Der sozialistische Erziehungsanspruch
1. Erziehung oder Manipulation
1.1 Bildung und Erziehung
Das „Kleine Politische Wörterbuch“ des Dietz-Verlages Berlin (Ost) [4] beginnt einen eineinhalb Seiten langen Artikel zu dem Stichwort „Bildung und Erziehung“ so:
in der sozialistischen Gesellschaft umfassender Prozeß der zielgerichteten Einwirkung auf die allseitige Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit, der auf die Vermittlung von wissenschaftlichen Kenntnissen und Erkenntnissen, auf die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten (Bildung), auf die Herausbildung der sozialistischen Weltanschauung und Moral sowie eines entsprechenden Verhaltens (kommunistische Erziehung) gerichtet ist. Beide Seiten dieses Prozesses durchdringen einander und sind untrennbar miteinander verbunden.
Daraus ist zunächst vor allem zu entnehmen, dass es in der DDR keine Bildung ohne Erziehung gibt. Gültigkeit hat dies in erster Linie für Bildung im Sinne von Ausbildung. Die Kopplung von Ausbildung und Erziehung wird hergestellt und zu einer gesellschaftlichen Gesetzlichkeit erhoben. Behauptet wird die Gültigkeit dessen jedoch auch für das, was unter „Bildung und Erziehung“ noch verstanden wird, nämlich „das Ergebnis dieses Entwicklungsprozesses, der erreichte Stand des Wissens und Könnens sowie der sittlichen Reife.“ [4] Mit „Ergebnis“ ist hier selbstverständlich nur der Erfolg im Sinne der erklärten Absicht gemeint. An seiner Einstellung sind Zweifel nicht zulässig.
Anders als bei der Behauptung von der Unzertrennlichkeit von Bildung und Erziehung liegt bei dem hier in der Praxis zu verzeichnenden Resultat der hypothetische Charakter dieser Bildungsideologie offen zutage. Es zeigt sich, dass die unausgesetzten Erziehungseinwirkungen den Ausbildungsprozess behindern und obendrein letztlich das erklärte Ziel nicht erreicht wird.
„Erziehung“ schlechthin findet man in dem genannten Nachschlagewerk nicht. Dafür stößt man unter „K“ auf „kommunistische Erziehung“. Die Erziehung dieser Art ist nicht beschränkt auf Kinder. Sie findet überall statt: in den Betrieben, an den Fachschulen und Universitäten, in „gesellschaftlichen Organisationen“, in Hausgemeinschaften, ja sogar in der Familie wird kommunistisch erzogen. Es ist klar, dass in Behauptungen wie dieser mehr der Anspruch gemeint sein kann als die Realität: Es soll erzogen werden. Der Einfluss des Staates ist unumschränkt in seinen Institutionen, zu denen fast alles gehört, glücklicherweise aber nicht auch in Hausgemeinschaften oder Familien. Gerade die Familie ist zumeist der letzte Zufluchtsort vor ihm. Doch außerhalb dieser privaten Sphäre trifft es zu: Die ganze Gesellschaft ist eine einzige Erziehungsinstitution. Für all dieses Einwirken auf den Menschen gibt es nur ein Ziel: Das Ideal der „sozialistischen Persönlichkeit“. Das kam im eingangs zitierten Text bereits zum Ausdruck.
Was ist eine solche „Persönlichkeit“? Sie ist Wesensmerkmal eines Menschen mit
kommunistischer Arbeitsmoral, der seine Fähigkeiten und Begabungen zum Wohle der sozialistischen Gesellschaft entfaltet, sich durch Arbeitsliebe und Verteidigungsbereitschaft, durch Gemeinschaftsgeist und das Streben nach hohen kommunistischen Idealen
auszeichnet [5]. Ein solcher Mensch vertritt selbstverständlich die „einzig wissenschaftliche Weltanschauung“, nämlich den Marxismus-Leninismus „in der Einheit seiner Bestandteiles des dialektischen und historischen Materialismus, der politischen Ökonomie und des wissenschaftlichen Kommunismus“. [5]
Wer sich diesem staatlichen Anspruch entziehen will, weil er etwa einen anderen Glauben hat als den an die Allmacht der Produktionsverhältnisse, kann dies tun. Das Recht auf Glaubensfreiheit ist ihm verfassungsmäßig zugesichert (Artikel 20) [6]. Jedoch muss er die Konsequenz daraus tragen, auch wenn die Verfassung ebenfalls versichert, dass einem Menschen kein Nachteil entsteht, wenn er von seinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch macht (Artikel 27). Zwar existiert hinsichtlich des weltanschaulichen Bekenntnisses kein solcher Passus, doch ist ein solches letztendlich auch nichts anderes als eine Meinungsäußerung. Es ist suspekt, dass es bei der Garantierung irgendeines Rechtes des Zusatzes bedarf, dass aus seiner Inanspruchnahme kein Nachteil erwachsen darf. Man könnte spitzfindig meinen, dass, wenn der Zusatz an der einen Stelle gemacht wird, er also dort nicht gilt, wo er nicht steht und also mit einer Benachteiligung infolge eines nichtmarxistischen Bekenntnisses durchaus zu rechnen sei. Einer solchen Auslegung würde natürlich widersprochen. Tatsächlich aber führt ein nichtmarxistisches Bekenntnis „an den Rand der Gesellschaft“, sofern es mit praktischen Konsequenzen verbunden wird. Diese nämlich erschöpfen sich dann nicht im Besuch des Gottesdienstes, den der Staat demonstrativ großzügig toleriert. Der Staat erklärt sich als vollendet human und gibt sich somit das Recht, jeden Angriff auf sich als Angriff auf die Humanität brutal zurückzuschlagen. Auf Änderungen zielende praktische Konsequenzen Andersdenkender werden immer in der gleichen Weise gedeutet − als Angriff auf die Humanität −, womit die Andersdenkenden zur Passivität verurteilt sind.
Dieselben, die soeben noch widersprochen hätten, finden diese vermeintlich defensive Reaktionsweise des Staates nun ganz selbstverständlich. Der Satz „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, ist absolut aktuell. Wer das Postulat von der Humanität in Frage stellt, weil er in der Realität nur das Gegenteil bewiesen findet, ist nicht nur Dissident, sondern Staatsfeind. Das ist jeder, der an der Fähigkeit des marxistisch-kommunistischen Systems, human zu sein, zweifelt. Einem solchen ist auch die Bildung versperrt, was kaum überrascht. Bildung und Erziehung bilden eine untrennbare Einheit. Wer sich nicht im sozialistischen Sinne beeinflussen − erziehen − lassen will, weil er nicht an den Sozialismus glaubt, der soll sich auch nicht bilden lassen. Für ihn gilt nicht mehr als die Schulpflicht, die hier nur als die Pflicht des Staates aufzufassen ist, und die bis zur zehnten Klasse der allgemeinbildenden Schule reicht.
Der umfassende Erziehungsanspruch steht also ganz offenbar im Widerspruch zur grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit einschließlich der absurden Zusicherung straffreien Ausgangs bei seiner Inanspruchnahme.
1.2 Der Erziehungsanspruch
Beschränkt man sich auf die Diskussion über diesen Widerspruch, lässt man der Erziehung an sich stillschweigend ihr Existenzrecht. Dieses in Frage zu stellen, gilt noch immer geradezu als Ungeheuerlichkeit. Und dies, obwohl man anerkennt, dass die Welt von Ungeheuerlichkeiten voll ist. Hier einen Zusammenhang zu sehen, ist noch nicht üblich. Dabei tut sich an dieser Stelle eine weit tiefere Kluft auf, als sie sich in dem Widerspruch zwischen Bildungs- und Meinungsfreiheit in der DDR offenbart. Diese Kluft zu erkennen, setzt voraus, dass Klarheit geschaffen wird über den Begriff „Erziehung“. Das geschieht in der Regel überhaupt nicht. Nicht nur im Sozialismus, sondern weltweit herrscht hier ein Dunst aus traditioneller Überzeugtheit, dessen Dichte und Trägheit lähmend wirken.
In der westlichen Welt aber gibt es Stimmen, die wenigstens die Möglichkeit bieten, diesen Dunst zu durchdringen. Das Bildungsmonopol der DDR gestattet es natürlich nicht, dass diese Stimmen in ihrem Hoheitsgebiet laut werden. Man verhindert das nicht gezielt, es ergibt sich vielmehr von selbst infolge der geistigen Einspurigkeit, zu der die Alleinherrschaft des Marxismus führt. Das Regime lässt keinen Ideenreichtum zu, am allerwenigsten in gesellschaftswissenschaftlicher Hinsicht. Philosophische oder sozialpsychologische Literatur aus der westlichen Welt gibt es in den Buchhandlungen der DDR nicht, es sei denn, sie ist marxistisch. Namen wie Theodor W. Adorno, Bertrand Russell oder Albert Camus, die stellvertretend sein mögen für ungezählte auch weniger bekannte, werden nicht geführt, von wenigen Ausnahmen in ihrem Werk abgesehen. Das ist sicherer − von zu vielen Seiten fühlt sich das Regime angreifbar, ohne selbst diese Seiten genau zu kennen. Sein Erziehungsanspruch, vor allem der tatsächliche Hintergrund der eigentlichen Erziehung, ist eine solche Schwachstelle.
Doch das ahnen die Erziehungsideologen zumindest der unteren und mittleren Ebenen nicht. So kommen westliche „Erziehungsbücher“ durch den Zoll, selbst wenn sie Gedankengut der Antipädagogik erhalten, denn dieses Wort ist jenen noch nicht zum Begriff geworden. „Erziehung“ genießt noch immer, meist auch in oppositionellen Kreisen, das Flair des Notwendigen, ja sogar Ehrenhaften. Dort mehren sich zum Beispiel die Stimmen, die anstelle des Wehrkundeunterrichts in den Schulen der DDR eine „Friedenserziehung“ fordern. Der Ursprung ist gut, doch das Ziel, das hinter diesem Wunsch steht, ist mit Erziehung nicht zu erreichen. Diese Erkenntnis steht...