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»Weil die Wärme tot war in mir«
A m Morgen des 12. Mai 2009 stieg ich ins Auto und fuhr nach Winnenden. Am Tag zuvor hatte Tim K. die Albertville-Realschule betreten, ein ehemaliger Schüler, in einem schwarzen Kampfanzug und mit einer Pistole bewaffnet, und dort 13 Menschen erschossen. Anschließend hatte er einen Autofahrer gekidnappt, war mit ihm nach Wendlingen gefahren, hatte zwei Männer in einem Autohaus und sich anschließend selbst erschossen. Ich sollte für die Zeitung Der Tagesspiegel aus Winnenden berichten.
Auf dem Weg vom Parkplatz herrscht auf den ersten Blick die Normalität einer südwestdeutschen Kleinstadt: Am Milchstand gibt es Thymiankäse, Menschen schauen in Schaufenster, die Müllabfuhr fährt Müll ab. Ein Junge schickt sich an, bei Rot über die Ampel zu gehen, ein alter Mann hebt mahnend den Zeigefinger, der Junge macht kehrt, lächelt, wartet. »Die Blumen verkaufen sich gut heute«, sagt der Mann am Blumenstand. Und schiebt erschrocken hinterher: »Aber man will sich ja nicht am Leid bereichern.« Ich nähere mich der Realschule. Immer mehr Menschen mit verweinten Gesichtern kommen mir entgegen. Ihre geröteten Augen starr geradeaus gerichtet, gehen sie mit eingezogenen Köpfen durch die Marktstraße, die die Altstadt in der Mitte trennt. Dort trifft sich, wie an jedem Markttag, die Seniorengruppe der Arbeiterwohlfahrt, eigentlich zum Kanastern, aber heute bleiben die Karten in der Schublade. Ein knappes Dutzend älterer Herrschaften sitzt an Resopaltischen, sie suchen nach Erklärungen. Dabei war er so ein guter Tischtennisspieler, sagt einer. Und gut im Armdrücken, ein zweiter. Und ein guter Schütze, ein dritter.
Auf dem Platz vor der Realschule parken mobile Übertragungswagen von Fernsehsendern, davor reihen sich Reporter aus der ganzen Welt auf, aus Frankreich, Australien, Großbritannien und Japan. Dazwischen stehen, gehen, schleichen Kinder, Jugendliche, Erwachsene herum, und sehr viele Polizisten. Es ist ein sehr beklemmender Tag für mich. So viel Unglück auf so kleinem Raum, so viel Taubheit, Verzweiflung, Anspannung und Schmerz. »Gott, wo warst du«, steht auf auf einem Plakat, das ein junger Mann ein paar hundert Meter von der Schule entfernt hochhält.
Ich soll aktuell berichten, spreche Menschen an. Eine junge Frau sagt, sie habe Angst, auf die Straße zu gehen. Vielleicht steckt irgendwo noch jemand, irgendein Freund des Täters. Sie wisse, dass das eigentlich nicht sein kann, aber das hilft ihr nicht, nachts hat sie kaum geschlafen. »Er hat zwei Freundinnen von mir erschossen.« Sie sagt es ganz sachlich, aber ihre Fassung reicht kaum bis zum Ende des Satzes.
Ich gehe durch die Straßen, klingle an der Haustür eines Kindergartens. Von der Leiterin möchte ich wissen, welchen Eindruck sie heute von den Kindern hat. Sie erzählt, dass viele Eltern ihre Kinder am Tag nach der Tat zu Hause gelassen hätten. Die, die da sind, stellen Fragen: Warum macht der Mann das? Warum war er so böse? Die Erzieherin sieht mich so ratlos an wie wohl auch die Kinder. Ich weiß es nicht, sagt sie.
Irgendwo in diesem Gemenge muss am Tattag auch Gisela Mayer gestanden haben. Sie wollte zu ihrer Tochter Nina, einer Referendarin an der Winnenden-Realschule. Nina verlor an dem Tag ihr Leben. Gisela Mayer wollte zu ihrem Kind, wollte sie sehen, es in den Arm nehmen, doch man ließ sie nicht. Als jemand fälschlicherweise behauptete, Nina sei schon abtransportiert worden, machte sie sich auf den Weg nach Hause. Dort klingelten wenig später die ersten Reporter. »Ich war noch geistesgegenwärtig genug, sie wegzuschicken.« Tags darauf aber ließ sie jemanden von der Zeitschrift Bunte in ihr Haus. »Das war ein Fehler.« In den Tagen danach verkroch sie sich mit ihrer jüngeren Tochter Ibo und ihrem Mann im Haus. Sie saßen da, taten nichts, »man verliert das Gefühl für Zeit«. Die Fenster verhängten sie mit Leintüchern, damit Fotografen und Kameraleute ihnen, die in einem Tal wohnen, nicht per Tele ins Wohnzimmer filmten.
Das alles erzählte mir Frau Mayer erst Jahre später, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Mir war meine Arbeit in Winnenden wieder eingefallen, als ich darüber nachgedacht hatte, wer mir etwas über Vergebung erzählen könnte. Ich schreibe sie an, wir telefonieren. Sie scheint froh zu sein, einmal nicht nur über »die Tat«, »den Täter«, »die Zeit und das Leben danach« sprechen zu können. Ihr spontaner Kommentar, als ich ihr sage, dass ich übers Vergeben mit ihr sprechen möchte: »Oh, darüber habe ich noch nicht weiter nachgedacht.« Ihre Neugier auf das Thema macht mich wiederum neugierig auf sie, eine gute Voraussetzung für ein gutes Gespräch.
Ich lese ihr Buch »Die Kälte darf nicht siegen – Was Menschlichkeit gegen Gewalt bewirken kann«, erschienen etwa ein Jahr nach der Tat. Darin beschreibt sie ihre abgrundtiefe Ratlosigkeit angesichts der Sinnfrage: »Nina ist einen grundlosen Tod gestorben, einen wahllosen, willkürlichen, zufälligen. Es gibt nicht einmal den Ansatz von Erklärungen, von Begründungen, die einen Zusammenhang zwischen meiner Tochter und ihrem Mörder schaffen könnten. Der Amokläufer von Winnenden kannte Nina nicht, er hatte sie nie zuvor in seinem Leben gesehen, hatte nie ein Wort mit ihr gesprochen. Ihre Begegnung auf dem Flur der Schule war die erste – und die letzte. Der einzige Grund, warum sie sterben musste, war, dass sie helfen wollte.« Wie kann man jemandem vergeben, zu dem man überhaupt keinen persönlichen Bezug hat? Dem man die Frage nach dem »Warum« allenfalls ins Grab hinab zurufen kann?
Etwa fünf Jahre nach der Tat gehe ich dieselben Wege, die ich direkt nach dem Amoklauf gegangen bin, diesmal mit einem anderen Ziel: einem Büro in der Wallstraße. »Stiftung gegen Gewalt an Schulen – Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden« steht am Eingang. Dorthin hat mich Gisela Mayer, die der Stiftung vorsteht, eingeladen.
Mir gegenüber, zwischen Regalen voller Fachliteratur, sitzt in sehr aufrechter Haltung eine Frau mit geradem Blick aus offenen, braunen Augen, aufgeschlossen, zugewandt, präsent. Und ein bisschen geschäftsmäßig. Ich weiß, dass ich nicht der Erste bin, mit dem sie über den Mehrfachmord von Winnenden spricht, und glaube das auch an ihrer Art mir gegenüber zu bemerken: Sie antwortet klar, aber das liegt auch daran, dass sie ein paar Fragen schon einige Male gehört hat und dass die Antworten bereits vorformuliert in ihrem Kopf vorliegen.
Gisela Mayer erzählt zuerst von einer gewaltigen Leerstelle. Sie heißt »Täter«. Das, was alle Welt an diesem Tag ganz selbstverständlich »die Tat« nennt, hat Gisela Mayer lange Zeit nicht als solche erlebt. Sondern wie eine Naturkatastrophe. Als wäre die Ursache keine menschliche, als gebe es keine Schuld, keine Verantwortung. Zu schwer, abstrakt, entfernt, zu wenig hilfreich erschienen ihr diese Begriffe, obwohl sie, die Philosophie studiert hat, mit ihnen vertraut ist.
Es fällt mir schwer, das zu verstehen: die Tat keine Tat, der Täter außen vor, wie kann das sein? Waren nicht Zeitungen, Fernsehen und Radio voll des Rätselratens, wie es zu dem Verbrechen kommen konnte? Übertrafen sich die Journalisten nicht gegenseitig in der beliebten Disziplin des Täterdeutens, frei nach dem Motto »Eine unbeantwortete Frage lässt sich jederzeit mit Spekulationen stopfen«?
Fotos von Tim K. machten damals die Runde. Auf einem Passfoto schaut ein pubertierender Junge mit länglicher Brille und akkuraten Koteletten etwas unschlüssig und ziemlich ernst in die Kamera. Ein anderes zeigt ihn lachend, offen, einladend. Mal sieht man ihn neben zwei Mitgliedern eines Sportvereins vor einem Handballtor stehen, mal Tischtennis spielen oder einen Pokal in der Hand halten. Die Fotos erinnern mich an meine eigene Pubertät. So schaut jemand, der sich unwohl fühlt in seiner Haut, emotional vielleicht ein wenig unbehaust, mit anderen Worten: Diese Fotos erscheinen mir so vollkommen normal, dass sich die Frage aller Fragen aufdrängt: Wie konnte so einer so etwas tun? Und: Warum scheint Gisela Mayer zunächst nicht nach Antworten darauf gesucht zu haben?
Die Leerstelle namens »Täter« muss so umfassend, so riesig gewesen sein, dass Mayer von ihrer Existenz noch nicht einmal wusste. Erst nach und nach füllte sie sich. Mayer beschreibt die allmähliche, behutsame Erweiterung ihres Blickfeldes. Etwas in ihrer Psyche muss gnädig genug gewesen zu sein, nur jeweils das zuzulassen, was sie gerade noch ertragen konnte. Ihre Tochter ist tot – schon das war zu viel Information, schon allein damit umzugehen, war Zumutung genug in den ersten ein, zwei Jahren. Sie konnte sich nicht auch noch mit dem Täter beschäftigen. Und: Sie musste ihr Leben weiterleben, auch als Ehefrau und Mutter ihrer jüngeren Ibo.
Die war das, was wohl jeder gesunde Mensch in ihrer Situation wäre: überfordert. Ein Jahr lang besuchte sie kaum die Schule – sie hielt es nicht aus darin, obwohl es sich nicht um Ninas Schule handelte....