[20]2 Modelle zum Verhandeln und Überzeugen
Normative und deskriptive Theorien
Im vielfältigen Gebiet des Verhandelns gibt es wohl nicht zuletzt wegen der Vielfalt an Anwendungsbereichen keine Theorie oder kein allgemeines Modell, das die ganze Komplexität des Themas Verhandeln umfassen würde (Pruitt, 1998). Modelle oder vorgeschlagene Methoden betreffen daher in der Regel relevante Ausschnitte oder zu berücksichtigende Aspekte des Ganzen. Bekannte Theorien lassen sich unterscheiden in solche, die bestimmtes Denken und Verhalten empfehlen oder vorschreiben (sogenannte normative oder präskriptive Modelle) und solche, die aus der Beschreibung von Bedingungen, Denk- und Verhaltensweisen Erklärungen und Empfehlungen für Verhandlungen ableiten (sogenannte deskriptive Modelle). Die Krux an normativen Theorien ist, dass keiner weiß, ob oder zu welchem Grad sie stimmen – auch wenn sie in der Regel plausibel erscheinen, man sagt dazu inhaltsvalide. Bei deskriptiven Theorien ist unsicher, ob sie noch gültig sind oder wie generell sie funktionieren – da sie meist zwar wissenschaftlich, dann aber oft in isolierten oder vereinfachten Bedingungen und zu einem vergangenen Zeitpunkt, geprüft oder abgeleitet wurden.
Thomas (1992) nennt sechs Herausforderungen, die die Generalisierbarkeit und Allgemeingültigkeit von Verhandlungsmodellen sowie Theorien und Empfehlungen zum Verhandeln begrenzen:
1. Modelle vereinfachen die Komplexität der Realität oder beleuchten nur Aspekte.
2. Betrachtete Ziele und Perspektiven in Verhandlungen sind sehr vielfältig.
3. Verhandlungen haben unterschiedliche zeitliche Ausdehnung und Intensität.
4. Empfehlungen sind in der Regel nicht wertfrei, sondern ethisch-ideologisch geprägt.
5. Verhandlungen werden von unterschiedlichen Personen und Gruppen geführt.
6. Verhandlungen unterliegen zusätzlich unterschiedlichen kulturellen Einflüssen.
Jedes Modell erlaubt Aus-sagen und Ableitungen
Letztendlich wünscht sich ein Verhandlungsratgeber, dass jede Verhaltensempfehlung auch wissenschaftlich fundiert werden kann und somit begründbar ist. Diesem Wunsch kann natürlich durch wissenschaftliche Prüfung nachgekommen werden. Dabei hat jede Forschungstradition und jede Art der Modellbildung über Verhandeln, relevante Prozesse und Bedingungen ihre Berechtigung. Denn jedes Modell liefert einen Denkrahmen und Einsatzmöglichkeiten, wenn nicht gar eine Erweiterung des Wissens über die Verhandlungsdomäne (Zartman, 2002). Welche Modellart letztlich sinnvoll [21]für die eigene Anwendung ist und eine Aussage mit Relevanz für die Anwendung liefern kann, hängt von der jeweiligen Grundfrage und Aussagemöglichkeit des Modells, der Verhandlungssituation, Eigenheiten der beteiligten Personen sowie dem Verhandlungsgegenstand ab.
Kausal und Strukturmodelle
In diesem Band werden in Erweiterung der Unterscheidung von Morley (2006) sechs unterschiedliche Anwendungs- und Forschungstraditionen mit je einem prototypischen Phänomen oder Modell knapp vorgestellt und nutzbar erklärt. Die ersten drei folgen einem eher normativ-präskriptiven Ansatz, die letzten drei repräsentieren tendenziell deskriptive Modelle. Daneben gibt es noch andere Unterscheidungsformen und Möglichkeiten der Gliederung von Modellen, die sich teilweise mit den vorliegenden überlappen. Kausalmodelle zum Beispiel identifizieren Eigenheiten von Situation, Prozess und potenziellem Ergebnis im deskriptiven Sinne. Strukturmodelle fokussieren auf Schritte und Phasen im Verhandlungsprozess im normativen Sinne (Carnevale, 2000).
2.1 Mathematisch-betriebswirtschaftlicher Ansatz: Analytisches Modell
Analytische Modelle entstammen der rationalen Spieltheorie
Analytische Modelle sind formale oder normative Modelle, die der Spieltheorie entspringen. In sogenannten Spielen (= Verhandlung, dort meist als „bidding games“ bezeichnet), werden die Attribute der Verhandlungsvariablen bestimmt, die zu einem für beide Parteien optimalen Ergebnis führen (Gimpel, 2007). Ein analytisches Modell nimmt dabei an, dass die Verhandlung rational abläuft, bestimmten Entscheidungsalgorithmen folgt und die Verhandlungspartner nach Nutzenmaximierung streben.
NullsummenSpiele
„ZOPA“, der Einigungsbereich
In solchen Nullsummen-Spielen wird in der Regel also die Verteilung eines Guts, z.B. eines Preises, verhandelt. Aufgrund der Verteilungssituation nennt man diese Verhandlung auch distributiv – im Gegensatz zu integrativen Situationen, bei denen es tendenziell um eine Erweiterung des Rahmens innerhalb einer Problemlösung geht. Die Überschneidung des gegenseitigen Einigungsbereichs in der distributiven Situation bestimmt darüber, ob es eine gemeinsame Lösungsalternative gibt. Der Einigungsbereich wird als ZOPA („Zone Of Possible Agreement“, Bazerman & Neale, 1992) bezeichnet (vgl. Abbildung 2). In der Abbildung wird klar, dass es nur dann einen Einigungsbereich gibt, wenn sich die möglichen Zielräume der Beteiligten überschneiden. Das ist dann der Fall, wenn der Austrittspreis oder Reservationspreis des Bietenden höher ist als der des Fordernden. In der ersten Variante in der Abbildung ist der Einigungsbereich etwas größer, im zweiten Beispiel auf gleicher Skala etwas kleiner. Will ein Käufer nun beispielsweise nicht mehr als 6.000 € ausgeben und ein Verkäufer für das gleiche Gut aber mindestens 9.000 € erhalten (Variante 3), gibt es keine Überschneidung und somit nach diesem Ansatz keinen Einigungsbereich. Das ist in der Grafik auch daran erkennbar, [22]dass Käufer und Verkäufer mit ihren Reservationspreisen nun an den jeweils anderen Enden der Skala stehen. Interessant an diesem Ansatz ist, dass sich selbst komplexe Verhandlungen auf eine Verteilungs-Dimension reduzieren (lassen und müssen), dann nämlich wenn alle Verhandlungsalternativen und Präferenzen bekannt sind.
Abbildung 2:
Einigungsbereich in distributiven Verhandlungen nach Bazerman und Neale (1992)
Nash-Equilibrium als mathematisches Gleichgewicht der Alternativen
Nash-Axiome: Symmetrie, Pareto-Optimum, Invarianz, Unabhängigkeit
Eine optimale Lösung ist dann erreicht, wenn keine Alternative außerhalb der Verhandlung attraktiver für einen der Verhandlungspartner ist. Dieses „Gleichgewicht“ wird auch als Nash-Equilibrium bezeichnet – nach John Nash, einem der frühen prägenden Vertreter dieses Ansatzes. Nash (1950) postuliert vier Axiome, die ein kooperatives optimales Ergebnis einer Verhandlung („bargaining“) beschreiben:
1. Der Nutzen für beide Seiten folgt einer Symmetrie.
2. Es existiert ein Pareto-Optimum, das als beiderseitig fair erlebt wird. (Ein Pareto-Optimum stellt ein erlebtes Gleichgewicht der Verhandlungsergebnisse dar.)
3. Es besteht Invarianz des Ergebnisses zu einem gleichwertigen Nutzen.
4. Das Ergebnis genügt der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen.
Die vier Axiome können folgendermaßen erklärt und übersetzt werden: In der Symmetrieforderung in Axiom 1 wird klar, dass im mathematischen Modell eine Austauschsituation angenommen wird, in der ein Geben und Nehmen herrscht und jede Seite einen gleichwertigen Nutzen erwirtschaften will. Der Nutzen einer Lösung muss allerdings nicht dem gleichen Geldwert entsprechen, wenn er im Rahmen der Variablen nur als gerecht empfunden wird (Axiom 2). Axiom 3 zielt darauf ab, dass es zu der Verhandlung keine Alternative gibt, wenn sie keinen größeren Nutzen für einen der Beteiligten darstellt. Das bedeutet, der wahrgenommene Wert einer Alternative außerhalb der Verhandlung und des verhandelten Ergebnisses ist gewissermaßen identisch (oder geringer) als der, um den aktuell verhandelt wird. Dadurch wird die Verhandlung begründet. In der vierten Forderung wird deutlich, [23]wie wichtig eine Analyse der Situation ist, damit nicht um irrelevante Lösungen diskutiert oder verhandelt werden muss. Denn diese sollten nach Axiom 4 das Ergebnis und die Bewertung der Einigung nicht beeinflussen. Ziel ist es, in der Verhandlung eine Lösung zu finden, die alle vier Axiome erfüllt. Das ist grundsätzlich auch mathematisch und unabhängig von den Verhandelnden möglich. Eine solche Lösung wird am Ende die Zufriedenheit der Teilnehmer der Verhandlung bestimmen (vgl. Abbildung 3).
Abbildung 3:
Mögliche Ergebnisse in distributiven Verhandlungen in Anlehnung an Thomas (1992)
RubinsteinSpiel: Optimum oft im ersten Angebot
„BATNA“, das niedrigste zu akzeptierende Angebot
Nach der Weiterentwicklung dieser Theorie im Hinblick auf Verhandlungsprozesse wird nicht nur eine Folge von Angebot und Annehmen des Angebots zugrunde gelegt, sondern mehrere Angebot-Gegenangebot-Schritte (sogenanntes Rubinstein-Spiel nach dem prägenden Vertreter dieser Richtung, Rubinstein, 1982). Die wichtigste Erkenntnis aus der Forschung dazu ist, dass ein im ersten Angebot vorgeschlagenes Ergebnis durch mehrere Angebot-Gegenangebot-Schritte hinterfragt wird. Genau dadurch gewinnt es an Attraktivität, was letztendlich dazu führt, dass...