Besessenheit
»Die Leidenschaft, so glaubt man, sei magischen Ursprungs; und auch das sexuelle Verlangen gilt als magisch, als ein Besessensein, erzeugt von einem Element, das sich außerhalb befindet.«
Véronique Grandpierre über die Liebe bei den Sumerern
Wir kennen dieses Sichzeigen im Spiegel, bei dem das »Ich« durch die Inkarnation des »Du« Gestalt gewinnt. Es ist uns schon früher begegnet, als wir andere Gemütszustände betrachteten. Auch hier geht es um zufällige Begegnungen. Angestrebt und doch unerwartet, ergibt sich die Begegnung plötzlich im überhitzten Halbdunkel, beim Klang einer Melodie, durch Trommelrhythmen oder durch einen Tanzschritt – eine Begegnung, die sich dem Individuum im Fleische einschreibt, als sei sie ein Schicksal.
Michel Leiris war einer der größten französischen Ethnologen. Er hatte etwas, was anderen fehlte, eine Sprachfähigkeit, die er in der Begegnung mit den Surrealisten weiterentwickelte; auch Mut bei der subtilen Beschreibung seines Innenlebens, bis hin zur Selbstironie – vielleicht war diese der Ausgleich einer ständigen Melancholie, die ihn 1957 zu einem ernsthaften Suizidversuch getrieben hatte. Originell und zerbrechlich zugleich, eine Art Fürst der Literatur, von dem Lévi-Strauss sagte, er sei der größte Prosaist des Jahrhunderts, widmete sich dieser Mann einem bestimmten Problem auf völlig neue Weise: der Besessenheit. Zwischen 1931 und 1933 nahm er an der von Marcel Griaule geleiteten ethnologischen Expedition von Dakar nach Dschibuti teil, er erträumte sich Arabien, den Jemen, Äthiopien … Er stellte sich vor, er sei Joseph Conrad, und er war beseelt von Rimbaud und dessen abessinischer Freundin. Über die Bewunderung ihrer Literatur hinaus nährte er eine wahnsinnige Hoffnung. Er erwartete von ihnen, die er zu seinen Paten gewählt hatte, das Ende seiner Schreibhemmung, erhoffte sich von ihnen, sein eigenes Leben leben zu können. Und als er nach Äthiopien kam, in die frühere Hauptstadt Gondar mit ihrer heruntergekommenen Pracht, an den Ort, an dem Rimbaud einige Jahre gelebt hatte, spürte er, dass er angekommen war. Er wollte von dort nicht mehr weg und widmete sich monatelang der minutiösen Beschreibung des Zar-Kults. Nicht zum ersten Mal widmete sich ein Ethnologe einem entlegenen Kult, aber keiner hatte es auf solche Weise getan, tiefgründig und selbst betroffen zugleich. Die Aufzeichnungen über seine Feldforschung, die er uns hinterlassen hat, sind von unvergleichlicher persönlicher Intensität.
Der Zar-Kult
Beim Zar handelt es sich um einen Kult der Besessenheit, der sich im gesamten Niltal findet, besonders in Äthiopien, woher er vermutlich stammt, aber auch im Sudan und bis an die Mittelmeerküste Ägyptens. Hier werden Frauen – vor allem sie! – von Geistern in Besitz genommen. Wenn wir diese Frauen als Besessene bezeichnen, so ist dies eigentlich ein unpassender Begriff, der unserer Teufelslehre des Mittelalters entstammt. Denn tatsächlich sind sie Auserkorene, erwählt von einem unsichtbaren nichtmenschlichen Wesen, das sie als ein nur für sie da seiender Gefährte bis zum Tod begleitet.
In Begleitung von Abba Jérôme, einem äthiopischen Gelehrten, der die Worte für ihn übersetzte und ihm die Begriffe erläuterte, nahm Leiris an dem Ritus teil. Nicht nur einmal oder einige Male, sondern regelmäßig wie ein Eingeweihter, ohne eine einzige Zusammenkunft zu verpassen. Fast täglich ging er zur Meisterin des Zar, der alten Malkam Ayyahou. Er beobachtete und befragte sie; er befragte auch die Miteingeweihten und die zahllosen Klienten, Kranken und um Glück Bettelnden, welche die Priesterin konsultierten. Seine Begegnungen und Befragungen, seine Eingebungen und plötzlichen Erkenntnisse zeichnete Leiris in seinem Tagebuch auf, das er später unter dem Titel Phantom Afrika veröffentlichte. Und von Tag zu Tag wurde sein Text persönlicher. Je mehr seine Kenntnisse des Kults wuchsen, desto mehr rechnete Leiris damit, in Trance zu verfallen und selbst zur Hülle eines »Teufels«, eines Zar, zu werden. Er wünschte es sich, er lauerte darauf – und zweifellos war ihm sein Wunsch bewusst. Er hoffte auf eine Metamorphose, eine plötzliche Wandlung, ein Erwachen aus der Starre, die ihn seit seiner Kindheit plagte und deretwegen er sich einer fünfjährigen Psychoanalyse bei Adrien Borel, dem Therapeuten der Künstler, unterzogen hatte. Und tatsächlich, eines Abends fiel er zwar nicht in Trance, doch er verliebte sich in eine Besessene, in Emawayish, die Tochter der Priesterin Malkam.
»Gondar
Hütten aus Stroh und Steinen
In den zerfallenden Ruinen
Lange Tage
War ich verliebt in eine Abessinierin
Hell wie Stroh
Kalt wie Stein
Die Klarheit ihrer Stimme verdrehte mir Arme und Beine
Wenn ich sie sah, zerbröckelte mir der Kopf
Und mein Herz brach zusammen
Wie eine Ruine.«
Als Ethnologe achtete Leiris immer darauf, während seiner Feldforschung den notwendigen Abstand zu seinem Untersuchungsgegenstand zu wahren. Er war gegenwärtig, ging mit Informationen und Dingen um, kannte die Leute gut genug, um ihr Leben zu beschreiben, verbot sich aber jeglichen persönlichen Umgang mit ihnen. Als Dichter hingegen war er von einer Sehnsucht erfüllt, von der er sich vergeblich zu befreien suchte. Hoffte er, dass es ihm durch Liebe gelingen würde? Gar durch den Zar-Kult? Er ging immer wieder dorthin, Tag für Tag, wie hypnotisiert von dem Wachsgesicht der schönen Äthiopierin. Und dann, am 27. Dezember 1932, wagte er während einer Trance-Sitzung eine Geste, die erste … Es sollte die einzige bleiben.
»Die raren erotischen Episoden dieser Reise: die etwas unschickliche Geste, die ich mir gegenüber Emawayish erlaubt habe.«
Er schob seine Hand unter das Kleid der jungen Frau. Im Dunkel des Raumes, in dem das Ritual stattfand, konnte es niemand sehen. Er berührte und streichelte sie. In diesem Moment war er außer sich, wild vor Lust:
»Und ich werde nie die Feuchte zwischen ihren Schenkeln vergessen – feucht wie die Erde, aus der die Golem gemacht sind.«
Emawayish war nicht unempfänglich für seine Annäherung. Sie reagierte sofort. Ein Tamburin ergreifend, entfleuchte sie ihm. Von ihrer Mutter begleitet, begann sie zu singen. Und bald erhoben sich in der warmen Höhle der Zauberin Liebesgesänge. Die Anwesenden verstanden die Worte. Sie reagierten freudig auf diese Szene, klatschten in die Hände, lachten, überzeugt, dem Entstehen einer Romanze beizuwohnen. Abba Jérôme, der Dolmetscher, war verlegen. Er tat, als verstehe er nicht, und schlug Leiris vernunftmäßige Übersetzungen vor für das, von dem er nur zu gut wusste, dass es konkrete Aufforderungen waren. Denn im Schutz der rituellen Masken war in diesen Liedern in Versen und Rhythmen vom Preis der Liebe die Rede. War Emawayish in diesem Augenblick in Leiris verliebt? Wahrscheinlich, aber in der dort üblichen Weise. Welche Worte dachte sie sich aus, um ihren Liebhaber zu leiten? Sie sang von ihrer Armut, ihrer Einsamkeit, ihrer Hilfsbedürftigkeit. Sie beteuerte ihre Anhänglichkeit und vor allem die alles umfassende Hoffnung, die sie mit diesem Beginn einer Liebesbeziehung verband.
In diesem Moment brach die Geschichte ab, der Traum zerstob, die Menschen, die Leiris vor Augen hatte, wurden zu Gespenstern. Wenn man seinen Bericht liest und die Kommentare von Ethnologen, die später auf demselben Gebiet forschten, muss man sich sagen, er hätte sich genauso gut in eine wahnsinnige Leidenschaft stürzen können. Er wäre nicht der Einzige gewesen. Schon so mancher hat seine Liebe zu Afrika an der Leidenschaft für eine schöne Afrikanerin festgemacht. Er hätte sich vereinnahmen lassen können, von der Frau oder dem Ritual. Er hätte in den geheimnisvollen Kontinent bis ins Innerste eindringen können, wie es wohl Rimbaud getan hat. Der Fotograf Pierre Verger ließ sich so weit auf den Kult ein, dass er sogar selber Meister der Geister wurde. Vielleicht wäre Leiris auf diese Weise ein anderer geworden, hätte eine Metamorphose erlebt, sein Sein hätte sich durch den Eintritt in eine neue Welt verändert. Doch er bekam es mit der Angst zu tun.
»Ich sage nichts. Mit wem würde ich reden? Ich esse die Körner, die man mir gibt, trinke den Kaffee, den man mir reicht. Ich sehe mir drei Dinge an: das Heft von Abba Jérôme, das Bauchfell des Schafs, das entblößte Knie von Emawayish, und mehr denn je spüre ich meine unheilbare Isolation.«
Gerade war er noch wahnsinnig vor Liebe, jetzt überkam ihn Scham. Statt sich auf das Geschehen einzulassen, der Verführung zu folgen, sich von seinem Weg wegführen zu lassen, wandte er sich von der Frau ab und entkam mit einem Sprung dem Unerwarteten, das auf ihn wartete. In seinem Tagebuch hat er die drei »Dinge«, die drei Dimensionen, die sich ihm gerade in diesem Augenblick darboten, erwähnt. Das erste, das Heft von Abba Jérôme, in dem die Minuten seiner Eroberung festgehalten waren, alle Informationen, die nach Paris geschickt und von den Menschen seiner Umgebung gelesen wurden, seinem »Chef« Marcel Griaule, seiner Frau, die dort auf ihn wartete, vielleicht eines Tages von einer großen Leserschaft. Dieses Heft nahm Rücksicht auf den Blick jener, die ihn beobachteten, das heißt, er musste Zensur ausüben. Das zweite »Ding« war das Bauchfell des Schafs, das für das Ritual geopfert worden war, dieses runde Stück Eingeweide, das Malkam als Kappe aus blutiger Haut auf dem Kopf trug. Das Bauchfell steht für den...