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Unser Mann in London

AutorMoritz Volz
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644459014
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Mit 16 ging Moritz Volz nach England, um in der Premier League Fußball zu spielen - und blieb elf Jahre. Er wurde, was sich Engländer nicht vorstellen konnten: ein Deutscher, der sie zum Lachen bringt. Mit feiner Ironie und genauem Blick für das Skurrile und Schöne erzählt Moritz Volz von seinem Leben in London: Begegnungen mit englischen Handwerkern und deutschen Touristen, britischem Humor, Londoner Pubmannschaften und seinem Versuch, Kricket zu verstehen. Eine Hommage an eine schillernde Weltstadt und ein spleeniges Land.

Moritz Volz, Jahrgang 1983, ist in Siegen aufgewachsen und wechselte als 16-Jähriger vom FC Schalke 04 zum FC Arsenal. 2003 ging der Verteidiger zum FC Fulham und spielte bis 2009 für den Verein im Londoner Westen. Seit 2010 ist er zurück in Deutschland und beim FC St. Pauli unter Vertrag.

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Leseprobe

Zwei Und nun zum Wetter


Für den Bus gab es in Barnet keine Haltestelle. Man stellte sich an die Straße und bat den Fahrer mit einem Handzeichen anzuhalten. Majestätische Bäume säumten die Bürgersteige, die breiten Straßen der Siedlung waren bei Fröschen und Fahrschulen sehr beliebt. Die Frösche zog es zum Weiher am Greenhill Park. Die Fahrlehrer schätzten die totale Abwesenheit von Verkehr. London, die Stadt, zu der Barnet gehört, schien eine Welt weit weg.

Anders als Paris, Rom oder Berlin ist London über die Jahrhunderte nicht nach außen gewuchert, sondern es wuchs nach innen: Die Dörfer um die Stadt wurden größer und breiter, bis sie verschmolzen. Deshalb gibt es in Londons Außenbezirken keine Trabantenstädte, sondern ehemalige Orte wie Barnet am Ende der Northern Line, die immer noch das Flair einer abgelegenen Kleinstadt versprühen.

Man musste schon wie ich aus Bürbach kommen, um Barnet groß und beeindruckend zu finden. In Bürbach standen neben den üblichen Einfamilienhäusern ein paar drei- oder vierstöckige Mietblocks. Das waren also Hochhäuser, hatte ich als Kind gedacht. Staunend betrachtete ich nun die Häuser in Barnet. Wie nahe sie beieinanderstanden. Dabei waren es für Londoner Verhältnisse weiträumige grüne Einfamilienhäuser. In chaotischer Ordnung reihten sich prächtige viktorianische Villen an schmucklose Sechziger-Jahre-Neubauten aus Kieselsteinpressplatten. Wie ein Mahnmal ragte der schreiend rote Briefkasten der Königlichen Post aus der Ruhe: als seien Briefe das Einzige, was Barnet mit der Stadt, mit dem, was in der Welt passierte, verband. Dabei wäre es nur eine Reise von 300 Metern gewesen, und der Trubel der Londoner Vorstadt hätte mich eingefangen, schon wäre ich am Barnet Hill auf einer dieser ewig gleichen Londoner High Streets gewesen, mit dem Pub, dem Wettbüro, dem Immobilienmakler und dem Sonnenstudio namens «Porentiefe Schönheit». Aber mich zog es kaum dorthin, als im Sommer 1999 mit 16 Jahren mein Leben als Londoner bei Familie Flint in Barnet begann. Was ich bei den Flints und im Training bei Arsenal erlebte, war so neu, so aufregend wie anstrengend für mich, dass mir das schon genug Stadtleben erschien.

 

Familie Flint wohnte in einem dreistöckigen Eckhaus. Der plötzlich wechselnde Stein in den Hausmauern ließ erkennen, wo einmal angebaut worden war. Die weißen Gardinen an den Fenstern blieben stets zugezogen. Drinnen strich Warren Flint ständig die Wände neu, tauschte Türklinken aus oder schliff die Stühle ab. Es ging nicht darum, ob etwas kaputt war, sondern dass mein Gastvater leidenschaftlich gerne reparierte und werkelte. Soweit ich das mit meinem Englisch verstand, war er Bauleiter von Beruf. Er lachte gerne und laut. Dabei wackelte sein mächtiger Bart, und seine Frau Eileen sah ihn in stiller Skepsis an.

Seit Jahren nahmen die Flints junge Fußballer von Arsenal auf. Die lange Erfahrung mit den Gastsöhnen hatte bereits Spuren hinterlassen. Die Keksdosen waren mit Klebezetteln markiert: «Fußballer» und «Familie Flint».

Außer mir wohnten noch zwei irische Arsenal-Jungs im Haus. Sie hießen Graham und Steven. Die anderen Jungs nannten sie Half Ear und Twig. Halb-Ohr und Zweig. Graham fehlte die Spitze von einem Ohr. Steven war dünn wie ein Ast. Später würden Sebastian Larsson aus Schweden und Ingi Højsted von den Färöer-Inseln einziehen. Ingi hortete Walfleisch im Kühlschrank, das schwarz wie Autoreifen war und wie parfümierte Lakritze schmeckte.

Wenn die Jungs vom Training nach Hause kamen, machten sie den Fernseher an und schauten SkySports. Der Sohn der Flints, Noel, war an der Universität. Kam er am Wochenende nach Hause, begrüßte er mich regelmäßig mit den Worten: «Ich heiße Noel und spiele Dudelsack.» Das war der eine deutsche Satz, den er beherrschte. Die Tochter Fiona schien mein «Good morning» nicht gehört zu haben, als ich sie das erste Mal grüßte. Beim zweiten Mal wusste ich es besser. Sie redete nicht mit jedem. Sie durchlebte gerade ihre Pubertät.

Unter dem Esstisch lag Elkar, der Schäferhund der Flints. Wir Arsenal-Jungs fütterten ihn heimlich mit dem Essen, das uns nicht schmeckte. Einmal kam Warren Flint ins Esszimmer, sein Blick fiel auf Elkar, und die Freundlichkeit in Warrens Augen erlosch. Ich sah unter dem Tisch nach. Elkar hatte das gesamte Gesicht voller Erbsen und Maiskörner. Warren Flint ging aus dem Zimmer und sagte nichts.

Ich dachte, ich müsste etwas tun, um mich zu integrieren, und bot den Flints an, den Rasen im Garten zu mähen. Hektisch lehnten sie ab. Ich setzte mich abends zum Fernsehschauen zu ihnen und betrachtete mit hochkonzentriertem Blick eine Vorabendserie, von der ich kaum ein Wort verstand. Dafür hatte ich nach wenigen Tagen etwas gelernt: Entweder Familie Flint oder die Fußballjungs schauten im Wohnzimmer fern, selten aber beide zusammen. Die Flints waren in ihrer Rolle als Gastfamilie wie die perfekten Fußballer: hochprofessionell, freundlich und immer distanziert.

Ich ging zu den Nachbarn, um mich vorzustellen, wie ich das aus Bürbach kannte. Eine Frau öffnete die Tür. Als sie skeptisch «Ja?» fragte, wusste ich nicht mehr weiter. Ich sah eine Plastikfolie über dem Teppich im Flur – ein Thema! – und sagte: «Ah, Sie renovieren.» Die Nachbarin sah erst die Plastikfolie, dann mich erstaunt an.

«Aber nein, das ist ein Teppichschutz, der ist immer da.»

«Oh, super – ich meine: wirklich großartig», stammelte ich und ging.

 

Zu meiner Überraschung fand ich heraus, dass noch jemand im Haus wohnte. Mary, die Großmutter der Flints, kam und verschwand wie eine Fee. Sie hatte ihren eigenen Wohnbereich, den sie von innen abschloss. Ich traf sie fast immer nur morgens in der Küche, wenn ich die Treppe zum Frühstück hinunterkam.

«Guten Morgen, ist das heute nicht ein glorreicher Tag? Keine Wolke am Himmel», begrüßte sie mich mit enthusiastischer Stimme. Im Laufe der Monate redete sie mit mir darüber, ob die Sonne heute wohl noch herauskommen würde, dass dieser Regen nicht die kleinste Absicht erkennen ließe abzunehmen, es heute eher windig war, aber sie sich noch gut erinnere, wie sie früher immer gesagt hätten, ein kleines bisschen Wind schade nie, denn er vertreibe dunkle Wolken. Jedes Mal sprach sie darüber mit einer Hingabe, die andere für Erzählungen von der Geburt ihrer Kinder reservierten. Das stetig lauter werdende Aufbrausen des kochenden Wassers im Teekessel bildete das konstante Hintergrundgeräusch für ihre ausführlichen Vorträge über das Wetter des Tages. Nie fragte sie: «Und wie geht es dir denn? Hast du schon Freunde in London gefunden?»

Oma Mary erzählt Graham und mir beim Frühstück vom Wetter, wie man an unseren begeisterten Gesichtern erkennt.

Natürlich ist das Wetter seit langem weltweit als Thema für all jene Gespräche etabliert, in denen man sich nichts zu sagen hat, aber höflich sein will. Doch die Ausdauer und die Detailverliebtheit, mit denen Großmutter Mary im Wetter schwelgte, ließen mich zum ersten Mal ahnen, zu welcher Kunstform es das Gespräch über das Wetter in London gebracht hat. Hinter den unendlichen Beschreibungen von Regen und Sonne verbirgt sich die herkuleshafte englische Anstrengung, bloß nicht unhöflich oder gar persönlich zu werden. Wohin das führen kann, erkannte ich, als ich einmal Arsenals Chefscout Steve Rowley mit einem exakt zur Hälfte krebsroten Gesicht begegnete.

Steve, der einer meiner besten Freunde werden sollte, war mit einem Fußballagenten zum Mittagessen verabredet gewesen.

«Großartig, die Sonne heute!»

«Wunderbar, nicht wahr?»

«Wollen wir draußen sitzen?»

«Nun, ich hätte nichts dagegen. Was meinen Sie?»

«Oh, wie Sie wollen», sagte Steve, obwohl er auf keinen Fall im Freien sitzen wollte. Es war viel zu warm, er würde schwitzen, vielleicht auch Kopfschmerzen kriegen.

«Dann schlage ich vor, wir bleiben auf der Terrasse.»

«Selbstverständlich», sagte Steve mit regungslosem Gesicht und fügte an: «Wollen Sie den Schattenplatz?»

Die Sonne knallte Steve das gesamte Mittagessen hindurch auf seine rechte Gesichtshälfte, eine klare Linie zwischen Weiß und Rot lief am nächsten Tag von der Stirn über die Nase zum Kinn hinunter. «Verdammte Hölle, der Kerl ließ mich die ganze Zeit in der Sonne sitzen, ohne zu merken, wie ich litt!», schimpfte Steve. Vielleicht lag es daran, dass er sich nichts hatte anmerken lassen?, meinte ich zu ihm. «Bah, das muss er doch merken!»

Wie genau sein Essenspartner Steves Verstimmung hätte bemerken sollen, ist unmöglich zu sagen. Vielleicht hatte Steve schon betont skeptisch geklungen, als er sagte: «Draußen sitzen? Oh, wie Sie wollen.» Vielleicht hatte Steve aber auch nur geglaubt, er lege einen betont argwöhnischen Ton in sein «Oh, wie Sie wollen».

Es gibt keinen klaren Code, um die wirkliche Botschaft zwischen all den höflichen Worten der Londoner zu entschlüsseln. Meistens muss man dem Gesprächspartner mit Andeutungen und Nachfragen so lange entgegenkommen, bis es ihm möglich wird, unangenehme oder auch nur unhöfliche Wahrheiten auszusprechen. Weil das nicht immer klappt, überbringen Londoner die harten Nachrichten lieber schriftlich.

Ich lebte schon Jahre bei den Flints, als ich einmal wegen eines Missverständnisses zwei Wochen mit der Miete in Rückstand geriet. Ich hatte nicht gewusst, dass von dem Moment an, als mein Profivertrag mit 17 in Kraft trat, nicht mehr Arsenal, sondern ich selbst die 80 Pfund pro Woche zahlen musste. Die Flints sagten mir das auch nicht. Sie behandelten mich 14 Tage lang, als wäre nichts. Dann...

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