglichen kann verstanden werden als eine Vorform der Philosophie.

Bei dem komplexen Thema Mythologie gilt es zunächst zu unterscheiden zwischen der (für uns heute nicht mehr nachvollziehbaren) Wirklichkeit des unmittelbar gelebten, tatsächlichen Mythos und dem in späterer Zeit adaptierten, gedachten Mythos. Anfangs wird der Mythos, der mit Kult und Ritus verbunden ist, nicht für eine Fabel oder ein Märchen gehalten. Er gilt vielmehr als verpflichtende Wahrheit, als heiliges Wort vom Göttlichen, als erfahrbare Offenbarung der Gotterfülltheit allen Seins. Wenn Zeus auf griechischen Malereien die Schale mit der Opferspende ausgießt, dann opfert er dem alles umfassenden Urgöttlichen und Uranfänglichen, das sogar die Götter noch trägt, selbst aber keinen Namen mehr hat.[3]

In der archaischen Zeit umschließt das mythische Weltbild vollständig das Bewusstsein, das noch unmittelbar eins ist mit der erlebten religiösen Wirklichkeit. Zu diesem ursprünglichen Weltbild, das Weltdeutungen und Orientierungen gibt, gehört die Entstehung des Kosmos, der Götter und der Menschen. Wenn zum Beispiel der Priester den Mythos der Kosmogonie vorträgt, dann ereignet sich im Augenblick des Sprechens die Weltschöpfung, eine Offenbarung des immergleichen ewigen göttlichen Seins.

Auch in den klassischen griechischen Tragödien, die ein Teil des alljährlichen Gottesdienstes in Athen sind, ereignet sich der Mythos als religiöses Geschehen. Die Statue des Dionysos wird in das Theater gebracht, damit der Gott die Tragödien mitansehen kann. Die Aufführungen sind ein kultisches Spiel und damit mehr als ein bloß ästhetisches Phänomen. Aischylos, der gewaltigste Tragiker, zeigt zum Beispiel in den «Persern» die frevlerische Hybris des Menschen, der sich über die von den Göttern gesetzten Schranken hinwegsetzt und deshalb durch die von ihnen verhängte Verblendung in sein Unheil rennen muss. Lernen und Erkennen durch Leid ist der Weg, den der Perserkönig Xerxes geht. «Denn wenn die Götter listigen Trug ersinnen, welcher sterbliche Mann wird dann entkommen?» (Aischylos, Die Perser, Vers 93f.)

In der Zeit vor der Entstehung der Philosophie beherrscht der Mythos das Denken. Die ursprüngliche religiöse Erfahrung der mythischen Welt vergöttlicht und vermenschlicht die Erscheinungen. Der Mensch des Mythos vermag nicht auf prüfende Distanz zur Welt und zu sich selbst zu gehen. Noch fehlt die Einsicht, dass die Welt etwas anderes sein kann als ihre Deutung. Das Denken, ohne erforschenden Bezug auf Welt und Ich, ist unfrei. Der Mythos ist die Sache selbst, ein Bewusstsein ohne Verwunderung und Fraglichwerden, eine schicksalhafte Fügsamkeit.

Um die Wende vom 7. zum 6.Jahrhundert v. Chr. leben die sogenannten sieben Weisen. Es sind von Legenden umrankte halbmythische Persönlichkeiten, Denker und Staatsmänner, die namentlich und zeitlich nicht genau festlegbar sind. Von ihnen stammen, von späteren Autoren unsicher überlieferte lapidare Spruchweisheiten, erste moralische Anweisungen zu einer gelingenden Lebenspraxis. Beispiele dieser Reste uralter Philosophie sind: «Erkenne dich selbst» (vermutlich Thales, Inschrift über dem Apollontempel in Delphi); «Preise den Gestorbenen glücklich» (Chilon); «Nichts zu sehr» (Solon); «Den rechten Augenblick erkennen» (Pittakos); «Die meisten Menschen sind schlecht» (Bias); «Maßhalten ist das Beste» (Kleobulos); «Gefährlich ist vorschnelles Wesen» (Periander, Fragm.,65f.[4]).

Etwa im 6.Jahrhundert v. Chr. bahnt sich in den griechischen Kolonien in Ionien, der asiatischen Westküste der heutigen Türkei, eine tiefgreifende langwierige Revolution des Geistes an. Vereinfacht kann dieser Wandel durch die Formel «Vom Mythos zum Logos» gekennzeichnet werden. Logos (gr. gesprochenes Wort, Begriff, Unterredung, Vernunft) meint hier ein freies Denken aufgrund selbst gebildeter abstrakter Begriffe statt vorgegebener mythologischer Bilder. Neben dem Mythos, der weiterhin bestehen bleibt und seine Bedeutung beibehält, entwickeln sich alternativ zu ihm die Philosophie und mit ihr die Voraussetzungen zukünftiger ethischer Reflexionen und Theoriebildungen.

Die ersten vor Sokrates lebenden Philosophen, die sogenannten Vorsokratiker, sind Denker, die die Natur erforschen (ca. 600450 v. Chr.). Der erste westliche Philosoph überhaupt ist Thales aus Milet (ca. 624546 v. Chr.). Er ist der älteste der oben genannten sieben Weisen. Seine Werke wie auch die aller anderen vorsokratischen Denker sind verloren oder nur als Fragmente erhalten.

Die Vorsokratiker suchen die Natur mit einem noch nie dagewesenen Modell des Erklärens geistig zu durchdringen und zu erforschen. Thales erklärt beispielsweise das Phänomen Erdbeben erstmals ohne Rückgriff auf die religiös-mythologische Überlieferung. Für ihn ist es nicht mehr der wütende Meeresgott Poseidon, der seinen Dreizack so heftig in die Erde rammt, dass sie erbebt. Thales behauptet vielmehr, dass die Erde als Scheibe auf dem Wasser schwimmt und gelegentlich bebt, wenn sich dieses heftig bewegt. An die Stelle eines persönlichen Ur-hebers tritt eine unpersönliche Ur-sache. Eine begriffliche Konstruktion ersetzt die bildhafte mythische Personifikation. Dies ist der Beginn einer Entmythologisierung der Naturbetrachtung.

Philosophie entsteht als Frage nach dem Anfang (gr. arché, lat. principium: Anfang, Ursprung, Ursache, Prinzip). Für Thales beispielsweise ist das Wasser das Prinzip von allem. Die Welt besteht und entwickelt sich aus dem Urstoff Wasser, aus Feuchtigkeit. Der Gedanke ist ausgesprochen philosophisch. Er macht eine Aussage über den Ursprung der Dinge, er kommt ohne mythische Erzählung aus und er fasst schließlich alles in eins zusammen (vgl. Nietzsche, NS,813). Thales spricht von der Einheit des Seienden und nennt sie weder Gott noch Mensch, sondern Wasser. Philosophie entspringt aus dem Mythos und im Widerspruch zum Mythos.

Die Naturphilosophen führen die unbeständigen Erscheinungen der Natur auf einen Urgrund zurück, der den Wechsel aller Dinge ermöglicht, selbst aber bleibenden Bestand hat. Gesucht wird, wenn auch noch nicht ausdrücklich als Problem formuliert, was schon immer ohne Zutun von Menschen und Göttern vorhanden ist. Einheit und Wandel werden mit Hilfe des Begriffe bildenden Logos zusammengedacht. Im Hinblick auf eine letzte fundamentale Gemeinsamkeit der Naturerscheinungen wird nach dem Wesen der Welt geforscht. Anaximenes bestimmt es als Luft, Pythagoras als Zahl, Empedokles als Elemente, Demokrit als Atome. Einzelne Philosophen treten aus der kollektiven Geschlossenheit des Mythos heraus und suchen unabhängige Erklärungen der Natur.

Von ethischer Bedeutung ist Pythagoras (6. Jh. v. Chr.). Der Ordensgründer und Mathematiker lehrt die Unsterblichkeit der Seele und die Seelenwanderung, die er von den orphischen Mysterien (Dionysosreligion) übernimmt. Dieser Lehre zufolge ist die Seele wegen früherer Verfehlungen zur Strafe in einen menschlichen oder tierischen Leib eingekerkert und mit diesem leiblichen Übel und Schmutz verhängnisvoll bestraft. Aufgabe des Menschen ist die moralische Reinigung der Seele durch asketische Enthaltsamkeitsgebote (z.B. den Verzicht auf Fleischgenuss). Der ganze Himmel ist Harmonie und Zahl, eine große schöne universale Ordnung, der auch die Seele zu entsprechen hat. Ziel ist die Erlösung von den Wiedergeburten, die endgültige Befreiung vom Körper und die körperlose Verähnlichung mit dem Göttlichen in der Region des Lichts. Ein wesentlich neuer Aspekt für das ethische Denken liegt darin, dass Pythagoras die Seele zum wahren Selbst des Menschen erhebt, der sich um sein wirkliches...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Zum Buch429
Über den Autor429
Widmung4
Impressum4
Inhalt5
Vorwort11
Anfänge der Westlichen Philosophie15
Mythos und Logos15
Sophistik21
Sokrates: «Um Einsicht, Wahrheit und möglichste Besserung deiner Seele kümmerst du dich nicht und machst dir darüber keine Sorge?»27
Leben und Werk27
Der göttliche Auftrag29
Wissen und Scheinwissen31
Apologie33
Die Frage nach dem Guten36
Den Tod vor Augen42
Platon: «Die Idee des Guten muß erkannt haben, wer einsichtig handeln will, sei es in persönlichen oder in öffentlichen Angelegenheiten»45
Leben und Werk45
Was ist der Mensch?48
Der überhimmlische Ort49
Das Schöne selbst52
Seele und Staat57
Das Höhlengleichnis und die Idee des Guten59
Seelenwanderung67
Aristoteles: «Leben nach der Vernunft»71
Leben und Werk71
Wirkliches Leben73
Die richtige Mitte treffen76
Edle und niedere Gesinnung80
Denken des Denkens85
Lucius Annaeus Seneca: «Solange wir atmen, wollen wir Menschlichkeit üben»91
Leben und Werk91
Torheit der Menge93
Die Stoa95
Sittliche Vollkommenheit97
Unerschütterlichkeit des Weisen98
Vernunft und Leidenschaft100
Humanitas104
Aurelius Augustinus: «Die rechte Ordnung der Liebe»107
Leben und Werk107
Liebe zu Gott110
Der innere Mensch116
Die verdammte Menschenmasse121
Elend und Jammer des Erdenlebens125
Gottesstaat und Teufelsstaat128
David Hume: «Die Moralität wird durch das Gefühl bestimmt»131
Leben und Werk131
Die metaphysikfreie Wissenschaft vom Menschen134
Kausalität139
Substanz142
Beziehungswelt der Gefühle145
Gefühl und Vernunft148
Sein und Sollen151
Modell der vollkommenen Tugend153
Immanuel Kant: «Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne»161
Leben und Werk161
Die Kritik der reinen Vernunft als Grundlage von Kants Ethik166
I. Vernunftkritik und Metaphysik170
Transzendentalphilosophie – die Umänderung der Denkart170
Anschauungsformen und Kategorien176
Transzendentale Apperzeption – die Urbedingung aller Erkenntnis181
Ideen – das Blendwerk objektiver Behauptungen185
Grenzbestimmung194
II. Ethik und Postulierte Metaphysik195
Der gute Wille195
Der kategorische Imperativ201
Freiheit – eine andere Ordnung der Dinge207
Metaphysik der Menschenwürde211
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: «Der Geist ist die sittliche Wirklichkeit»217
Leben und Werk217
Geist und Geschichte221
Wissen als Vermittlung224
Objektiver Geist231
Moralität und Sittlichkeit234
Die sittliche Lebenswelt – Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat238
Die Weltgeschichte247
Arthur Schopenhauer: «Tiefgefühltes, universelles Mitleid mit allem, was Leben hat»253
Leben und Werk253
Die Welt257
Animal metaphysicum262
Metaphysik aus empirischen Erkenntnisquellen269
Die Metaphysik des Willens274
Antimoralische Potenzen280
Das Mitleid286
Nichts293
Friedrich Nietzsche: «Jenseits von Gut und Böse»297
Leben und Werk297
Perspektiven-Optik des Lebens303
Verführung der Sprache311
Wille zur Macht315
Gott ist tot oder Der Nihilismus steht vor der Tür319
Umwertung der Werte326
Spiel des Lebens335
Theodor W. Adorno: «… daß Auschwitz nicht sich wiederhole …»339
Leben und Werk339
Athen und Auschwitz345
Ausdruck und Begriff353
Hinter der Gardine360
Moral des Denkens361
Philosophie nach Auschwitz361
Dialektik der Aufklärung365
Kulturindustrie370
Negative Dialektik374
Anhang383
Die Positionen von Sokrates bis Adorno im Überblick385
Anmerkungen407
Siglen der verwendeten Primärliteratur410
Literaturauswahl418

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