Auftakt
Wie alles begann
Düsseldorf im September 2007: Ich sitze im Vorzimmer des Präsidenten des Landgerichts Düsseldorf in meinem besten Anzug und mit neuer Krawatte. Peinlich genau habe ich mich an diesem Morgen rasiert und mindestens dreimal meine Schuhe poliert. Kurz gesagt: Ich bin äußerst nervös. Es ist mein erster Arbeitstag als Richter. Der Präsident lässt mich nicht lange warten. Er begrüßt mich offen und warmherzig. So habe ich mir einen Landgerichtspräsidenten vorgestellt: freundlich, offen, humorvoll, ein väterliches Auftreten. Nach ein paar ermunternden Worten begleitet er mich persönlich zu dem Vorsitzenden meiner ersten Kammer. Von ihm werde ich in den nächsten acht Monaten mehr lernen als in vier Jahren Jurastudium und zwei Jahren Referendariat. Auch er begrüßt mich freundlich und zeigt mir mein Büro mit dem Hinweis, dass ich dort sogar Zimmerpflanzen habe. Seinen Sinn für Humor kenne ich noch nicht.
Als ich jedoch mein Büro betrete, sehe ich, was er meint: Durch den morschen Fensterrahmen ist Efeu in den Raum gewachsen, und zwar auf einer Fläche von etwa zwei mal zwei Metern, die Farbe bröckelt an den Mauern herab, es riecht modrig. Die Büromöbel stammen aus den Siebzigerjahren (möglicherweise sogar aus den Sechzigern), sind zerkratzt, weisen an vielen Stellen Kaffeeränder und abgeschlagene Ecken auf, das Linoleum auf dem Boden hat mindestens fünf Löcher von der Größe eines Bierdeckels. Ich habe zwar viel über den schlechten Zustand deutscher Gerichte gelesen, aber die Beschreibungen immer für etwas übertrieben gehalten. An diesem Tag mache ich mir meine erste kleine Notiz und beschließe, irgendwann ein Buch über die Zustände in der Justiz zu schreiben.
Elf Jahre später: Obwohl ich Notizzettel mit kleinen und größeren Anekdoten über Versäumnisse und Missstände der Justiz aufbewahre (zum Leidwesen meiner Frau mehr oder minder ordentlich an verschiedenen Stellen unserer Wohnung), habe ich nie begonnen, ein Buch zu schreiben. Das wird sich aber bald ändern. Und zwar noch heute.
Es ist Montag, und ich leite wie immer an diesem Tag eine Strafrichtersitzung. Im Zuschauerraum hat eine Schulklasse Platz genommen. Das ist nichts Ungewöhnliches. Häufig kommen Schulklassen im Rahmen eines Rechtskundeunterrichtes vorbei und wohnen einer Verhandlung bei. Mir gefällt das Interesse der Schüler, darum beantworte ich in den Sitzungspausen gern ihre Fragen. Eine Schülerin, die ebenfalls Richterin werden will und sich bereits über den Richterberuf informiert hat, stellt eine Frage nach der anderen. Schließlich sprechen wir auch über Ausbildung, Arbeitszeiten und Gehalt. Irgendwann bemerkt sie trocken: »Da läuft bei den Gerichten aber einiges schief!« Ich muss über ihre Offenheit lachen und stimme ihr zu. »Irgendwann möchte ich mal ein Buch dazu schreiben«, erkläre ich ihr. Sie fragt: »Warum tun Sie es nicht einfach? Ich würde es lesen.«
An diesem Abend beginne ich mit der Niederschrift des Buches, das Sie jetzt in den Händen halten. Es enthält Erlebnisse, die ich in mehr als elf Jahren als Richter an einem Landgericht, zwei Amtsgerichten und der Verwaltung eines Oberlandesgerichts gesammelt habe. Aus Gesprächen mit mehr als 1000 Personen: Staatsanwälten, Wachtmeistern und Rechtspflegern, Geschäftsstellenleitern und Richtern, aber auch Rechtsanwälten, Polizeibeamten, Verurteilten und Rechtsschutzsuchenden.
Ich bin mir bewusst, dass in den folgenden Kapiteln viele Dinge angesprochen werden, welche die Justiz ungern in der Öffentlichkeit sieht. Einige Kollegen werden einiges als »Nestbeschmutzung« ansehen und behaupten, das eine oder andere sei gar nicht so schlimm oder jedenfalls zu drastisch dargestellt. Bereits Kurt Tucholsky bemerkte zutreffend: »In Deutschland gilt derjenige, der auf Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht.« Die zahlreichen Beispiele in den folgenden Kapiteln haben sich tatsächlich so ereignet. Lediglich die Namen habe ich aus Rücksichtnahme auf meine Kollegen geändert.
Ich danke den vielen Freunden und Kollegen, die mich zum Schreiben dieses Buches ermutigt und mit zahlreichen Ideen und Anregungen unterstützt haben, vor allem meinen Testlesern Thomas, Christian, Udo, Eda, Juliane und Yvonne sowie meinem Kollegen Richter am Amtsgericht, Stephan Zantke, für seinen fachmännischen Rat bei der Suche nach einem geeigneten Verlag.
Ebenso Maximilian Eberhard vom riva Verlag, der mir stets ein tatkräftiger Ansprechpartner war und mich während der gesamten Zeit unterstützt hat, vor allem auch durch die Wahl einer großartigen Lektorin. Bereits nach unserem ersten Treffen war ich überzeugt, Dr. Annalisa Viviani hätte mit ihrem selbstbewussten Auftreten und ihren klaren und deutlichen Worten auch eine beeindruckende Strafrichterin abgegeben.
Ein besonderer Dank gebührt meiner Ehefrau, Freundin und Kollegin, Richterin am Amtsgericht Anne Schleif, die auch noch nach dem tausendsten »Hör doch mal! Kann ich das so schreiben?« geduldig und aufmerksam zuhörte – und niemals mit Kritik sparte.
Das ganze Spektrum
»Das soll gerecht sein?« Die Frau hatte Tränen in den Augen. »Die schlagen meine Tochter zusammen und brechen ihr die Nase. Eine Woche war sie im Krankenhaus und wurde operiert. Und dafür soll jeder 15 Sozialstunden ableisten. Und so ein Gewalttraining. Die da oben leben doch in einem Elfenbeinturm!« Sie starrte mich an. Wütend, verzweifelt, hilflos. Sie wusste nicht, dass auch ich zu »denen da oben« gehörte. Kein Wunder. Mit verwaschenen Jeans und T-Shirt sah ich kaum so aus, wie man sich einen »ehrwürdigen Richter« vorstellt.
Ich blickte auf die Saaltür, aus der die Frau gekommen war. Dort tagte ein Jugendgericht. Die Frau wischte sich die Tränen von der Wange und stürmte ohne ein weiteres Wort in Richtung Ausgang. Ich kannte den Fall nicht. Vielleicht war das Urteil, das sie so aufgeregt hatte, »vertretbar«, wie es in der Juristensprache heißt. Eines allerdings wusste ich mit Sicherheit: Diese Frau hatte das Vertrauen in die Justiz verloren.
Urteil: ungerecht – Ein Richter deckt auf, warum unsere Justiz versagt – ein wenig reißerisch, oder? Und was heißt überhaupt »versagt«? Versagt unsere Justiz, weil es ihr deutschlandweit nicht (mehr) gelingt, hoch qualifizierte Juristen für den Richterberuf zu gewinnen? Weil sie ihre Richter schlechter ausbildet, besoldet und ausstattet als die meisten anderen Länder Europas? Weil sie Beförderungsämter derart vergibt, dass selbst manche Bananenrepublik neidisch werden könnte? Weil vier von zehn Bürgern nur noch geringes Vertrauen in die deutsche Justiz haben? Ja, bei näherer Betrachtung ist das Wort »versagen« absolut zutreffend.
Das Misstrauen der Bevölkerung in den Staat und seine Gerichte ist so groß wie nie zuvor. Gerichte stehen Kriminellen mitunter ohnmächtig gegenüber. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht von neuen »Skandalurteilen« in den Medien berichtet wird: »19-Jährige tot: Kölner Raser kommen mit Bewährungsstrafe davon«,1 »Empörung über Urteil – Kultureller Rabatt für ›Ehrenmord‹«,2 »Hamburg: Gruppenvergewaltiger kommen frei«,3 »Bilanz der Kölner Silvesternacht: Hunderte Opfer, fast keine Täter«4 – diese Liste ließe sich nahezu endlos fortschreiben. Laut einer aktuellen Umfrage von Focus Online haben 44,9 Prozent der befragten Bürger nur »geringes« oder »sehr geringes« Vertrauen in die deutsche Justiz.5 Die Ereignisse in Chemnitz im Spätsommer 2018 zeigen – und zwar unabhängig von der kontrovers diskutierten Einordnung als Hetzjagd oder Protest – vor allem eins: die Verunsicherung eines beachtlichen Teils der Bevölkerung sowie ihr gesteigertes Misstrauen gegenüber dem Staat und seiner Justiz. Die Erörterung und Untersuchung dieser großen Gefahr ist bei der Diskussion des Geschehens in den Medien in den Hintergrund geraten.
Eine Justiz, der die Bürger nicht (mehr) vertrauen, hat versagt. Verliert der Bürger den Glauben in das Rechtssystem eines Staates, dann verliert der Staat sein Existenzrecht. Das Rechtssystem eines modernen Staates ist wie ein Rückgrat. Wird es gebrochen, ist der Staat dauerhaft gelähmt. Es besteht die große Gefahr, dass der Bürger dann versucht, das Recht selbst in die Hand zu nehmen. Teilweise kommt es bereits zu derartigem Verhalten: Am 15. Juni 2018 rottete sich eine Gruppe Männer zusammen und schlug einen Mann halb tot. Sie hatten einen Bericht im Fernsehen über Pädophile verfolgt und glaubten, den Mann wiedererkannt zu haben. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass es sich nicht um den Mann aus dem Fernsehbericht handelte.
Fehlurteil, Skandalurteil – worüber reden wir eigentlich?
Immer häufiger stoßen Urteile deutscher Gerichte auf wenig Verständnis, oft hinterlassen sie nur ungläubiges Kopfschütteln in der Bevölkerung. Von Fehl- oder Skandalurteilen wird in Fernsehen, Radio und Zeitungen berichtet. Doch was ist überhaupt ein Fehlurteil, und was ist ein Skandalurteil? Eine gesetzliche Definition wird man hierfür vergebens suchen.
Unter einem Fehlurteil wird in der Regel eine strafrechtliche Verurteilung eines Unschuldigen verstanden. Hin und wieder hört man auch die verharmlosende Variante »Justizirrtum«. Klingt netter, nur nicht für den »irrtümlich« Verurteilten. Zu den spektakulärsten Fällen der letzten Jahre zählen wohl der Fall des unschuldig wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilten Biologielehrers H. Arnold und der Fall des zu Unrecht für sechs Jahre in einem psychiatrischen Krankenhaus...