Werner Schlegel: Jakob Augstein, der Sohn des Schriftstellers Martin Walsers, vermochte in seiner Spiegel-Kolumne vom 26. Februar 2018 mit einem einzigen Satz mein Unwohlsein beim Gedanken an einen AfD-Unvereinbarkeitsbeschluss auf den Punkt zu bringen: „So wie auch die öffentliche Empörung über den tatsächlichen Rassismus der AfD zu einer Ablenkung zu werden droht“, lautete er. In den Zeilen davor hatte Augstein die politisch-mediale Aufregung über den Unvereinbarkeitsbeschluss der Essener Tafel (künftige Nichtzulassung ausländischer Bedürftiger) als Heuchelei entlarvt: „Denn diese Empörung hat etwas Unpolitisches. Sie ist eine Ausweichbewegung. Eine Ablenkung.“ Eine vom eigentlichen Problem, nämlich der Frage nach Verantwortlichkeiten – was immer auch die nach unserer ganz persönlichen Verantwortung mit einschließt.
Nun halte ich die Empörung über eine mit rassistischem, sexistischem, homophobischem und vielleicht sogar mit – ganz sicher bin ich mir da zumindest bei deren Basispersonal nicht –faschistoidem Gedankengut herumzündelnden rechtsextremen Partei für durchaus berechtigt und noch mehr für verständlich. Aber darf sie davon ablenken, wer verantwortlich ist für das Wachstum der AfD? Welche Politik, welcher gesellschaftliche Zustand sie im Wortsinn populistisch machte?
Es gab immer Menschen mit extrem rechter Gesinnung in diesem Land. Es existierte ein Humus, gab Horde und fruchtbare Schöße, aus denen sie immer aufs Neue hervorkrochen. Und nicht zuletzt gesellschaftsrelevante Institutionen, in denen sie regelrecht herangezüchtet wurden. Dazu gehört die nach 1945 nicht „entnazifizierte“ (ein scheußliches Wort, das rechtes Bewusst-Sein als Krankheit suggeriert) und niemals zur Rechenschaft gezogene deutsche Justiz ebenso wie nicht zu kleine Teile der Polizei und der Bundeswehr. In all diesen biedermännischen Männerbastionen war und ist mehr Rassismus und Sexismus virulent, als in sämtlichen AfD-Vorständen zusammen. Und die können wir übrigens nicht so einfach per Beschluss ausgrenzen. Das kommt aus der Mitte der Gesellschaft, in der sich seit Jahrzehnten sämtliche bürgerliche Parteien zusammenrotten und gegenseitig auf die Füße treten, statt Alternativen zur neoliberalen Herrschaftspolitik des „divide et impera“ zu formulieren und anzubieten. Also gehen die Wähler mit ihrem Alleingelassen werden, mit ihren Ängsten und auch Verzweiflungen zu denen, die nicht im Einheitsparteienbrei vor sich hinfaulen, sondern scheinbar Alternativen anbieten. Natürlich scheinbar. Natürlich rassistisch, frauen-, ja letztlich generell menschenfeindlich. Geschenkt. Aber welche (Aus-)Wahl haben sie denn sonst? Die Linke?
Die Linke hat es in diesem Land seit 1945 zu keiner Zeit gegeben. Der Geist wehte – nicht nur in Bayern – überwiegend rechts. Von den naziverseuchten Schwesterparteien über die globkesche Adenauer-Restauration bis zu den DKPistischen Unvereinbarkeitsbeschlüssen einiger Gewerkschaften und den SPD-Berufsverboten, die angeblich keine waren. Rechts, wie Orrrdnung und Gehorrrsam. Rechts wie frauen- und ausländerfeindlich. Rechts wie „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“; rechts wie die alltäglichen, erst in den 1970ern langsam aussterbenden Sätze mit „bis zur Vergasung“ oder höchstpolitische und ganz modern pegidianisch oder AfD-ähnlich klingende mit „Pinscher und Ratten“ oder „linken Terrorsympathisanten“. Rechts wie kapitaltauglich und (damit zwangsläufig) menschenverachtend eben.
Viele Söhne und manche Töchter wollten es anders, besser, gerechter machen. Also stand gegen diesen noch immer tausendjährig müffelnden Stallgeruch spätestens ab 1968 die – Linke? Nein, ein unüberseh- und undurchschaubares Konglomerat von SDSlern, KPD- und KB-ler*innen, Stamokap-Leuten, Anarcho-Syndikalisten, Maoisten, politisch völlig Freischwebenden, Jusos, irgendwie linken Gewerkschaftern und beinahe linken SPDler*innen, kurz: Andere, die meist dagegen und selten für etwas und vor allem sämtlichen anderen kaum grün waren. Einen kleinsten gemeinsamen Nenner gab es allerdings schon damals: Antifa! Ging es „gegen Rechts“, was meist nie präziser definiert werden musste, herrschte linksbewegte Einigkeit. Und so ist es bis heute geblieben. Mag „Karriere“ auch längst zum Alt-68er Synonym für „von links unten nach rechts oben“ geworden sein; mögen die ehemaligen „Rotfunk“-Redakteur*innen mit Zweit- oder Hauptwohnsitz in der Toskana genüsslich ihren schwer verdienten Renten-Brunello oder rund um Cluny den taz-begleiteten Öko-Burgunder in erinnerungsseligen Alt-68er Kriegsgeschichten („Damals war’s, im alten Berlin“/P. P. Zahl) versüffeln – bei dem Thema zucken die pawlowschen Rechtsreflexe noch einmal unter der verbalrevolutionären Asche. Genau wie bei allen übrigen. Und niemand – außer Augstein – scheint zu merken, dass all das nur ablenkt von den wirklich wichtigen Fragen: Wie konnte es soweit kommen? Welchen Anteil hat wer, hat jede*r Einzelne von uns daran, und am Wichtigsten: Was müssen wir (ver)ändern, damit etwas anders wird?
Ein Unvereinbarkeitsbeschluss? Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen, hat erstens noch nie funktioniert. Schlimmer: Dieser Versuch führt zweitens nur zu einer höheren Stufe gesellschaftlicher Verrohungs-Eskalation.
Das gefällt mir nicht
diese methode
und dieser ‚sprachschatz‘
dieser leichtfertige umgang
mit dem wörterbuch des unmenschen
ist bekannt
und stinkt
zu sehr nach Stiefelwichse.
Diese Zeilen stammen aus meinem Gedicht „dichter und d(h)enker“. Geschrieben im Dezember 1977 (sic!) zur Verteidigung Erich Frieds. Dem hatten Ultralinke damals vorgeworfen, „mit seinen Machwerken“ denunziere er die Guerilla (die sich heute von sich selbst distanziert). Dem Gedicht als Motto vorangestellt hatte ich aus gutem oder besser: schlechtem Grund ein Zitat des CDU-Abgeordneten Bernd Neumann vom 3.11.1977 im Bremer Senat:
„Ja (…) so etwas würde ich lieber verbrannt sehen, das will ich Ihnen einmal ganz eindeutig sagen!“
Auch er meinte Fried-Gedichte …
Ich spare mir hier ein tieferes Eingehen auf formalrechtliche Bedenken. Zum einen, da gerade Landes- und Bundesvorsitzende des VS in Wolfenbüttel noch einmal deutlich machten, wofür der Verband steht:
„Seit seiner Gründung tritt der VS ein für freie Meinungsäußerung und eine humanistische, demokratische, offene Gesellschaft, die jedwede Form von Unterdrückung und Diskriminierung ablehnt.“
(Die Betonung liegt für mich auf jede, und anders kann es gar nicht sein, in einer Berufsorganisation von Schriftsteller*innen). Zum anderen, da auch der Forrmalismus nur ablenken würde, vom eigentlich Wichtigen. Dass wir endlich den Diskurs führen. Allumfassend. Es ist der AfD zu „danken“, dass wir langsam aus dem Dornröschenschlaf des „Weiter-so!“ erwachen. In und außerhalb von Gewerkschaften – wenn auch offenbar noch nicht innerhalb der bürgerlichen Parteien, wie die SPD gerade einmal mehr exemplarisch vorführt – und diversen NGOs. Es besteht die Gefahr, dass dieser begonnene Diskurs allzu rasch wieder in der merkelschen Groko-Verdumpfung untergeht, wenn per Unvereinbarkeit ausgeschlossen und ausgegrenzt wird. Klappe zu, Affe außer Sichtweite, und schon können wir wieder im alten Nichtpolit-Trott dahinhumpeln. Ausgrenzen bedeutet letztlich: totschweigen. Ich hätte aber gerne lautes (darüber) Reden, wenn’s sein muss auch Schreien, auf den Marktplätzen: „Was vertretet ihr da?“ – „Warum seht ihr darin die Lösung unserer längst globalisierten (Klima!) Probleme?“ Ich fordere den Diskurs, nicht das „Hinaus-Schweigen“. Die Debatte ist überfällig, zuvorderst mit den AfD-Wähler*innen, aber auch mit ihren Funktionär*innen. Und mit unseren, die mit ihrer jahrelangen Pöstchen-Besitzstandswahrung, mit ihrer unsäglichen SPD-Klüngelei jede fortschrittliche Diskussion blockierten oder abwürgten. (Ich denke da beispielsweise nur einmal an die langjährige mühselige vergebliche Debatte im VS-NRW um die sprachliche Formulierung „Verband deutscher Schriftsteller und Schriftstellerinnen“ oder um die nicht minder vergeblich langwierige um die Zulassung von E-Publikationen oder erfolgreichen Selfpublishings als Befähigungsnachweis für die Aufnahme).
Ein Ausschluss von AfD-Mitgliedern stülpt diesen statt der Schreibtischtäter- oder gar Brandstiftermütze das Märtyrermäntelchen um. So etwas können wir nicht brauchen. Schon gar nicht bei ihren Wählern. Zu denen bei uns im Revier, wie ich weiß, beispielsweise auch massenentlassene Opel- und Nokia-Arbeiter gehörten. Die nach einem Jahr „Transfergesellschaft-bis-die-Öffentlichkeit-sie-vergessen-hat“ ab Alter 55 keinen Job mehr fanden; Lebensversicherungen, Eigentumswohnungen und Häuschen verkaufen und vom Erlös leben mussten, als Voraussetzung für den Hartz-IV-Bezug. („Wer hat uns verraten…?“) Wundert sich jemand, dass die AfD wählen, wenn sie sehen, dass – aus ihrer Sicht! – Flüchtlinge scheinbar ohne jede Bedingung staatliche Hilfe finden? Zwei Nachbarn wählten die Rechten, aus genau solchen Gründen!
Mein letztes Gegenargument hat Klaus Farin schon vorweggenommen: Die ebenso wie die Linke zersplitterte Rechte, die wir im Lande immer hatten (DVU, NPD), stellte zu keiner Zeit eine wirkliche Gefahr für die bürgerliche Demokratie dar....