»Wir sind nun alle gute Freunde!«
Ein Vorwort
In den belebten Wiener Kaffeehäusern der Kärntnerstraße zeigt das Kalenderblatt den 12. November 1805 an. Fast alle Tische sind besetzt. Aufgeregt nippen die Wiener an ihrer Melange und stellen sich die bange Frage, was nun aus ihrer geliebten Metropole werden wird. Denn im 3. Koalitionskrieg mit Frankreich stehen die Truppen Napoleons unmittelbar vor der Stadt, bereit, sie einzunehmen. Viele Adlige und wohlhabende Bürger haben die Stadt bereits verlassen und am 8. November hat sich auch Kaiser Franz II. mit seinem Hofstaat nach Olmütz abgesetzt. Das verübeln ihm die Wiener sehr. Wien ist zwar zur »offenen Stadt« erklärt worden, aber dennoch befürchten die Bewohner, dass es Kämpfe um und in Wien geben wird. Denn eine Art Bürgerwehr, ein aus 17 Bataillonen und 30 Schwadronen bestehendes Reservekorps unter dem Kommando von Generalleutnant Fürst Karl von Auersperg, steht mit rund 13 000 Soldaten am nördlichen Donauufer Wiens bereit, um die Franzosen aufzuhalten.
Die Angriffsspitzen von Marschall Murats Kavallerie haben am 10. November bereits Sieghartskirchen erreicht. Wenn sie nach Wien hineinwollen, müssen sie erst einmal über die Donaubrücken, insbesondere über die Taborbrücke, eine wacklige Holzkonstruktion im Norden, auf der sich die Hauptstraße über einige verbindende Dämme und quer über ein paar dicht bewaldete Inseln und Kanäle lang hinzieht. Der letzte Brückenbogen überspannt von der großen Insel Wolfsau bis zum Nordufer bei Spitz nicht weniger als einen halben Kilometer. Auf der nördlichen Brückenausfahrt steht eine schwere Batterie. Der Wiener Magistrat schickt Abgeordnete mit der Bitte zu Murat, die Stadt zu schonen. Er werde Wien großzügig behandeln, lässt Murat antworten, wenn die Taborbrücke intakt bleibe. Am 12. November erreichen seine Truppen die noch unversehrte Brücke. Auersperg hat Befehl, sie sofort zu sprengen, wenn sich die Franzosen nähern, damit die österreichische Armee Zeit gewinnt, sich mit den verbündeten Russen im Raum Olmütz zu vereinen. Auf den Brückenplanken sind Pulverladungen, Brennholz und Stroh ausgebreitet. Aber der biedere, dem Kaiser treu ergebene hochbetagte Auersperg, der für die Verteidigung Wiens aus dem jahrelangen Ruhestand reaktiviert worden ist, zögert die Zerstörung hinaus, weil er die Lebensmittelversorgung aus dem Marchfeld möglichst lange aufrechterhalten möchte. Außerdem kursieren in der Stadt von französischen Geheimagenten verbreitete Gerüchte, ein Waffenstillstand stehe unmittelbar bevor.
Am Morgen des 13. November hält Husarenoberst Geringer Wache am ersten Brückenbogen. Da nähern sich gemächlichen Schrittes vier hochrangige französische Offiziere in schmucken blauen Mänteln, die Marschälle Murat und Lannes, General Belliard sowie Generaladjutant Bertrand, der später einer der engsten Vertrauten Napoleons wird. Sie winken schon von Weitem mit weißen Tüchern, schütteln dem verdutzten Oberst die Hände und machen ihm mit freundlichen, nahezu herzlichen Worten weis, die Feindseligkeiten zwischen Frankreich und Österreich seien soeben durch einen Waffenstillstand beendet worden und die Brücke gehöre nun den Franzosen. Kaiser Franz habe sich bereit erklärt, Napoleon zu empfangen, und sie selbst wünschen den Fürsten Auersperg zu sprechen. Oberst Geringer ist derart perplex, dass er nichts unternimmt, als französische Pioniere beginnen, das geschlossene Holzgitter an der Brücke einzuhauen. Das Einzige, was er tut, ist, sich schnellstens zu entfernen, um seinem Vorgesetzten Meldung zu machen. Hinter ihm sprengen in gestrecktem Galopp französische Husaren auf die Brücke. Am Nordende der Brücke, am Ende des dritten Brückenbogens, steht Hauptmann Johannes Bulgarich von der Székler-Infanterie und sieht mit Entsetzen, wie eine starke Gruppe französischer Soldaten bereits die letzte Biegung des Dammes erreicht hat. »Die Franzosen kommen!«, schreit er den Kanonieren der Batterie zu. Aber bevor sie feuern können, sind die Marschälle Lannes und Murat bei ihnen und versichern ihnen, ein Waffenstillstand sei eingetreten und die Feindseligkeiten zwischen Franzosen und Österreichern seien vorbei. Murat, ein heißblütiger, mutiger Gascogner, setzt sich lächelnd auf ein Geschütz und ruft den österreichischen Kanonieren zu: »Wir sind nun alle gute Freunde!« Sie fallen auf den dreisten Bluff herein und lassen zu, dass Pioniere auf der Brücke die Zündschnüre durchschneiden und alles brennbare Material in die Donau werfen. Als ein Kanonier sich über die viele Bewegung auf der Brücke wundert, beruhigt ihn Lannes mit der Bemerkung, es sei doch ein kalter Tag, und da müssten die französischen Soldaten auf der Stelle treten und herumlaufen, um sich warmzuhalten.
Als General Fürst Auersperg, der im Posthaus von Stammersdorf sein Hauptquartier aufgeschlagen hat, auf dem Weg zur Taborbrücke ist, wundert er sich, dass die Geschützrohre seiner Batterie landeinwärts, geradewegs auf ihn, gerichtet sind. Beim zweiten Brückenbogen trifft er auf Marschall Murat. Er gibt Auersperg sein Ehrenwort als Offizier, dass die Feindseligkeiten beendet seien und er den Österreichern gestatten würde, sich unbehelligt zurückzuziehen. Die Batterie müsse er jedoch behalten. Im Denken und Handeln von Fürst Auersperg hat der Begriff der Ehre einen hohen Stellenwert. Er fällt blindlings ebenfalls auf das schamlose Gaunerstück herein. Die Franzosen überqueren die Donau und ziehen kampflos in Wien ein. Auersperg wird später vor ein Kriegsgericht gestellt und zum Tode verurteilt, vom Kaiser jedoch begnadigt. Er stirbt im Gefängnis.
Dieser dreiste Bluff – eine haarsträubende Begebenheit, die schon Leo Tolstoi in seinem 1896 fertiggestellten Roman »Krieg und Frieden« quellengetreu beschrieben hat – stellt sicherlich einen besonderen Tiefpunkt in der österreichischen Militärgeschichte dar. Aber es hat noch andere militärische Missgeschicke gegeben, gravierende Fehlgriffe und eklatante Fehleinschätzungen, die eine Schlacht gewendet oder sogar einen Krieg entschieden haben. Von solchen schlimmen Unglücken handelt dieses Buch, von Kämpfen, die tragisch endeten, von Schlachten, die für die Österreicher schon gewonnen schienen oder die sie zumindest hätten gewinnen müssen, und die dann doch noch unerwartet verloren gingen. So viele Gewinnchancen wurden aus der Hand gegeben, so viele Siege verpasst. Den Gründen hierfür werden wir in den ausgewählten, chronologisch aneinandergereihten Fallstudien näherkommen. Kann die Vielzahl der verpassten Siege zu der Annahme führen, dass die Ursachen hierfür vielleicht auch in der österreichischen Mentalität und generell eher gemütlichen Lebensart zu suchen sind? Die Österreicher waren ganz sicher immer ein friedliebendes Volk gewesen. Kriege sind ihnen im Grunde immer verhasst. Bei der Spurensuche öffnet sich in den nachfolgenden Kapiteln ein Panorama verschiedenster Zeitepochen der österreichischen Historie und gibt den Blick frei auf Personen, die sie herausragend bestimmten. Es spannt sich ein weiter Bogen über mehrere Jahrhunderte höchst interessanter österreichischer Geschichte.
Von welchem Zeitpunkt an können wir eigentlich von einer eigenständigen österreichischen Geschichte sprechen? Die von Otto dem Großen nach der Schlacht auf dem Lechfeld und dem Sieg über die Ungarn 955 errichtete und von den bayrischen Herzögen dem Geschlecht der Babenberger als Lehen übergebene Ostmark wird erstmals 996 als »Ostarrichi« (Österreich) urkundlich belegt. Kaiser Friedrich I. Barbarossa hat das Gebiet dann 1156 von Bayern losgelöst und zum Herzogtum erhoben. Aus einem alten, 1463 entstandenen Bericht, der »Cronica Austriae« des Theologen und Geschichtsschreibers Thomas Ebendorfer von Haselbach, wissen wir, dass in dieser Zeit auch die österreichischen Landesfarben Rot-Weiß-Rot entstanden sind: Herzog Leopold V. »der Tugendhafte« hatte im Dritten Kreuzzug bei der Belagerung von Akkon im Jahr 1191 den ganzen Tag über so heftig und ausdauernd gekämpft, dass sein weißer Waffenrock überall mit Blut bespritzt war, »ausgenommen jener Teil, den das Wehrgehenk deckte«. Als Leopold seinen breiten Gürtel abnahm und ein weißer Streifen zum Vorschein kam, ordnete Kaiser Heinrich VI. »zum nie versiegenden Ruhme Österreichs« an, dass nach dem Muster dieses blutdurchtränkten Rockes künftig alle Kampfschilder und Banner rot sein sollten, mit einem weißen Streifen in der Mitte. Wenn wir heute eine österreichische Flagge friedlich im Wind flattern sehen, ist uns gar nicht bewusst, welch martialischen Ursprung sie hat. In der ersten Schlacht, mit der wir auf den folgenden Seiten konfrontiert werden, der blutigen Schlacht bei Sempach im Jahr 1356, wehen die rot-weiß-roten österreichischen Banner bereits auf dem Schlachtfeld. Seit 1278 ist Österreich habsburgisch, mit Rudolf von Habsburg an der Spitze.
Zwei Jahrhunderte später ist das Habsburgerreich bereits eine...