Der Sadist
Barbara Meier war erst 42 Jahre alt, als sie grausam ermordet wurde. Kennengelernt hatte sie ihren Mörder in jener Kneipe im Münchner Süden, in der sie allabendlich zu Gast war und wo sie meist kräftig trank. Sie war groß, schlank und sah sehr gut aus. Die gepflegten langen schwarzen Haare, die nach wie vor wohlgeformte Figur und die langen Beine – sie trug meist auch noch ziemlich kurze Röcke, in denen sie aber keineswegs ordinär wirkte, sondern elegant und geschmackvoll – zogen die Blicke der Männer auf sich. Allerdings hatte der Alkohol, der auch ursächlich für ihren sozialen Abstieg war und welcher wiederum mit Scheidung und der Trennung von ihren Kindern begann, bereits Spuren in ihrem schönen Gesicht hinterlassen.
Alles, was ihr geblieben war, waren die Abende in ihrer Stammkneipe, in der sie ein gern gesehener Gast war. Alle Stammgäste mochten sie. Vielleicht auch deshalb, weil sie Männern gegenüber sehr großzügig war, was körperliche Gunst betraf. Viele Stammgäste hatten schon mit ihr geschlafen. Dennoch war sie geachtet bei den vorwiegend verheirateten Männern. Jedenfalls hätte es keiner gewagt, sie als leichtes Mädchen zu bezeichnen.
Barbara war gebildet, intelligent und eloquent, ohne aber vorlaut oder aufdringlich zu sein. Sie war belesen und stets bestens informiert über die Geschehnisse in der Welt. Immerhin war sie Chefsekretärin in einem großen Betrieb gewesen. Jetzt lebte sie von Sozialhilfe, wohnte in einem kleinen Apartment ein paar Häuser weiter und verdiente sich ein paar Euro zusätzlich, indem sie für Stammgäste deren Lohnsteuerjahresausgleiche und Ähnliches erledigte. Einige Zeugen würden später behaupten, sie habe auch Geld von jenen Männern verlangt, die sie mit in ihre Wohnung nahm. Was sich aber nicht bewahrheitete. Lediglich um die Bezahlung ihrer Zeche musste sie sich nie Gedanken machen.
Jetzt lag Barbara tot auf ihrem Bett, und von ihrer Schönheit war nichts mehr übrig, weil bereits die zweite oder dritte Generation von Maden dabei war, ihre sterbliche Hülle zu entsorgen. Dieser sich zersetzende, stinkende Haufen organischer Substanzen führte mir immer wieder drastisch vor Augen, wie vergänglich wir sind und wie sich der menschliche Körper nach Eintritt des Todes sukzessive in seine Bestandteile aufzulösen beginnt.
Die Leiche lag auf dem Rücken, die Beine waren weit gespreizt. Der Geschlechtsakt war vermutlich das Letzte, was Barbara Meier in dieser Welt miterlebt hatte. Zumindest sah es so aus. Fast ein bisschen zu auffällig deuteten nicht nur die Art und Weise, wie sie dalag, sondern auch die Strapse, die dazugehörigen Seidenstrümpfe sowie die hochhackigen Stöckelschuhe auf ein sexuelles Geschehen hin. Die Handgelenke waren mit einem Bademantelgürtel vor dem Körper zusammengebunden und ließen auf sadomasochistische Praktiken schließen, wobei die gefesselten Hände bereits in die von Maden zerfressene Bauchhöhle hineingefallen waren.
Die spätere genaue Untersuchung des Gürtelknotens ergab, dass Barbara die Fesselung nicht selbst angelegt haben konnte. Doch nicht geklärt werden konnte, ob sie damit einverstanden war oder ob ihr die Hände zwangsweise zusammengebunden worden waren. Das Ganze sah überhaupt sehr gestellt aus, fast wie drapiert. Wurde der Leichnam eventuell erst nachträglich in diese Position gebracht?
Ein weißer Damenschlüpfer lag neben der Toten auf dem breiten Bett. Vielleicht hatte sie ihn getragen, bevor sie die Reizwäsche anlegte. Routinemäßig sah ich mich um in der kleinen Wohnung. Eine große Porträtaufnahme, die auf der Anrichte stand, zeigte das Bild einer wunderschönen Frau. Ein schauerlicher Kontrast zum übel riechenden, in Verwesung und Fäulnis befindlichen Körper hier auf dem Bett.
Da Ermittler berufsbedingt sehr genau hinschauen müssen, auch wenn der Fäulniszustand noch so fortgeschritten ist, blieb uns ein grausiges Detail nicht verborgen. Es war ein Kollege des Erkennungsdienstes, der es als Erster entdeckt hatte. Dann starrten wir alle gemeinsam auf diese Stelle und sahen etwas, was man auch als langjähriger Mordermittler nicht sehr oft sieht, weil es eher selten vorkommt. Es war ein starkes Indiz für das Vorliegen sogenannten Fremdverschuldens: Beide Brustwarzen fehlten, und es sah laut erster Begutachtung eines Rechtsmediziners nicht so aus, als könnten diese durch Madenfraß abgenagt worden sein. Aber nachdem wir auch nach gründlichster Suche die Brustwarzen nicht gefunden hatten, gab es dafür nur zwei Erklärungen. Entweder wir hatten sie übersehen, oder der Täter hat sie beseitigt. Dabei fielen mir zwei Fälle ein, bei denen die Brustwarzen der Mordopfer ebenfalls abgetrennt worden waren. In einem Fall hatte sie der Täter wieder ausgespuckt; Jahre später konnte daran seine DNA festgestellt werden, was zu seiner Überführung und Verurteilung reichte. In einem anderen Fall wurden einem Opfer die Brustwarzen mit einer Schere abgeschnitten, sie wurden nie gefunden.
Das Apartment war mit billigen Möbeln ausgestattet, aber dennoch recht geschmackvoll eingerichtet. Die kleine Kochnische war sauber und aufgeräumt. Auffälligkeiten gab es ansonsten nicht, insbesondere waren keinerlei Kampfspuren zu sehen. Nur etliche leere und noch volle Flaschen verschiedenster Alkoholika – vorwiegend Wein, Sekt und Cognac – ließen erkennen, dass hier jemand lebte, der gerne trank. Lebensmittel waren dagegen kaum vorhanden.
Auf dem kleinen Tischchen, das im Wohnraum vor einer kleinen Couch stand, fanden wir zwei bereits ausgetrocknete Sektgläser und eine halb leere Flasche. Der Aschenbecher quoll über, es waren Zigarettenkippen ihrer bevorzugten Marke, aber auch andere. Und wir entdeckten die Reste eines Joints. Barbaras letzter Besucher war also Drogenkonsument. Sie selbst soll ausschließlich die Droge Alkohol konsumiert haben.
Die Erkennungsdienstbeamten fanden verschiedene frische Fingerspuren an den Gläsern, die von Barbara sowie einer weiteren Person stammten. Letztere hatte sich also keine Mühe gegeben, Fingerabdrücke zu vermeiden. Was jedoch nicht automatisch bedeuten musste, dass sie nicht schon von vornherein vorgehabt haben konnte, Barbara zu töten. Selbst hartgesottene Mörder sind nervös und machen jene Fehler, nach denen wir Ermittler suchen und von denen wir profitieren.
Der Rechtsmediziner vermutete eine Liegezeit des Leichnams von etwa drei bis vier Wochen, und er fand keine Verletzungen, wie sie hätten vorhanden sein müssen, wäre der Tod durch Erstechen, Erschlagen oder Erschießen verursacht worden. Um feststellen zu können, ob Barbara erwürgt oder erdrosselt worden sei, müsse die Obduktion abgewartet werden, die noch in der Nacht im Institut für Rechtsmedizin stattfand.
Der Verdacht bestätigte sich: Barbara Meier war durch Gewalteinwirkung gegen den Hals gestorben. Aufgrund der Fäulniserscheinungen ließ sich jedoch nicht mehr feststellen, welche Art von Gewalt das gewesen sein könnte. Das gebrochene Zungenbein und die beiden gebrochenen Kehlkopfhörner waren zwar klassische Anzeichen für eine Gewaltanwendung gegen den Hals, wie zum Beispiel Würgen oder Drosseln, aber auch ein Sturz hätte die Todesursache sein können. Das war ein Ergebnis, das uns Ermittler natürlich nicht zufriedenstellte. Von Erdrosseln spricht man übrigens, wenn als Tatwerkzeug ein Hilfsmittel wie beispielsweise ein Gürtel, ein Strick, ein Kleidungsstück oder anderes verwendet wurde, und von Erwürgen, wenn mit den Händen der Hals zugedrückt wurde. Drosselwerkzeuge können Spuren hinterlassen und unterscheiden sich häufig von dem Befundmuster, das bei einem Würgevorgang entstehen kann.
»Mit hoher Wahrscheinlichkeit« sei das Fehlen der Brustwarzen auf keinen Madenfraß zurückzuführen. Es sehe eher so aus, als deute die scharfrandige, etwas gezackte Abtrennung auf ein Abbeißen denn auf ein Abschneiden hin. Wieder dieses »mit hoher Wahrscheinlichkeit«, das wir Ermittler genauso lieben wie die Formulierung »nicht ausschließbar« oder »anatomisch nicht nachweisbar«. Da sind die »erheblichen Zweifel« der Verteidiger quasi schon vorprogrammiert. Es war zum Verzweifeln.
Wissenschaftler dürfen ausschließlich objektiv nachweisbare Erkenntnisse verwerten, wir Ermittler müssen auch den sogenannten Modus Operandi, also das Tatmuster, in unsere Überlegungen mit einbeziehen. Dadurch ist gegebenenfalls ein Rückschluss auf die Psyche eines Täters möglich. So hatten wir keine Zweifel, dass das Abtrennen der Brustwarzen auf sadistische Neigungen hinweisen würde. Konnte es sein, dass wir es mit einem Täter zu tun hatten, der die Brustwarzen absichtlich verschluckt hatte?
Wir begannen unsere Ermittlungen wie immer von innen nach außen. Das heißt, die Nachforschungen fangen stets beim Opfer an. Die Erstellung eines sogenannten Opferbildes gehört also zu den ersten Maßnahmen. In diesem Fall hatten wir Glück, weil es eine gute Freundin gab, und zwar die Wirtin, bei der Barbara täglich zu Gast war. So gelang es uns relativ schnell, eine Art Lebenslauf zu erhalten. Zunächst aber klärte sich die Frage, warum Barbara in den vergangenen zwei...