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E-Book

Vertrauensverhältnisse

Autobiografie

AutorRudolf Seiters
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783451807633
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Rudolf Seiters war engster Vertrauter von Helmut Kohl, ist bis heute mit Wolfgang Schäuble freundschaftlich verbunden - und steht mit fast achtzig nun als Präsident des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) im Zentrum der Flüchtlingskrise. Gestalten wollte er immer, Angst vor Macht hatte er nie, auch wenn er um seine Person kein großes Aufheben machte. Egal ob als Kanzleramtsminister, Innenminister, Vizepräsident des Bundestags oder heute als Chef des DRK: Die Stationen seines Lebensweges eröffnen ein Panorama der späten deutschen Nachkriegsgesellschaft voller unbekannter Hintergrundgeschichten, amüsanter Anekdoten und Einblicke in entscheidende Phasen deutscher Geschichte, etwa der Bekämpfung des RAF-Terrors oder der Wiedervereinigung. Doch diese Autobiografie ist mehr als ein Blick zurück. Denn bis heute ist Seiters im Berliner Politikbetrieb bis hin zur Kanzlerin bestens vernetzt. Und wenn er Unternehmenschefs anruft, öffnen sich die Türen. An seiner Biografie wird deutlich: Die Werte und Haltungen, die Seiters seit jeher in das Zentrum seines Handelns stellt, sind für die Bewältigung der drängenden Fragen unserer Zeit von großer Bedeutung: Vertrauenswürdigkeit, Loyalität, Diskretion, Probleme nicht schönreden, sondern anpacken und lösen. Kaum einer verkörpert sie so wie Rudolf Seiters. Bis heute verlässlich und streitbar - Politiker wie ihn bräuchten wir mehr.

Rudolf Seiters, Dr., geb. 1937, ist seit 2003 Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Davor war der Jurist über 30 Jahre lang für die CDU Mitglied des Deutschen Bundestages und in dieser Zeit u.a. auch Chef des Bundeskanzleramtes bei Helmut Kohl, Bundesinnenminister sowie Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Der gebürtige Osnabrücker lebt in Papenburg, ist seit vielen Jahren glücklich verheiratet und Vater dreier erwachsener Töchter. Wolfgang Schäuble, geboren 1942 in Freiburg, ist seit 2017 Präsident des Deutschen Bundestages. Seit 1972 gehört er dem Parlament an. Lange war er Vorsitzender der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion und kurz CDU-Parteivorsitzender. Insgesamt 19 Jahre war er Mitglied in verschiedenen Regierungen von Helmut Kohl und Angela Merkel, jeweils unter anderem als Bundesinnenminister. In dieser Funktion hat er 2006 die Deutsche Islamkonferenz initiiert und damit der Debatte um Religion und Integration erstmals zu einer breiteren Öffentlichkeit verholfen.

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Leseprobe

Krieg, Kriegsende, Neubeginn


Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Ich war damals sieben Jahre alt und lebte mit meinen Eltern Adolf und Josefine Seiters und meinen drei älteren Geschwistern Julius, Adolf und Marianne in einem Haus, das mein Großvater Rudolph Seiters in Bohmte, einer kleinen Gemeinde nördlich von Osnabrück, für sich und unsere Familie errichtet hatte. Mein Großvater war ein bemerkenswerter Mann. 1850 geboren, machte er seine Handwerkslehre und ging auf Wanderschaft, die ihn bis nach Dänemark, Schweden und Lettland führte. In Philadelphia und New York war er beruflich sehr erfolgreich, zurück in Deutschland übte er bis ins hohe Alter Ehren­ämter für Gemeinde und Kirche aus. Mein Vater war im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden, musste beruflich umschulen und wurde später Leiter des Bohmter Postamts. Meine Mutter hatte ihren Vater mit drei Jahren und ihre Mutter mit elf Jahren verloren. Eine harte Jugendzeit, doch sie hatte sich durchgebissen. Als sie meinen Vater heiratete, war sie Verkäuferin in einem angesehenen Textilgeschäft. Beide führten eine gute, harmonische und liebevolle Ehe.

Über Jahrzehnte war mein Vater im katholischen Kirchenvorstand der Gemeinde Bohmte tätig. Mein Großvater, genauso christlich eingestellt, hatte zwar ein Hindenburg-Portrait an der Wand über seinem Schreibtisch hängen, wäre aber nie auf die Idee gekommen, dieses Portrait nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten mit einem Bild des Führers zu tauschen. Die nationalsozialistische Ideologie stand für ihn und meine Eltern im krassen Widerspruch zu den christlichen Werten, die für unsere Familie so wichtig waren. Meine Eltern lehrten mich, anderen Menschen mit Respekt zu begegnen und niemanden zu diskriminieren oder als minderwertig zu betrachten. Sie schauten dem Treiben der Nationalsozialisten mit äußerster Distanz zu und hofften inständig, dass unsere Familie heil aus diesem Weltenbrand herauskommen würde.

Ich war zu klein, um mich an diese Zeit in allen Einzelheiten zu erinnern, doch ist mir durchaus bewusst, wie sich die Lage zum Kriegsende hin auch für uns im kleinen Bohmte immer weiter verschlechterte. Osnabrück war regelmäßig Ziel von Luftangriffen und auch das Umland blieb von deren Auswirkungen nicht verschont. Bereits Ende 1940 mussten wir unseren Waschkeller zum Luftschutzkeller umfunktionieren, was ich als damals Dreijähriger noch nicht in seiner ganzen Tragweite verstehen konnte. In den darauffolgenden Jahren jedoch traten wir immer häufiger den Weg in diesen Keller an. Die Geräuschkulisse mit dem Pfeifen der Bomben, dem lauten Knallen, auch das Zittern des unter der Bombenlast erbebenden Bodens haben sich mir tief ins Unterbewusstsein eingegraben. Kein Kind, das solche Dinge erlebt, vergisst diese Erlebnisse, daran denke ich auch heute, wenn ich die Kinder aus den Kriegsgebieten unserer Erde sehe, ihre traurigen Augen, ihren hilfesuchenden Blick.

Unmittelbare Zerstörungen mussten wir indes nicht hinnehmen, wohl auch ein Grund, warum für mich diese Stunden neben allem Schrecken auch immer etwas Abenteuerliches hatten. Als jüngstes von uns vier Geschwistern hatte ich da wohl doch einen Vorteil.

Gefährlich war die Zeit dennoch und auch unsere Familie schonte der Krieg nicht. Mein älterer Bruder Julius wurde 1943 eingezogen, schaffte es aber zumindest, als Marinesoldat nicht an die Front zu müssen. Er geriet in britische Kriegsgefangenschaft, kehrte allerdings glücklicherweise schon im Sommer 1945 wieder zurück.

Ich erinnere mich besonders an einen Tag: Feindliche Luftverbände sollten eigentlich Osnabrück angreifen, luden ihre tödliche Last jedoch bereits einige Kilometer vor der Stadt ab, sodass auf den Äckern rund um Bohmte plötzlich ein Hagel aus schweren Bomben niederging. Mit etwas Pech hätte er genauso gut das Dorf treffen und vernichten können. Zum Glück jedoch blieben wir auch an jenem Tag verschont und konnten uns nach dem Angriff wieder in unser unversehrtes Haus begeben. Erst zum Ende des Krieges hatte auch Bohmte Tote zu beklagen, als die Luftangriffe immer häufiger kamen und wir manchmal während des vormittäglichen Schulunterrichts in den Luftschutzkeller mussten. Durch den Beschuss starben in den letzten Kriegsmonaten im Umfeld unserer Gemeinde mehrere Dutzend Menschen. Für mich und meine gleichaltrigen Freunde hatte die Schulzeit gerade erst begonnen, 1944 waren wir eingeschult worden, und so schwankten wir manches Mal noch zwischen dem mittlerweile durch die Erwachsenen deutlich spürbaren Gefühl für den Schrecken des Krieges und der Faszination für die unterschiedlichen Fliegertypen, die über unser kleines Bohmte hinwegjagten.

Aus den Trümmern des Krieges entsteht ein neues Deutschland


Die Debatte darüber, was die breite Masse der Deutschen, die nicht direkt in irgendwelchen Funktionen in der NSDAP oder beim Militär aktiv war, von den Gräueltaten der Nazis mitbekommen habe, wurde und wird immer wieder geführt. »Wir wussten ja nichts« war schon kurz nach dem Krieg ein beliebtes Argument, um sich unschöner Diskussionen zu entledigen, doch so einfach war es eben nicht.

Bohmte war nicht gerade der Nabel der Welt und doch erinnere ich mich daran, dass wir einen jüdischen Mitbürger im Dorf hatten, der eines Tages einfach abgeholt und abtransportiert wurde. Natürlich sagte uns niemand, was genau geschehen würde, man hörte irgendwas von »Arbeitslager«, doch die Tatsache, dass hier ein Mensch, der völlig unbescholten immer schon unter uns gelebt hatte, einfach weggebracht wurde, war für niemanden zu übersehen. Für mich ist das ein sehr prägendes Erlebnis gewesen, und die berechtigte Frage »Warum habt ihr damals nichts dagegen getan?« mag auch ein Grund gewesen sein, warum ich immer so großes Interesse an aktiver politischer Gestaltung hatte.

War der Krieg bei uns in der Provinz all die Jahre im Großen und Ganzen nur in Ausschnitten wirklich präsent gewesen, so rückte die grausame Realität im letzten Kriegsjahr immer näher an uns heran. An die letzten Monate habe ich deutliche Erinnerungen. Zwar war eine kleine Ortschaft wie Bohmte nicht unmittelbar gefährdet wie größere Städte, dennoch gab es die beschriebenen Bombenabwürfe, es gab die Tieffliegerangriffe, den Absturz zweier englischer Jagdmaschinen, immer wieder Fliegeralarm, Verdunkelungsanordnungen und nächtliche Stunden in unserem einigermaßen sicher gebauten Keller, in den dann auch unsere Nachbarn kamen.

Anfang April 1945 tauchte vor unserem Haus plötzlich eine versprengte Soldatentruppe auf, um bei uns rasten zu dürfen. Was uns alle am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass diese jungen Soldaten zwar erschöpft und abgekämpft wirkten, trotzdem aber auch zu diesem Zeitpunkt noch vollständig vom Gedanken des Kampfes gegen einen längst übermächtigen Gegner und für Nazideutschland durchdrungen waren. Sobald sie den dringendsten Hunger gestillt und sich ein wenig ausgeruht hatten, planten sie den Bau von Stellungen, aus denen heraus sie die Engländer angreifen wollten, sobald diese sich in Bohmte sehen lassen würden. Für meine Eltern war das nicht nur unbegreiflich, sondern sie erkannten auch die große Gefahr, die für das ganze Dorf dadurch heraufbeschworen wurde: Wenn die Engländer kämen und auf Widerstand träfen, hätten sie keine andere Wahl, als in den Häuserkampf zu gehen. Was das für Bohmte bedeutet hätte, war allen Einwohnern klar.

Ich sehe meine Mutter noch vor mir, wie sie den vom »Endkampf« gezeichneten Jungen klarzumachen versuchte, dass ihr Vorhaben sinnlos und gefährlich sei. Trotzdem zogen diese am nächsten Tag weiter. Immerhin bauten sie ihren Unterstand nicht in unmittelbarer Nähe auf, sondern hielten sich wohl am Rande des Dorfes, um sich dort gegen den Feind zu verteidigen.

In den Bohmter Häusern, so auch bei uns, herrschte da längst hektische Betriebsamkeit. Allen war klar, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Engländer auch bei uns einziehen würden. Dinge, die einen in die Nähe des Nationalsozialismus hätten rücken können wie die allseits üblichen »Mein Kampf«-Ausgaben oder ähnliches, wurden vernichtet. Doch was viel wichtiger war und Bohmte letztlich vor der Zerstörung bewahrte, war die Tatsache, dass sich hier niemand mehr an den »Führer, Volk und Vaterland«-Gedanken gebunden fühlte. Das ganze Dorf hisste die weiße Flagge. Bei uns befestigten meine Geschwister und mein Vater dieses wichtige Stück Stoff am höchstgelegenen Fenster, sodass es auch auf jeden Fall zu sehen sein sollte. Das war eigentlich nicht ganz ungefährlich, denn noch bestand der sogenannte »Nero-Befehl« Hitlers, der auf eine Strategie der verbrannten Erde ausgerichtet war. Demzufolge war bei einem Vorrücken des Feindes alles zu vernichten, was ihm in die Hände fallen könnte. Kapitulation war ein Grund für die Todesstrafe.

Doch in Bohmte war niemand mehr, der diesen Wahnsinn ausgeführt hätte. Die englischen Soldaten fuhren mit ihren schweren Panzern langsam durchs Dorf und nahmen sehr wohl wahr, dass ihnen von der Bevölkerung in diesem kleinen Ort, der mittlerweile in ein weißes Flaggenmeer verwandelt worden war, kein Widerstand drohte.

Bohmte blieb also von Kämpfen und Verwüstungen weitgehend verschont und im Juli 1945 kehrte mein Bruder Julius, der zuletzt Fähnrich zur See gewesen war, aus der britischen Kriegsgefangenschaft zurück, sodass unsere Familie den Krieg im Gegensatz zu vielen anderen einigermaßen unbeschadet überstand. Eine »Spätfolge« des Krieges bekamen wir im August 1945 zu spüren, als von heute auf morgen Soldaten der nun Besatzungsmacht gewordenen englischen Armee in unserem Haus einquartiert wurden. Wehren konnten wir uns dagegen nicht,...

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