Nominale Komposita gehören zu den produktiv gebildeten komplexen Strukturen der deutschen Sprache. Komposita werden verwendet, um zu benennen, zu präzisieren, zusammenzufassen und hinzuweisen. Doch trotz des relativ häufigen Vorkommens in der deutschen Sprache ist das Kompositum diejenige Konstruktion, die in der Wortbildungsforschung die meisten Fragen aufwirft: Strukturell ist der Wortbildungstyp in den meisten Fällen zwar transparent, jedoch weisen die Interpretationen häufig keine Einheitlichkeit auf.
Ein Beispiel: Obwohl Silberbesteck, Fischbesteck oder Kinderbesteck über die Kopfkonstituente Besteck verfügen, bilden sie eine jeweils voneinander abweichende Relation und damit einhergehend eine unterschiedliche Bedeutung bzw. Interpretation aus.
Grafik 1: Subkategorien zu ‚Besteck’
Silberbesteck ist eine Art Besteck, das hinsichtlich seiner Materialität und Farbe spezifiziert ist, Fischbesteck hinsichtlich seiner Gebrauchsweise, also als Besteck, das für das Essen von Fischspeisen geeignet ist und Kinderbesteck ist hinsichtlich des Agens spezifiziert, das üblicherweise jenes Besteck verwendet.
Grafik 2: Semantische Rollen und Relationen der aufgeführten ‚Besteck’-Beispiele
Trotz der gemeinsamen Einheit Besteck lassen sich also keine eindeutigen Rückschlüsse auf die Interpretation und Bedeutung der Gesamtkonstruktion ziehen. Die Wortbildungsforschung weist auf diese Diversität der möglichen Interpretationen der Kompositakonstruktionen hin (siehe u.a. HERINGER 1984) und beklagt, dass dieses hochproduktive Wortbildungsmuster des Deutschen zwar eine formale Transparenz aufweise, jedoch keine semantische Transparenz aufzeige (WILLEMS 2001: 150). Eine derart geringe Effizienz hinsichtlich der Rezeption (und auch der Produktion) spräche jedoch erheblich gegen die hohe Produktivität des Wortbildungsmusters.
Der leitende Gedankengang der vorliegenden Auseinandersetzung mit Kompositastrukturen lautet demnach: Korrespondiert die Transparenz der Struktur nicht mit der Transparenz der Semantik, muss ein weiterer Faktor angenommen werden, der über die strukturelle Beschaffenheit und die konstituentenverbindende Relation hinausgeht.
Die vorliegende Arbeit hat daher das Ziel aufzuzeigen, dass einige Kompositastrukturen ad hoc interpretiert werden können – und zwar auch dann, wenn sie nicht usualisiert sind und keine Kontextdaten zur Verfügung stehen. Hierfür wird ein Einflussfaktor angenommen, der im Folgenden »Konzeptkonvergenz« genannt wird.
Die These der Konzeptkonvergenz resultiert aus der Beobachtung, dass einige neugebildete Komposita einheitlich – auch ohne einen Kontext, der zur Interpretationsgenerierung herangezogen werden könnte – interpretiert werden. Diese Beobachtung wurde in einem Selbstversuch mithilfe der Neologismensammlung ‚Wortwarte’[1] untermauert: Während für einige Einheiten ad hoc eine eindeutige Interpretation möglich war, waren für andere Einheiten das Zurateziehen des jeweiligen Kontextes notwendig, um eine Interpretation eindeutig festzulegen.
Dieser Beobachtung schließt sich die Fragestellung an, die dieser Arbeit zugrunde liegt: Warum können manche Komposita ‚besser’ und ‚eindeutiger’ auch ohne einen Kontext interpretiert werden als andere?
Die traditionelle Wortbildungsforschung kann zur Beantwortung dieser Frage kaum helfen. Der Tenor der Standardwerke besagt, dass eine einheitliche und infolgedessen bessere oder eindeutigere Interpretation erst dann anzunehmen sei, wenn ein okkasionelles[2] Kompositum in einen Kontext eingebettet wird. So schreibt HERINGER, dass viele Komposita „durch ihren Kontextbezug so voraussetzungs- und assoziationsgeladen“ seien, dass sie „außerhalb ihres Kontextes geradezu abgelehnt werden, zumindest aber, daß gewisse Deutungen ausgeschlossen werden“ (HERINGER 1984: 10). Auch nach GLÜCK folgen Neubildungen zwar den Wortbildungsregeln, seien jedoch nur aus der Situation heraus verständlich (GLÜCK 2005: 210). Nicht nur für deutsche Okkasionalismen wird dieser Sachverhalt nahegelegt, sondern auch für das Englische. So schreibt bspw. DOWNING: „Certain compounds [...] are usable only in the presence of substantial contextual support” (DOWNING 1977: 822). Aufgrund dessen seien Komposita trotz ihrer hohen Bildungs- und Erscheinungsfrequenz der Wortbildungstyp, der am meisten Fragen aufwerfe, denn „[...] obwohl die Komposition an [struktureller] Durchsichtigkeit nichts zu wünschen übrig lässt, nehmen [semantische] Transparenz und Vorhersagbarkeit offenbar doch proportional ab“ (WILLEMS 2001: 150). Daher wird häufig mithilfe von Usualisierungs- und Lexikalisierungsprozessen die Verfestigung der Bedeutung eines Kompositums im mentalen Lexikon beschrieben. Sind diese Verfestigungsprozesse noch nicht weit vorangeschritten, sei die Beziehung der beiden Konstituenten eines Kompositums offenbar nur mittels Kontextinformationen festlegbar. Eine transparente Bedeutung und eine damit einhergehende einheitliche Bedeutungsfindung scheint nur bei jenen nicht-usualisierten Komposita – vornehmlich Rektions- und Kopulativkomposita – gegeben zu sein, die eine Art strukturelle Interpretationshilfe mitliefern (LIEBER 2009: 89 ff., MOTSCH 2004: 293). So bildeten bei Rektionskomposita die „Glieder eines Kompositums [...] selbst die Grundlage für die Interpretation des Kompositums“ (MOTSCH 2004: 393), wenn eines der Konstituenten eine Argumentationsstelle der semantischen Repräsentation der Partnerkonstituente besetze. Eine einheitliche Bedeutung der Determinativkomposita hingegen werde erst durch eine frequente Verwendung herausgebildet, okkasionelle Bildungen seien bis zu ihrer Usualisierung meist kontextabhängig.
Dieser als Konsens geltende Befund der offenbar stets anzunehmenden Kontextabhängigkeit widerspricht der subjektiven Intuition, die im Folgenden an dem Okkasionalismus Ampelmaut illustriert werden soll. Auch ohne Kontextinformationen war die erste und einzige gebildete Interpretation für Ampelmaut ‚an einer Ampel zu zahlenden Mautgebühr‘ plausibel und naheliegend, ohne dass weitere ähnlich plausible Konkurrenzinterpretationen gebildet wurden. Diese Interpretation stimmt mit der Intention des Autors des Artikels überein, wie der Textausschnitt in (1) zeigt.
(1) „Mit einer innerstädtischen Ampelmaut ließen sich bei starkem Berufsverkehr Millionen verdienen, besonders wenn sich auch Fußgänger beteiligen: Wer über die Straße will, muss bezahlen.“
(Quelle: DIE ZEIT Nr. 50/2004 vom 2. Dezember 2004)
Anders, als man laut der gängigen Meinung der Wortbildungsforschung annehmen müsste, kamen in dieser subjektiven Analyse für das Kompositum keine verschiedenen, ähnlich guten Interpretationsmöglichkeiten in Betracht, die miteinander in Konkurrenz stehen. Stattdessen wurde eine präferierte Interpretation ausgebildet, die mit der vom Autor des Artikels intendierten Interpretation übereinstimmt. Das Beispiel Ampelmaut kann somit exemplarisch angeführt werden, um die Argumentation der präferierten Interpretation und die folgenden Untersuchungen zu untermauern.
Jedoch zeigten bereits die oben angeführten Beispiele, dass die Problematik der diversen Relationen, die zum oben dargelegten Tenor der Wortbildungsforschung führte, nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist. Eine weitere subjektive Analyse hinsichtlich der Interpretationsfindung wurde für das Kompositum Apfelgehör durchgeführt. Anders als für das Kompositum Ampelmaut, konnten für Apfelgehör einige Parallelinterpretationen gebildet werden, ohne eine klare Präferenz für eine der Bedeutungsmöglichkeiten festzulegen. Gleichzeitig zeigten die ad hoc formulierten Paraphrasierungen von ‚Apfel, der hören kann‘ bis ‚Gehörgang, der an die Form eines Apfels erinnert‘ über ‚die Fähigkeit eines besonders entwickelten Gehörs, sich-durch-Äpfel-fressende Würmer zu hören und ungenießbare Äpfel zu enttarnen‘ eine Vielzahl an Interpretationen, die nicht auf eine einheitliche Relation oder Bedeutungsmuster zurückzuführen sind. Die tatsächliche Interpretation des Kolumnentextes, aus dem das Kompositum stammt, beabsichtigt eine andere:
(2) „Testen Sie Ihr absolutes Apfelgehör [...]. Hier können Sie ausprobieren, ob man vom Klang eines Apfels beim Reinbeißen auf die Sorte schließen kann. Machen Sie den Apfel-Hörtest.“
(Quelle: SPIEGEL ONLINE, aus der Kolumne ‚Werners Essecke’ vom 20. August 2007)
Anders als Ampelmaut, zeigt der Okkasionalismus Apfelgehör mehrere mögliche Interpretationen in einer hohen Diversität ohne eine Präferenzausbildung. In dieser kurzen Analyse zeigt sich, dass mit dem Beispiel Apfelgehör der Konsens der Wortbildungsforschung untermauert wird, mit dem Beispiel Ampelmaut hingegen nicht.
Die im Folgenden zu klärende...