House by the Sea
»Du warst mal mein Lieblingsmusiker. Ich dachte, du hättest Rückgrat.«
Das war keineswegs die erste derartige Nachricht, die mich erreichte, doch die Worte trafen mich immer wieder aufs Neue. Mein Telefon piepte unaufhörlich. Es war jedes Mal ein anderer Absender, aus einer anderen Ecke dieser Welt.
»Du befürwortest einen Staat, der gewaltsam und auf Grundlage von Rassentrennung errichtet wurde«, schrieb jemand. »Hast du kein Gewissen?«, fragte jemand anderes.
»Hast du das Geld wirklich so dringend nötig, dass du dich an die Zionisten verkaufst?«
Das war ungewohnt harter Tobak für mich. Eigentlich war ich doch immer derjenige, der gegen irgendetwas protestierte. Und jetzt wurde plötzlich gegen mich protestiert. Mit jedem Mal, das ich wieder auf mein Telefon sah, waren neue Nachrichten gekommen. Und sie alle enthielten dieselbe Aufforderung: Sag dein Konzert in Israel ab!
2013 war ein langes Jahr gewesen, in dem ich zwei Alben veröffentlicht hatte, durch Stadt und Land getourt war und mit »House by the Sea« meinen ersten wirklichen Hit hatte landen können. Ich hatte 130 Konzerte gespielt, von Istanbul bis Spitzbergen. Die Konzertanfragen kamen von nah und fern, und meine einzige Sorge war, wie ich das alles schaffen sollte. Das Abschlusskonzert der Tournee sollte in Israel stattfinden, so weit weg von zu Hause wie nie zuvor, in einem Land, in dem ich noch nie zuvor gewesen war. An den 1. Februar 2014 werde ich mich wohl mein Lebtag erinnern, aber nicht aus den Gründen, die ich zunächst vermutete.
Mir war bewusst, dass sich viele Künstler weigerten, in Israel aufzutreten. Unzählige Organisationen hatten sich für einen Boykott des Landes ausgesprochen, um eine Lösung des nun schon mehr als fünfzig Jahre anhaltenden Konflikts mit den Palästinensern zu erzwingen. Ich jedoch hatte keinerlei Intention, mich in den Nahostkonflikt einzumischen. Ich wollte ein ganz normales Konzert geben, wie ich es auch schon in Berlin, London und Prag getan hatte. »House by the Sea« wäre mein letzter Song an diesem Abend gewesen, dann hätte ich mich beim Publikum bedankt und wäre wieder nach Hause in den Norden gereist.
Der Konflikt war mir nicht egal – das war es nicht. Aber dieser Krieg war nicht mein Krieg. Ich hatte schon Konzerte in der Türkei gespielt, die die kurdische Minderheit in ihrem eisernen Griff hielt, in Russland, wo Homosexuelle verprügelt werden, während die Polizei wegschaut. Ein Liedermacher auf Tournee kann da wenig ausrichten. Was aber möglich sein sollte, dachte ich, war, mit meiner Musik einen Raum im Alltag der Menschen zu schaffen, die verzweifelt nach einer Ablenkung suchten.
In meinem Krieg ging es um unsere Umwelt. Um Konsum, Klima, Ölgewinnung und Plastik. Seit meiner Kindheit, seit meine Mutter mich im Umweltdetektiv-Club Blekkulf (Tintenfisch-Ulf) angemeldet hatte, träumte ich davon, einmal ein echter Umweltschützer zu werden. Mein Vater besaß ein Fischerboot, mit dem er uns oft mit hinaus auf die vielen kleinen Schären nahm, die vor der Insel Senja lagen, auf der ich aufgewachsen bin. Dort mussten wir mit ansehen, wie Müll und Schrott jahrzehntelang im Watt liegen blieben und so manches Leben dort eingehen ließen. Später half ich bei den Säuberungsaktionen unserer Gemeinde. Wir sammelten mehrere LKW-Ladungen mit Fischernetzresten von den Steinen im Watt und zogen poröse Planen und lange Tauenden aus dem Strandsand. Der Müll verschwand, das Watt war wieder sauber, und wir bekamen so viel warmen Johannisbeersaft und Hot Dogs, wie wir nur wollten.
In der Schule waren meine Lieblingsfächer Naturkunde und Mathe. Ich liebte es, mit Saughebern, Magneten und Zahnrädern zu spielen und konnte Das Schlaue Buch von Donald Ducks Neffen auswendig. Gleichzeitig nahm ich Klavierunterricht, spielte Trompete in der Schulkapelle und rief ein Rap-Duo ins Leben, das nach einiger Zeit sogar für bezahlte Auftritte gebucht wurde. Auch wenn ich der Musik viel Zeit widmete, war sie für mich eher ein Hobby als eine mögliche Karriere. Ich wollte Naturforscher oder Windkraftingenieur werden, und große, nachhaltige Gerätschaften bauen.
Als ich nach Finnsnes zog, um dort aufs Gymnasium zu gehen, traf ich zum ersten Mal Gleichgesinnte. Wir riefen eine Vielzahl von Organisationen ins Leben, von Astronomen gegen Worttrennungen bis SOS Rassismus. Ich übernahm eine Führungsposition bei der Organisation Natur & Ungdom (Natur & Jugend) in meiner Heimatregion in Nordnorwegen. Wir verfassten zornige Leserbriefe an die Regionalzeitung Folkebladet, hielten Vorträge über den Klimawandel und ließen Ölplattformen aus Pappmaché auf dem Finnsnessee treiben, um den Leuten klarzumachen, dass die Ölbosse vor nichts Halt machten. Zur gleichen Zeit kaufte ich meine erste Gitarre, eine dunkelblaue mit Stahlsaiten, auf der ich jeden Abend spielte. Meine Vorbilder waren Damien Rice, Joanna Newsom und Radiohead. Ihre Lieder waren leicht nachzuspielen, aber längst nicht so leicht zu verstehen. Mir war, als würden sie mit Absicht kryptische Texte schreiben, damit jeder sie auf seine Weise interpretieren und sich selbst darin wiederfinden konnte. So auch ich.
Als Achtzehnjähriger begann ich, meine eigenen Songs zu schreiben. Die ersten paar waren zahme Versuche, der stummen Natur eine Stimme zu verleihen. Meine Inspiration zog ich aus Büchern, Computerspielen und meinen musikalischen Vorbildern, und ich spielte die neuen Lieder bei den Wochenendversammlungen von Natur & Ungdom, spätabends, wenn die Diskussionsrunden vorbei und die Gruppenleiter ins Bett gegangen waren. In abgeschiedenen Treppenhäusern und über Nacht abgesperrten Duschräumen hielt ich kleine Mitternachtskonzerte für diejenigen von uns, die zu viel Energie hatten, um früh schlafen zu gehen. Meine Texte hallten nach, sowohl im Mauerwerk als auch in den Gedanken meiner Zuhörer.
Meine Karriere bei Natur & Ungdom war nur von kurzer Dauer, aber ich beschloss, weiter Musik zu machen. In den Jahren nach dem Gymnasium gab ich den Plan auf, Ingenieur zu werden, um mich voll und ganz der Musik zu widmen. Ich übernachtete bei Freunden, spielte Konzerte gegen Kost und Logis und lebte so sparsam wie möglich. Ich hatte nur mich und meine Gitarre zu versorgen, also konnte ich fast überall hinreisen, wo ich wollte; alles was ich brauchte, waren ein Raum und ein Publikum. Meine Texte spiegelten mein eigenes entwurzeltes Leben wider. Ich schrieb über Heimweh, unerwiderte Liebe und über das Gefühl, nirgendwo richtig zu Hause zu sein. Die Musik wurde zum Kanal der schwierigsten Dinge in meinem Leben, für die ich nicht so leicht Worte fand, die sich aber oft mit Klängen beschreiben ließen.
Mit einundzwanzig Jahren zog ich nach Oslo, um Soziologie zu studieren. Hier traf ich andere junge Musiker in den Startlöchern ihrer musikalischen Karriere. Ich wohnte im Keller meiner Großeltern und überwies den Großteil meines Studienkredits direkt auf ein Sparkonto, während ich die Lieder für mein erstes Album zusammenstellte. Nachdem ich über fünf Jahre hinweg all mein Geld, einige Lieder und das nötige Selbstbewusstsein zusammengekratzt hatte, veröffentlichte ich im Jahr 2010 mein Debütalbum Floriography. Auf den ersten Titel, »Rubbles«, ein Song aus meiner Zeit bei Natur & Ungdom, bin ich nach wie vor sehr stolz.
Noch im gleichen Jahr erschien mein Name landesweit in der Presse, allerdings nicht wegen des Albums, sondern wegen meines Engagements als Umweltaktivist. Ich hatte ein Statoil-Stipendium in Höhe von 800 000 Kronen abgelehnt und war daraufhin einem Telefonansturm ausgesetzt, dessen Ausmaße ich mir nie erträumt hätte. Die Medien waren neugierig, das Volk tuschelte. In den Kommentarspalten wurde ich immer wieder der Heuchelei und Scheinheiligkeit beschuldigt. Geld abzulehnen war anscheinend das Kontroverseste, was sich ein norwegischer Musiker erlauben konnte. Doch ich bewahrte Ruhe. Ich vertrat meinen Standpunkt.
Der Umweltschutz war ein angenehmer Kampf. Nur selten musste man darüber nachdenken, was richtig und falsch war. Die Klimaforscher ließen keinen Zweifel daran, dass unsere Gesellschaft sich dramatisch ändern müsse, wenn wir die Zerstörung unseres Planeten verhindern wollen. Manchmal war es nicht so leicht, nach seinen eigenen Prinzipien zu leben, die Frage nach Richtig oder Falsch war aber immer leicht zu beantworten.
Der Kampf für die Umwelt mag leicht gewesen sein, mein Engagement führte allerdings dazu, dass ich mich auf vieles andere nicht einließ. Ich lehnte höflich ab, wenn Tierschutz, Friedensbewegungen, Flüchtlingshilfe und Gewerkschaften bei mir anklopften, und redete mich damit heraus, dass ich meine Energie und meine Zeit nur meiner Herzensangelegenheit, der Umwelt, widmen wolle. Die Wahrheit war: Ich hatte eine Heidenangst davor, Stellungen zu Themen zu beziehen, die sich gegen jemanden richteten. Für mich war es leichter, mich voll und ganz auf den Kampf für die Umwelt zu konzentrieren und anderen andere Kriegsschauplätze zu überlassen.
Bevor ich die...