JANEK
Morgen geht’s los. Ab morgen essen wir kein Fleisch mehr und jetzt steht meine Mutter am Herd und brät Hamburger und die ganze Küche riecht nach Bratensaft, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Seit einem halben Jahr bin ich kein Vegetarier mehr. Zuerst habe ich mich ein bisschen geekelt, wieder Fleisch zu essen. Dann habe ich gemerkt, wie sehr ich Döner, Buletten und Cheeseburger vermisst hatte, vor allem Cheeseburger, die waren früher mal definitiv mein Lieblingsessen. Jetzt habe ich ständig Heißhunger auf Fast Food. Wenn ich mit meinen Freunden zum Imbiss gehe, holen wir uns Burger, Currywurst und Pizza mit Salami. Als ich noch Vegetarier war und Pommes bestellt habe, während die anderen Döner mampften, haben ein paar von ihnen immer gesagt:
»Ey, Janek, du bist so blass und mager, iss auch mal Fleisch!«
Asim kommt aus Montenegro, Erol aus der Türkei, Daniel aus Polen, und ich finde, sie essen übertrieben viel Fleisch. Jedenfalls habe ich geantwortet, dass ich Fleisch widerlich finde, und sie haben mich angeguckt, als hätte ich gesagt, Helene Fischer oder die Böhsen Onkelz machen verdammt coole Musik.
Seit ich wieder Fleisch esse, nehme ich zu und meine Muskeln wachsen. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass ich jetzt regelmäßig trainiere. Oder weil ich zu jeder Currywurst einen Berg Pommes esse. Oder weil ich zurzeit überhaupt extrem viel esse. Seit ich aufgehört habe, Vegetarier zu sein, denke ich jedenfalls ständig an Fleisch, ich esse jeden Tag Fleisch, und wenn ich keines kriege, fehlt mir was.
Und jetzt dieses Experiment.
Meine Eltern waren auf Anhieb von der Idee begeistert. Ein halbes Jahr würden wir kein Fleisch essen, um auszuprobieren, ob eine konsequent vegetarische Ernährung nur was für richtig krasse Ökos ist oder auch für ganz normale Familien. Über unsere Erfahrungen würden wir dann in einem Buch berichten. Morgen, am 1. Oktober 2013, geht’s los. Und nun sitze ich hier und meine Mutter brät zum letzten Mal Burger und es riecht dermaßen lecker, dass ich echt sauer werde. Ich will kein Gemüse essen. Ich will nicht auf irgend so einem Tofuzeug rumkauen. Ich will Cheeseburger und Salami und Currywurst essen. Ich liebe diesen fetten Geruch, das Platzen der Haut und den salzigen Geschmack, wenn man in eine Currywurst beißt. Oh Mann, ich habe so eine verdammte Lust darauf, ich krieg die Bilder gar nicht mehr aus meinem Kopf! Ich habe in den letzten Tagen noch richtig viel Currywurst und Cheeseburger und Bulettenbrötchen gegessen. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Keine Ahnung, wie ich die kommenden sechs Monate aushalten soll.
BORIS
Heike legt zwei Burgerbuletten in die Pfanne – das heiße Öl knistert und zischt. Es duftet nach Bratensaft, Zwiebeln und Mett. Auf dem Küchentisch steht ein Teller mit aufgeschnittenen Sesambrötchen und Janek sitzt daneben und guckt, als würde die Welt untergehen. Ich nehme zwei Veggieburger aus der Verpackung – wie meine Familie liebe ich Hamburger.
Ich bin in Steinbach, einem Vorort von Frankfurt, aufgewachsen, mit deutscher Hausmannskost, asiatischen Gemüsepfannen und italienischen Pastagerichten. Unter der Woche machte meine Mutter Kohlrouladen, Rippchen mit Kraut und Frankfurter Würstchen mit Kartoffelsalat – am Wochenende band mein Vater die Schürze um und zog eines seiner Time-Life-Kochbücher aus dem Regal: Die Küche in Italien, Die Küche in Skandinavien, Die Küche in Indien, Die Küche in Russland, Die Küche des Vorderen Orients. Er war ein leidenschaftlicher Hobbykoch und seine Rezeptbücher waren das Tor zur Welt. Er bereitete tibetische Mönchsspeise aus fein geschnittenem Chinakohl, Sojasprossen und verschrumpelten Mu-Err-Pilzen. Er kochte Rezepte des französischen Starkochs Paul Bocuse nach und servierte Froschschenkel, Schnecken, Austern und Miesmuscheln. Er tischte Pasta in Olivenöl, Rosmarin und Oregano auf und kreierte eine Art Recycling-Bulette, für die er Hühnergerippe und Fleischreste pürierte und zu Frikadellen formte. Zu einer Zeit, als man in Deutschland noch die Nase über Olivenöl und Knoblauch rümpfte, experimentierte er mit Wasserkastanien, Bambussprossen und Palmenherzen. Er dämpfte Huhn in Sojasoße, Ingwer und Knoblauch, servierte mariniertes Rindfleisch mit Sesam oder Schweinefleisch süß-sauer. Einer seiner Freunde war mit einer Koreanerin verheiratet, von ihr lernte er Kimchi zuzubereiten, eine traditionelle koreanische Art, Gemüse durch Milchsäuregärung einzulegen. Unsere Wohnung stank jedes Mal infernalisch und das Kimchi schmeckte so scharf, dass man es kaum essen konnte, trotzdem liebte ich es.
Doch mein Vater kochte nicht nur gern, er lud auch gern Gäste ein. »Man isst nicht, um satt zu werden«, sagte er. »Ein gutes Essen ist immer auch ein sinnliches und soziales Vergnügen.« Er brachte mir vieles bei, erklärte mir, wie man Lebensmittel verarbeitet, warum Bakterien einen Teig aufgehen lassen und wie Emulgatoren funktionieren. Er ließ mich experimentieren – dabei lernte ich auch, mich vor nichts zu ekeln. Wenn man einen Fisch essen will, muss man ihn ausnehmen. Wenn man ein Schnitzel essen will, muss man ein Schwein schlachten. Als Jugendlicher machte ich einmal ein Praktikum auf einem Bauernhof. Eines Tages schlachtete der Nachbar ein Schwein. Er fesselte es an einem Hinterlauf und versuchte, es mit dem Bolzenschussgerät zu betäuben. Doch das Schwein strampelte und sprang herum, es entkam immer wieder und lief schließlich mit blutendem Kopf umher. Es war fürchterlich, zuzusehen. Als das arme Tier endlich tot war, half ich die Borsten abzuflammen und die Innereien auszunehmen. Wir kochten Blutsuppe, schnitten Filets und Koteletts aus dem Rücken und machten Würste, die großartig schmeckten. Ich liebte diesen leisen Geschmack von Eisen in meinem Mund. Den ersten Lachs, den ich mit meinem Cousin geangelt hatte, hatten wir noch im Boot ausgenommen und roh gegessen. Später ließ ich in Restaurants manchmal Steaks zurückgehen, weil sie mir nicht blutig genug waren.
Mit sechzehn Jahren ging ich für ein Jahr als Austauschschüler in die USA. Ich vertilgte Unmengen an Beef und Spareribs und Thanksgiving Turkey. Einmal machte ich mit ein paar Freunden einen Ausflug zum Cooper Lake in den Cascade Mountains. Abends vor unserem Zelt holte ich eine Pfanne, Karotten und Sojasprossen aus meinem Rucksack und schürte ein Feuer.
»What’s that?«, fragten meine Freunde, als ich ihnen ihre Teller reichte.
»Asiatische Gemüsepfanne«, sagte ich. »A vegetarian dish from Asia.« Sie stachen ihre Gabeln in die Karotten. Ein Gericht ohne Fleisch – das kannten sie nicht. Doch mein improvisiertes Abendessen sah nicht nur bescheiden aus, es schmeckte auch so. Mit den Kochkünsten meines Vaters konnte ich nicht mithalten. Am Ende aßen alle ihre Teller leer, aber nur, weil sie wirklich großen Hunger hatten.
Später brachte ich von Reisen durch Europa, Amerika und Asien exotische Gewürze mit und experimentierte in meiner WG-Küche. Mitte der 1980er-Jahre stand ich staunend in den ersten Bioläden – leider reichte mein Geld nur für ein paar verrunzelte Biomöhren, etwas eingelegten Ingwer und ab und zu ein Vollkornbrot. Als ökologisch bewegter Hippie wurde ich kurzzeitig zum Vegetarier – allerdings siegte meine fast schon archaische Fleischeslust bald wieder über Müsli und Bratlinge. Wie mein Vater habe ich immer gern gekocht und gegessen, habe mich für Lebensmittel und Ernährung interessiert. Im Laufe der Jahre probierte ich vieles aus, ernährte mich nach der Montignac-Methode, bei der ich auf bestimmte Kohlenhydrate verzichtete, oder fastete. Vor einer Weile begann ich zu meditieren und Yoga zu praktizieren, beides hat viel mit Selbstdisziplin zu tun, und wenn man es ernsthaft betreibt, beschäftigt man sich früher oder später auch mit yogischer Ernährung. Sie stärkt Körper und Geist, weil sie Lebensmittel meidet, die uns Energie entziehen – Fleisch, Alkohol – oder die uns unruhig machen – Kaffee, schwarzer Tee, scharf gewürztes Essen, Zucker. Stattdessen setzt sie auf Vollkornprodukte, frisches Obst, rohes Gemüse, Hülsenfrüchte, Sojamilch und Tofu. Wie immer, wenn mich eine Sache interessiert, wollte ich es genau wissen, surfte durchs Internet und las Bücher. Ich entdeckte Zusammenhänge, von denen ich nicht gewusst hatte, beispielsweise dass Fleisch mehr Proteine enthält, als der menschliche Körper benötigt, und dass tierisches Eiweiß mehr Harnsäure enthält, als der Körper aufspalten kann, weshalb sie sich in den Gelenken ablagert, was zu Steifheit, Rheuma oder Gicht führen kann. Eine vegetarische Ernährung dagegen reduziert Gelenkbeschwerden und innere Krankheiten, senkt die Gefahr von Herzinfarkten, Schlaganfällen, Krebs und Fettleibigkeit.
Neben gesundheitlichen sprachen auch ethische und spirituelle Gründe dafür, Vegetarier zu werden. Im Buddhismus, wo es statt der im Christentum verbreiteten Gebote sittliche Empfehlungen gibt, lautet die wichtigste Regel: Füge keinem fühlenden Wesen Leid zu. Wie konnte ich also Tiere töten, nur um sie zu essen?
Gleichzeitig nagten Zweifel in mir. Wollte ich wirklich für immer auf knusprige Schweinshaxe und saftige Lammkarrees verzichten? Gab es ein Leben ohne Sauerbraten und fast rohe Steaks? Und wenn ja: Würde sich dieses Leben lohnen?
Durch die regelmäßige Meditation, das Yoga und die tiefere Beschäftigung mit dem Sein wuchs aber unaufhaltsam die Erkenntnis in mir, dass ich kein Recht hatte, für meinen persönlichen Genuss andere Lebewesen zu töten. Im Frühjahr 2012 beschloss ich...