ANFÄNGE DER WESTLICHEN PHILOSOPHIE
Mythos und Logos
«So ward Zeus’ Wille vollendet.»
Homer, Ilias (Beginn des ersten Gesangs)
Die Grundlage des griechischen Daseins ist der Mythos (gr. Erzählung, Rede). Die Götter- und Heldengeschichten, wie sie von alters her von Homer (ca. 8.Jh. v. Chr.) und Hesiod (ca. 7.Jh. v. Chr.) oder durch den Sagenstoff um Orpheus (ca. 6.Jh. v. Chr.) überliefert werden, spiegeln existentielle Grunderfahrungen des Menschen. In die bildhafte Vorstellungswelt dieser Mythen sind starke Begierden und tiefe Leidenserfahungen eingeschrieben, schuldhafte Selbstbehauptungen des Menschen gegenüber Göttern wie generell die Konflikthaftigkeit des Lebens. Die Welt der griechischen Mythen mit ihren Erzählungen vom Anfänglichen, vom Ursprünglichen kann verstanden werden als eine Vorform der Philosophie.
Bei dem komplexen Thema Mythologie gilt es zunächst zu unterscheiden zwischen der (für uns heute nicht mehr nachvollziehbaren) Wirklichkeit des unmittelbar gelebten, tatsächlichen Mythos und dem in späterer Zeit adaptierten, gedachten Mythos. Anfangs wird der Mythos, der mit Kult und Ritus verbunden ist, nicht für eine Fabel oder ein Märchen gehalten. Er gilt vielmehr als verpflichtende Wahrheit, als heiliges Wort vom Göttlichen, als erfahrbare Offenbarung der Gotterfülltheit allen Seins. Wenn Zeus auf griechischen Malereien die Schale mit der Opferspende ausgießt, dann opfert er dem alles umfassenden Urgöttlichen und Uranfänglichen, das sogar die Götter noch trägt, selbst aber keinen Namen mehr hat.[3]
In der archaischen Zeit umschließt das mythische Weltbild vollständig das Bewusstsein, das noch unmittelbar eins ist mit der erlebten religiösen Wirklichkeit. Zu diesem ursprünglichen Weltbild, das Weltdeutungen und Orientierungen gibt, gehört die Entstehung des Kosmos, der Götter und der Menschen. Wenn zum Beispiel der Priester den Mythos der Kosmogonie vorträgt, dann ereignet sich im Augenblick des Sprechens die Weltschöpfung, eine Offenbarung des immergleichen ewigen göttlichen Seins.
Auch in den klassischen griechischen Tragödien, die ein Teil des alljährlichen Gottesdienstes in Athen sind, ereignet sich der Mythos als religiöses Geschehen. Die Statue des Dionysos wird in das Theater gebracht, damit der Gott die Tragödien mitansehen kann. Die Aufführungen sind ein kultisches Spiel und damit mehr als ein bloß ästhetisches Phänomen. Aischylos, der gewaltigste Tragiker, zeigt zum Beispiel in den «Persern» die frevlerische Hybris des Menschen, der sich über die von den Göttern gesetzten Schranken hinwegsetzt und deshalb durch die von ihnen verhängte Verblendung in sein Unheil rennen muss. Lernen und Erkennen durch Leid ist der Weg, den der Perserkönig Xerxes geht. «Denn wenn die Götter listigen Trug ersinnen, welcher sterbliche Mann wird dann entkommen?» (Aischylos, Die Perser, Vers 93f.)
In der Zeit vor der Entstehung der Philosophie beherrscht der Mythos das Denken. Die ursprüngliche religiöse Erfahrung der mythischen Welt vergöttlicht und vermenschlicht die Erscheinungen. Der Mensch des Mythos vermag nicht auf prüfende Distanz zur Welt und zu sich selbst zu gehen. Noch fehlt die Einsicht, dass die Welt etwas anderes sein kann als ihre Deutung. Das Denken, ohne erforschenden Bezug auf Welt und Ich, ist unfrei. Der Mythos ist die Sache selbst, ein Bewusstsein ohne Verwunderung und Fraglichwerden, eine schicksalhafte Fügsamkeit.
Um die Wende vom 7. zum 6.Jahrhundert v. Chr. leben die sogenannten sieben Weisen. Es sind von Legenden umrankte halbmythische Persönlichkeiten, Denker und Staatsmänner, die namentlich und zeitlich nicht genau festlegbar sind. Von ihnen stammen, von späteren Autoren unsicher überlieferte lapidare Spruchweisheiten, erste moralische Anweisungen zu einer gelingenden Lebenspraxis. Beispiele dieser Reste uralter Philosophie sind: «Erkenne dich selbst» (vermutlich Thales, Inschrift über dem Apollontempel in Delphi); «Preise den Gestorbenen glücklich» (Chilon); «Nichts zu sehr» (Solon); «Den rechten Augenblick erkennen» (Pittakos); «Die meisten Menschen sind schlecht» (Bias); «Maßhalten ist das Beste» (Kleobulos); «Gefährlich ist vorschnelles Wesen» (Periander, Fragm.,65f.[4]).
Etwa im 6.Jahrhundert v. Chr. bahnt sich in den griechischen Kolonien in Ionien, der asiatischen Westküste der heutigen Türkei, eine tiefgreifende langwierige Revolution des Geistes an. Vereinfacht kann dieser Wandel durch die Formel «Vom Mythos zum Logos» gekennzeichnet werden. Logos (gr. gesprochenes Wort, Begriff, Unterredung, Vernunft) meint hier ein freies Denken aufgrund selbst gebildeter abstrakter Begriffe statt vorgegebener mythologischer Bilder. Neben dem Mythos, der weiterhin bestehen bleibt und seine Bedeutung beibehält, entwickeln sich alternativ zu ihm die Philosophie und mit ihr die Voraussetzungen zukünftiger ethischer Reflexionen und Theoriebildungen.
Die ersten vor Sokrates lebenden Philosophen, die sogenannten Vorsokratiker, sind Denker, die die Natur erforschen (ca. 600–450 v. Chr.). Der erste westliche Philosoph überhaupt ist Thales aus Milet (ca. 624–546 v. Chr.). Er ist der älteste der oben genannten sieben Weisen. Seine Werke wie auch die aller anderen vorsokratischen Denker sind verloren oder nur als Fragmente erhalten.
Die Vorsokratiker suchen die Natur mit einem noch nie dagewesenen Modell des Erklärens geistig zu durchdringen und zu erforschen. Thales erklärt beispielsweise das Phänomen Erdbeben erstmals ohne Rückgriff auf die religiös-mythologische Überlieferung. Für ihn ist es nicht mehr der wütende Meeresgott Poseidon, der seinen Dreizack so heftig in die Erde rammt, dass sie erbebt. Thales behauptet vielmehr, dass die Erde als Scheibe auf dem Wasser schwimmt und gelegentlich bebt, wenn sich dieses heftig bewegt. An die Stelle eines persönlichen Ur-hebers tritt eine unpersönliche Ur-sache. Eine begriffliche Konstruktion ersetzt die bildhafte mythische Personifikation. Dies ist der Beginn einer Entmythologisierung der Naturbetrachtung.
Philosophie entsteht als Frage nach dem Anfang (gr. arché, lat. principium: Anfang, Ursprung, Ursache, Prinzip). Für Thales beispielsweise ist das Wasser das Prinzip von allem. Die Welt besteht und entwickelt sich aus dem Urstoff Wasser, aus Feuchtigkeit. Der Gedanke ist ausgesprochen philosophisch. Er macht eine Aussage über den Ursprung der Dinge, er kommt ohne mythische Erzählung aus und er fasst schließlich alles in eins zusammen (vgl. Nietzsche, NS,813). Thales spricht von der Einheit des Seienden und nennt sie weder Gott noch Mensch, sondern Wasser. Philosophie entspringt aus dem Mythos und im Widerspruch zum Mythos.
Die Naturphilosophen führen die unbeständigen Erscheinungen der Natur auf einen Urgrund zurück, der den Wechsel aller Dinge ermöglicht, selbst aber bleibenden Bestand hat. Gesucht wird, wenn auch noch nicht ausdrücklich als Problem formuliert, was schon immer ohne Zutun von Menschen und Göttern vorhanden ist. Einheit und Wandel werden mit Hilfe des Begriffe bildenden Logos zusammengedacht. Im Hinblick auf eine letzte fundamentale Gemeinsamkeit der Naturerscheinungen wird nach dem Wesen der Welt geforscht. Anaximenes bestimmt es als Luft, Pythagoras als Zahl, Empedokles als Elemente, Demokrit als Atome. Einzelne Philosophen treten aus der kollektiven Geschlossenheit des Mythos heraus und suchen unabhängige Erklärungen der Natur.
Von ethischer Bedeutung ist Pythagoras (6. Jh. v. Chr.). Der Ordensgründer und Mathematiker lehrt die Unsterblichkeit der Seele und die Seelenwanderung, die er von den orphischen Mysterien (Dionysosreligion) übernimmt. Dieser Lehre zufolge ist die Seele wegen früherer Verfehlungen zur Strafe in einen menschlichen oder tierischen Leib eingekerkert und mit diesem leiblichen Übel und Schmutz verhängnisvoll bestraft. Aufgabe des Menschen ist die moralische Reinigung der Seele durch asketische Enthaltsamkeitsgebote (z.B. den Verzicht auf Fleischgenuss). Der ganze Himmel ist Harmonie und Zahl, eine große schöne universale Ordnung, der auch die Seele zu entsprechen hat. Ziel ist die Erlösung von den Wiedergeburten, die endgültige Befreiung vom Körper und die körperlose Verähnlichung mit dem Göttlichen in der Region des Lichts. Ein wesentlich neuer Aspekt für das ethische Denken liegt darin, dass Pythagoras die Seele zum wahren Selbst des Menschen erhebt, der sich um sein wirkliches...