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Versteckte Jahre

Der Mann, der meinen Großvater rettete

AutorAnna Goldenberg
VerlagPaul Zsolnay Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783552059207
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Wien-Leopoldstadt, September 1942: Hansis Eltern und sein jüngerer Bruder müssen ins Sammellager, um nach Theresienstadt umgesiedelt zu werden. Gleichzeitig verlässt der 17-jährige Hansi das Haus. Im Flur nimmt er den gelben Stern ab, steigt in die Straßenbahn und fährt zum Kinderarzt Josef Feldner. Seine Familie wird Hansi nie mehr wiedersehen. Bis zum Ende des Krieges versteckt und versorgt 'Pepi' den jungen Mann in seiner Wohnung. Auch später bleibt Hansi mit seinem Retter verbunden, sie frühstücken täglich miteinander, fahren gemeinsam auf Urlaub. Hans' Enkelin, Anna Goldenberg, die Enkelin von Hans und Helga Feldner-Bustin, rekonstruiert diese singuläre Familiengeschichte als große Reportage und als Porträt eines Helden, der nie einer sein wollte.

Anna Goldenberg, geboren 1989 in Wien, studierte Psychologie an der Universität von Cambridge sowie Journalismus an der Columbia University und war anschließend Redakteurin der Wochenzeitung Jewish Daily Forward in New York. Zur Zeit lebt sie wieder in Wien und schreibt u.a. für den Falter. Versteckte Jahre ist ihr erstes Buch.

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Leseprobe

 

 

DIE AUFZEICHNUNGEN MEINES GROSSVATERS

 

Über seine Kindheit erfahre ich bei Hansi wenig. Hauptsächlich beschreibt er seine jugendlichen Missetaten, denn die Schule interessierte Hansi kaum. 1931, mit knapp sechs Jahren, war er in die Volksschule in der Kleinen Sperlgasse im zweiten Wiener Bezirk gekommen. Von Anfang an schlechte Noten. Es war nicht die mangelnde Intelligenz, klagten die Lehrer, sondern Trotz und Unwillen, sich Autoritäten zu beugen. Fühlte er sich angegriffen, wurde er schnell wütend. Er wollte seine Freiheit zum Fußballspielen, um über Zäune zu klettern und die schmalen Seitengassen, versteckten Hinterhöfe und den Prater zu erkunden. Einer seiner Streifzüge führte ihn in das Kinderfreibad am Franz-Josefs-Kai, allerdings zu einer Tageszeit, zu der es geschlossen war. Hansi landete vor dem Jugendgericht und kam ohne Strafe davon. Ein anderes Mal wurde er beim unerlaubten Kicken im Park erwischt und auf der Polizeistation den Eltern übergeben.

Sein Verhalten, betont Hansi, sei keine Rebellion gegen die Eltern gewesen. Grenzen auszutesten verlockte ihn einfach. Er wusste, die Familie würde ihm nie den Zusammenhalt und die Liebe entziehen: »Sie haben geschimpft und gedonnert, aber sie waren immer verlässlich für uns da, und wir wussten immer, dass für uns familiäre Sicherheitsnetze gespannt waren.«

Hansis Eltern Rosa und Moritz Bustin führten ein Möbelgeschäft auf der Margaretenstraße im fünften Bezirk. Rosa hatte es als Mitgift in die Ehe gebracht. Den täglichen Betrieb regelte Moritz, der aus einer deutschsprachigen Familie im mährischen Uherský Brod stammte und nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er an die Front musste, nach Wien gezogen war. Wie sich seine Eltern kennenlernten, geht aus Hansis Unterlagen nicht hervor. Als Hansi am 18. Oktober 1925 auf die Welt kam, waren Rosa und Moritz bereits zwei Jahre lang verheiratet. Im Jänner 1928 bekamen sie ein zweites Kind, Herbert.

 

 

Hansi und seine Eltern Moritz und Rosa Bustin, zirka 1930

 

Hansi beschreibt seinen Vater als charmant, ausgeglichen und heiter. Er trug seinen Schnurrbart stets sorgsam gepflegt. Von ihm hat Hansi nicht nur das schmale Gesicht, die schwarzen Haare und Augen und den südländisch anmutenden, olivfarbenen Hautton, sondern auch die Freude am Handwerk geerbt. Die Arbeit im Geschäft machte meinem Urgroßvater Spaß, er war geschickt und reparierte viel selbst. Zu Moritz’ Leidenschaften zählten Fußball und Fotografieren. Er dokumentierte die Familienausflüge in den Wienerwald, die Sommerfrische in Bad Vöslau, die beiden Söhne beim Spielen im Hof. Hansi nahm er manchmal zu Fußball-Länderspielen mit.

Meine Urgroßmutter, Rosa, war intelligent und interessiert, las Bücher und ging in Konzerte. Es gab Zeiten, in denen sie wenig sprach und in sich gekehrt schien, nachdenklich und ein wenig traurig. »Meine Mutter war das Gehirn der Familie«, schreibt Hansi. »Die Fronten waren vollkommen klar.« War es eine glückliche Ehe? Während der Sommerurlaube sei der Vater öfters nicht dabei gewesen, notiert Hansi. Er gab vor, sich um das Geschäft kümmern zu müssen, tatsächlich soll er Affären gehabt haben. Das erfuhr Hansi viele Jahre später von entfernten Verwandten. Stimmt es? Darüber gibt es keine Gewissheit.

Die Stimmung zuhause war jedenfalls harmonisch, erzählt Hansi, vor seinem Bruder und ihm stritten die Eltern nicht. Er vermutet, dass seine Mutter von den Fehltritten ihres Ehemanns nie erfuhr, sicher ist er sich aber nicht: »Als Kind kennt man seine Eltern nicht«, resümiert er.

Das Möbelgeschäft lief so gut, dass sich die Familie eine große Wohnung im zweiten Bezirk nahe der Innenstadt leisten konnte. Ich verlaufe mich, als ich die Adresse suche. Die Schöllerhofgasse ist nämlich wirklich eine Gasse, einspurig und kurz und nicht, wie es in Wien oft vorkommt, eine Straße, die zu Unrecht die Bezeichnung Gasse trägt. Sie liegt parallel zur Taborstraße, und ich bin erstaunt, wie nah sie Orten ist, die ich gut kenne. Gleich dort ist der Schwedenplatz mit der U-Bahnstation, auf dem sich rund um die Uhr Menschen tummeln. Ganz nah auch der Donaukanal mit der Uferpromenade, an der entlang ich oft spazieren oder laufen gehe. An einem Ende der Gasse befindet sich eine Wohnhausanlage, an deren Stelle bis zu seinem Abriss in den sechziger Jahren das zweistöckige Biedermeierhaus stand, in dem mein Großvater aufwuchs.

Mir fällt eine Geschichte ein, die mir meine Tante einmal erzählte: 1966, im Teenageralter, fuhr sie gemeinsam mit ihrem Vater, Hansi, zum Flughafen, um einen Bekannten abzuholen. Meine Tante saß auf der Rückbank des Autos, sie trug einen Beingips und hatte ihre Krücken neben sich. Auf der Autobahn wurden sie von einem anderen Fahrer geschnitten, woraufhin Hansi diesen bis zum Flughafen verfolgte, dort ausstieg, eine der Krücken wie einen Baseballschläger in die Hand nahm und sich drohend neben dem anderen Fahrzeug aufbaute. Der Fahrer reagierte dermaßen eingeschüchtert, dass Hansis Wut so schnell verflog, wie sie entstanden war. Ich betrachte den Ort, an dem er aufgewachsen war und den es nicht mehr gibt, versuche die Anekdote mit dem Bild, das ich als Kind von meinem freundlichen Großvater hatte, in Einklang zu bringen, und frage mich, ob ich meinen Großvater überhaupt gekannt habe – oder je verstehen können werde.

In der Wohnung in dem Haus, das nicht mehr steht, gab es ein Badezimmer mit fließendem Kaltwasser und einem hohen, kupfernen Badeofen, in den zwanziger Jahren seltene Neuheiten. Im geräumigen Vorzimmer spielten Hansi und sein Bruder Herbert Fußball; weil sich im darunterliegenden Stock das Lager einer Getreidefirma befand, beschwerte sich niemand über den Lärm. Eine Köchin versorgte die Familie, ein Kindermädchen passte auf Hansi und Herbert auf. Diese Arbeitsteilung war aber nicht konfliktfrei. Anscheinend mochte die Köchin die beiden Buben – oder sie wollte der anderen Frau das Leben schwermachen: »Da war ein ständiger Kleinkrieg um den Aufgabenbereich im Gange, den wir Kinder sehr genossen«, schreibt Hansi.

Die Familie pflegte einen engen Kontakt zu Rosas beiden Schwestern. Rosa, Hansis Mutter, war in Wien geboren und hatte ihre Mutter verloren, als sie und ihre eineiige Zwillingsschwester Frieda dreizehn Jahre alt gewesen waren. Ihre damals achtzehnjährige Schwester Sophie fühlte sich als älteste Frau im Haus für ihre Geschwister verantwortlich. Ihr Vater, der als Jugendlicher aus Polen nach Wien zugewandert war, Deutsch mit Wiener Dialekt sprach und sich mit Möbelgeschäften eine bürgerliche Existenz aufgebaut hatte, heiratete bald erneut. Die Abneigung gegen die Stiefmutter schweißte die Schwestern noch enger zusammen.

Genau wie Rosa bekamen auch Sophie und Frieda vom Vater Möbelgeschäfte als Mitgift. Beide befanden sich in Seitengassen der Landstraßer Hauptstraße, einer Geschäftsstraße im dritten Bezirk, nahe der Innenstadt. Die Kinder der Schwestern kamen in knapper Abfolge auf die Welt: Friedas Tochter war drei Jahre, Sophies Sohn zwei Jahre älter, ihre Tochter ein Dreivierteljahr jünger als Hansi. Fünf Kinder waren es insgesamt, die wie Geschwister aufwuchsen.

Jeden Sonntag traf sich die ganze Familie bei Hansis Tante Sophie, die als Älteste der drei Schwestern ganz selbstverständlich die Gastgeberin war. Sie aßen zu Mittag, dann spielten die Männer Rummy, mal im Wohnzimmer, mal in einem der Kaffeehäuser in der Umgebung. Die Schwestern redeten, die Kinder spielten. War das Wetter schön, unternahmen sie Ausflüge. Auch in den Schulferien fuhr meist die ganze Familie gemeinsam weg.

Als ich Hansis Erinnerungen an seine Kindheit lese, fällt mir auf, wie ähnlich sie meiner eigenen war. Mit meinen Cousinen und Cousins war ich beinahe ständig zusammen, oft ging ich nur zum Schlafen nachhause. Insgesamt sind wir elf Enkelkinder, von denen acht in Wien aufwuchsen. Nach und nach hatte die Familie auch die anderen Wohnungen des Hauses im neunzehnten Bezirk bezogen, in das meine Großeltern in den sechziger Jahren eingezogen waren. Meine Eltern und ich lebten einen Häuserblock davon entfernt. In der Wohnung meiner Großeltern hatte ich sogar ein eigenes Zimmer, in dem ich meine Hausaufgaben machte, wenn meine Eltern arbeiteten. Jeden Abend um halb sieben gab es Abendessen. Selten saßen weniger als acht Menschen um den Esstisch meiner Tante. Ruhe gab es im Haus fast nie.

Natürlich ist es kein Zufall, dass Hansis und meine Kindheit Parallelen aufweisen. Ihm war das Zusammenleben wichtig, und selten versäumte er eines der Abendessen. Stets saß er am selben Tischende. Nach jedem Essen schob er das Tischtuch ein Stück zur Seite und öffnete eine kleine Lade, die in den Tisch eingebaut war. Darin befanden sich seine Tabletten gegen Sodbrennen. Während ihn meine Großmutter streng anblickte und erklärte, er habe schon wieder zu viel und zu schnell gegessen, steckte er sich eine Kapsel in den Mund und spülte sie mit Wasser herunter.

Als ich nach New York ging, merkte ich, dass ich es nicht gewohnt war, allein zu essen. Zunächst fand ich das befreiend. Für mein Studium war ich ohnehin ständig unterwegs. So aß ich Bagels in der U-Bahn, Sushi auf der Parkbank und fertig angerichtete Salate aus dem Supermarkt, während ich in der Lobby des Institutsgebäudes hektisch einen Text in meinen Laptop tippte. Das war was anderes, als beim familiären Abendessen in Wien zu sitzen und mir das alltägliche Geplänkel anzuhören. Aber schon bald verlor sich dieser neuartige Reiz. Nein, nach Wien zurück wollte ich nicht, aber die gemeinsamen Abendessen fehlten mir. Warum gab es keine Technologie, die mich blitzschnell für ein paar Stunden an den Familientisch beförderte und dann wieder auf den Straßen von Manhattan...

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