Einleitung der Herausgeberin
Warum dieses Buch?
Nachdem ich schon fast zwei Jahre als Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer und Hinterbliebenenfamilien der NSU-Gewalttaten tätig war, fiel mir auf, dass etwas Wichtiges fehlte in allen Diskussionen, Reden, Untersuchungsausschüssen. Es fehlte das Leben der Opfer des NSU. In den Medien und Akten war zwar viel über sie zu lesen: wann und wie sie ermordet wurden, welche Tätigkeiten sie ausübten, warum sie von den Ermittlern verdächtigt wurden, selbst irgendwie in die Taten verwickelt gewesen zu sein, welche Verletzungen sie als Opfer der Bombenanschläge erlitten hatten. Fakten und Tatsachen in Fülle. Das war's dann auch schon. Doch was hatte das mit ihrem Leben zu tun?
Sie alle hatten ein ganzes, ein unverwechselbares Leben, auch die jüngsten Opfer Halit Yozgat (21) und Michèle Kiesewetter (22). Für sich selbst sprechen, das können sie nicht mehr, aber ihre Familien und Freunde können es. Also bat ich sie darum. Und als sie begannen für dieses Buch vom gemeinsamen Leben mit ihrem Ehemann, ihrem Sohn, ihrer Tochter, ihrem Vater oder Bruder zu erzählen, sprachen sie auch über ihr eigenes Leben: Wie es war, als sie noch alle zusammen waren, und wie es jetzt, im Bewusstsein des Verlustes, für sie allein weitergeht. Verloren hatten sie einen geliebten Familienangehörigen, das Grundvertrauen in ihre neue Heimat Deutschland, und nicht zuletzt ihre materielle Existenzgrundlage. Das zu schildern und sich mit ihren Berichten persönlich zu öffnen, ist vielen Familien schwergefallen. Aber sie alle wollten mitwirken, als es darum ging, erstmals gemeinsam in einem Buch die Stimme zu erheben. So haben sie ein einmaliges Zeitdokument geschaffen mit ihrer persönlichen Sicht auf die grausamste rechtsextreme Gewaltserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte und das verantwortungslose Handeln der Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung. Ein Dokument von anhaltender Trauer, jahrelanger Verletzung, finanziellem Ruin und verwundetem Heimatgefühl. Es zeigt, wie sich die Familien dem Trauma stellen, wie sie der naheliegenden persönlichen Verbitterung ausweichen und für eine unbeschwertere Zukunft in Deutschland kämpfen. Der Titel dieses Buches, Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen, ist auf den ersten Blick nur die Umkehrung der oft gedankenlos bei Traueranlässen dahingesagten Trost-Formel »Die Zeit heilt alle Wunden«. Manche Trauernde mögen sich das auch wünschen. Nur weit weg sein von dem düstersten Kapitel in meinem Leben. Aber längst nicht alle denken so. Auch wenn sie nicht dauernd an ihren Verlust erinnert werden wollen, so sind sie doch manchmal eher erschrocken als erleichtert, wenn die Erinnerung verblasst. Bei den Familien der Opfer ist das bisher kein Thema, müssen sie sich doch als Zeugen und als Nebenkläger im Prozess gegen die Angeklagte Zschäpe und ihre Helfer immer wieder mit der Vergangenheit aktuell auseinandersetzen. Von jüngeren Mitgliedern der Familien wird das oft als Belastung empfunden, denn für sie schreibt sich Zukunft größer als Vergangenheit.
Doch nicht nur für die Familien, sondern für uns alle steht nach diesen Morden und Bombenanschlägen »zum Schutz der deutschen Nation«, wie es die Täter ausdrückten, ein Imperativ: Diese Wunden dürfen nicht heilen im kollektiven Gedächtnis Deutschlands! Es sind Deutschlands Wunden. Der Schmerz der Familien ist auch unser Schmerz, eingebrannt in die Nachkriegsgeschichte unseres Landes.
Das klingt nach den üblichen Sonntagsreden von folgenloser Richtigkeit. Und ist es nicht fast immer so, dass, nach einem gewissen Abstand zum Geschehen, selbst tiefes Leid bald in Vergessenheit gerät, zur Nichtigkeit wird, jedenfalls in der Öffentlichkeit? Das kollektive Gedächtnis verdrängt unbequeme Tatsachen, ganz ohne amtliche Vorgaben. Ob wir uns diesem Mechanismus auch überlassen wollen, wenn es um die NSU-Morde geht, ist jedoch eine Frage der politischen Verantwortung und Kultur. Denn Vergessen und Verdrängen wäre eine zwar unbeabsichtigte, aber nachträgliche Bestätigung der rechtsextremistischen Täter und ihrer Helfer. Sie wollten Leben auslöschen, vergessen machen. Und was wollen wir? Dieses Buch ist deshalb auch eine Schrift gegen das Vergessen.
Wie können wir den Opfern eine Hilfe sein?
Der Gedanke, den Familien eine Ombudsperson zur Seite zu stellen, stammt vom ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff. Jedes Mal, wenn die Familien vom Treffen im Bundespräsidialamt am 23. November 2011 berichten, tun sie es mit Dankbarkeit. Die Einladung kam zustande, nachdem Anfang November 2011, durch die Selbsttötung von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Eisenach, der rechtsextremistische Hintergrund der Morde an neun Einwanderern und einer Polizistin aufgedeckt worden war. Woran sich die Eingeladenen noch genau erinnern, ist die hohe Aufmerksamkeit des Bundespräsidenten und die Dauer des Gesprächs. Die Teilnehmer saßen von 18.00 Uhr bis in die Nacht hinein zusammen. Endlich, so empfanden es die Familien, konnten sie dem Staat ihr Herz ausschütten. Nach Jahren totalen Schweigens und Misstrauens der staatlichen Stellen bot sich dazu die erste Gelegenheit – und was für eine hochrangige. Erstmals erzählten die Angehörigen auch von ihren massiven sozialen Problemen und baten um Unterstützung. Anwesend bei dem Treffen waren auch die Bundesjustizministerin, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration, Frau Prof. Maria Böhmer, und der damalige Bundesinnenminister Hans-Joachim Friedrich. Die Öffentlichkeit erfuhr wenig über dieses Zusammentreffen. Doch hinter den Kulissen wurden Nägel mit Köpfen gemacht.
Am 13. Dezember rief mich Frau Böhmer an und fragte, ob ich die Aufgabe der »Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer und Opferangehörigen der sogenannten Zwickauer Zelle« übernehmen würde. Ich überschlief die Anfrage und sagte zu. Wie meine Arbeit strukturiert sein musste, das war gleich klar: schnell, persönlich, unbürokratisch, formularfrei. Kein Büro in einer Verwaltung mit festen, eingegrenzten Sprech- und Dienstzeiten inklusive Zuständigkeitsgehabe und Mitarbeitern, die sich (wahrscheinlich) bei der Personalvertretung beschweren würden, falls der Dienstherr sie anwiese, außerhalb der Sprechzeiten auf dem Handy erreichbar zu sein. Das alles war den schwer geprüften Familien nicht zumutbar. So schlug ich vor, mein Büro beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin zu nutzen, wo ich Vorstandsvorsitzende bin. Über eine Aufwandsentschädigung musste nicht verhandelt werden, auch nicht über ein Diensthandy, denn ich wollte weder das eine noch das andere. Schon nach wenigen Wochen war mir auch klar, dass ich die Anrufe und die schriftlichen Kontakte nicht delegieren konnte. Sollte ich den Familien sagen, sie könnten am Dienstag mit Person X sprechen und am Donnerstag mit Person Y? Was wäre wohl dabei rausgekommen? Problemkenntnis und zuverlässige Erreichbarkeit, ganz abgesehen vom Vertrauen, sind nur zu gewährleisten, wenn eine einzelne Person für die Kontakte zuständig ist.
Am 20. Dezember erhielt ich die offizielle Beauftragung für die Ombudsaufgabe durch das Justizministerium. Einen Tag später ging der erste Brief an die Opfer der Kölner Bombenanschläge und die Hinterbliebenen der Ermordeten. Die mir vom Ministerium überlassene Anschriftenliste umfasste dreiunddreißig Familien, davon dreiundzwanzig Betroffene der Kölner Bombenanschläge und zehn Hinterbliebenenfamilien. Zusammen waren es mehr als siebzig Personen mit Anschriften in Deutschland und in der Türkei. Dann ergab sich alles wie von selbst: Sofort kamen Anrufe und Anfragen, nicht nur von den Familien, sondern auch von Medien, staatlichen Stellen und von Personen, die ehrenamtlich ihre Hilfe anboten. Meine Kontakt- und Bürozeiten? Total gewerkschaftsfremdelnd: zu jeder Zeit, an jedem Ort. Ich brauchte dann aber jemanden, der mir half, all die Schreiben zeitnah zu erledigen und die Kontakte mit den Familien, besonders auch denen in der Türkei, in der Muttersprache aufrechtzuerhalten. Taha Kahya war der richtige Mann dafür.
Würde ich detailliert über meine Arbeit berichten, es würde sich wie eine Litanei lesen. Immer wieder Anträge und Verhandlungen, um kleine und größere Probleme zu mildern oder zu lösen. Meine Ansprechpartner waren unter anderem Opferberatungsstellen, Kommunen, Ministerien auf Bundes- und Länderebene und ihre nachgeordneten Einrichtungen, der Bundesrechnungshof, Justiz- und Polizeibehörden, Entschädigungsämter, Berufsgenossenschaften, türkische Einrichtungen wie Ministerien, die Botschaft und diverse Konsulate, aber auch Rechtsanwälte und Nebenkläger-Anwälte sowie das Oberlandesgericht in München.
Mir wurde dabei klar, wie vielfältig und schwierig die Arbeit klassischer Opferberatungsstellen ist, die mit geringen Mitteln wirksam helfen. Übernähmen staatliche Stellen diese Aufgabe, wären sie allein schon wegen ihrer engen Spezialisierung und ihres Zuständigkeitsdogmas komplett überfordert. Mein Vorteil war, dass die Beauftragung durch die Bundesregierung meine Arbeit bei vielen Stellen erleichterte.
Schnell stellte sich heraus, dass in der Zeit zwischen dem Mord an Enver Şimşek im September 2000 und der Zuordnung der Taten zur sogenannten Zwickauer Zelle von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe im November 2011 hilfemäßig fast totaler Stillstand geherrscht hatte. Ohne den Weißen Ring, der in dieser Zeit tat, was er konnte, und ohne einige zuständige Ämter für das Opferentschädigungsgesetz wären die Familien total im Stich gelassen worden. Warum dieser lange Stillstand? Zwar gab es seit 1999 beim Bundesamt für Justiz das Referat für die »Entschädigung der...