2 | | Grundannahmen und zentrale Begriffe |
Um klarer zu sehen,
genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.
Antoine de Saint-Exupéry
Die soziale Natur des Menschen
Menschen sind soziale Wesen ... – Menschen sind soziale Wesen und auf ihre Bezugsgruppen hin ausgerichtet. Menschen leben und überleben in Gruppen. Körper, Geist und Gefühlsleben eines Menschen sind auf Austausch und Kommunikation mit anderen Menschen angelegt. Alle körperlichen und psychischen Funktionen stehen im Dienste der Gattung Mensch, ihrer Vermehrung und ihres Selbsterhaltes. »Bisher hielt man es für selbstverständlich, dass der Mensch sein großes Gehirn zum Denken besitzt. Neueste Forschungsergebnisse haben jedoch deutlich gemacht, dass der Bau und die Funktion des menschlichen Gehirns in besonderer Weise für Aufgaben optimiert ist, die wir unter dem Begriff psychosoziale Kompetenz‹ zusammenfassen. Unser Gehirn ist demnach weniger ein Denk- als vielmehr ein Sozialorgan.« (Hüther und Bonney 2002, S. 25)
Möglicherweise stehen wir Menschen auch noch im Dienste eines höheren Prinzips und sind eingebunden in etwas wesentlich Größeres. Darüber möchte ich an dieser Stelle jedoch nicht spekulieren.
Nicht Körperkraft, Körpergröße, Ausdauer, Aggressivität oder eine besondere Wahrnehmungsfähigkeit haben die Menschen allen anderen Lebewesen überlegen gemacht. Es ist vor allem die Fähigkeit, große soziale Verbände zu bilden und die eigenen Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen zu entwickeln und zu schärfen, die den großen Vorteil ausmacht. Die Möglichkeiten der Verständigung durch Sprache ist dabei eine treibende Kraft für die Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Intelligenz.
... mit großen Unterschieden im Einzelnen. – Die Einheit der Gattung Mensch realisiert sich in der Unterschiedlichkeit ihrer Gattungsträger, die Individuen sind, und die im Laufe ihrer persönlichen Entwicklung immer mehr zu Subjekten werden können. So ist die körperliche, geistige und emotionale Verfasstheit von Mann und Frau in vielem extrem unterschiedlich und in manchen Punkten sogar gegensätzlich. Die männlichen wie weiblichen »Exemplare« der Menschheit weisen innerhalb ihres Geschlechts wiederum eine immense Unterschiedlichkeit von Fähigkeiten auf allen Ebenen auf.
Diese große Bandbreite des Menschseins ist m.E. das »Erfolgsrezept« dafür, dass Menschen sich bis in die letzten Erdenwinkel hinein verbreiten und an nahezu alle natürlichen Gegebenheiten anpassen konnten. Sie ist die Grundlage für die kulturelle Vielfalt und die menschliche Individualität. Auf psychologischem Gebiet kann man dieser Vielfalt und Einzigartigkeit mit statistischen Methoden nur schwer gerecht werden. Jeder Einzelfall »Mensch« verdient seine besondere Beachtung und Würdigung.
Das Bedürfnis nach Sinn
Menschen suchen nach Sinn und Bedeutung ... – Unsere soziale Natur bringt es mit sich, dass wir in den Verhaltensweisen anderer und in den Geschehnissen der Natur nach Sinn und Bedeutung suchen. Wir müssen verstehen, was die anderen Menschen, mit denen wir zusammenleben, tun oder beabsichtigen.
... im Wahrnehmen, ... – Das Kind muss die Verhaltensweisen seiner Mutter unmittelbar sinnlich mit seinen Augen, Ohren, mit seinem Mund, mit seiner Nase – im Grunde mit seinem gesamten Körper wahrnehmen. Es muss diese Verhaltensweisen auch in einen Bedeutungszusammenhang einordnen können. Die Bedeutung von wahrgenommenen Verhaltensweisen zu verstehen heißt, Angst zu bewältigen und Sicherheit zu gewinnen.
Unsere psychischen Funktionen sind daher auf das Verstehen von Bedeutung und Sinn angelegt. Es gibt keine Wahrnehmung im Sinne einer bloßen Reizaufnahme oder -verarbeitung. Die Wahrnehmungspsychologie belegt eindrücklich, dass wir Menschen jeder Wahrnehmung eine Bedeutung beimessen und selbst dort Sinn in Wahrnehmungsmaterial hineindeuten, wo Experimentatoren bewusst den Zufall ins Werk setzen. Ein »leuchtendes« Beispiel hierfür ist die Astrologie: Schon immer waren Menschen davon fasziniert, in den Lichtpunkten am Sternenhimmel einen Sinnzusammenhang zu erblicken. Es werden daher nicht nur vereinzelte Sterne zu größeren Einheiten zusammengefasst und mit einem Namen belegt (»großer Wagen«, »Orion« ...), es wird den auf diese Weise sinnhaft erlebten Gebilden auch ein Einfluss auf das Leben jedes einzelnen Menschen zugeschrieben. Menschen scheinen gar nicht anders als in Sinnbezügen wahrnehmen zu können.
... im Wort, ... – Als Kinder lernen wir als Erstes Mimik und Gestik sowie die unterschiedlichen Körperhaltungen unserer engsten Bezugspersonen zu verstehen. Es ist ein bildhaftes und vorsprachliches Begreifen der Welt. Später steigern sich unsere Einblicke in die Gesetzmäßigkeiten sozialen Geschehens durch den Erwerb von Sprache. Jedes Wort enträtselt einen sozialen Sachverhalt und gibt ihm einen Namen. Unsere soziale Umwelt wird dadurch besser durchschaubar. Wir lernen, sie als sinnvolles Gefüge aufeinander abgestimmter Verhaltenssequenzen zu interpretieren. Wir entwickeln auf dieser Basis Verhaltenserwartungen an andere und wissen, dass sich unser eigenes Verhalten in gewissen Bahnen bewegen darf und bewegen muss.
... im Denken, Fühlen und Handeln. – Denken, Fühlen und Handeln ist ebenso auf Sinn und Bedeutung hin ausgerichtet. Es gibt im Grunde für uns Menschen keine inhaltsleeren Gedanken, kein sinnloses Gefühl oder bloße Affekte. Jedes Gefühl hat eine spezifische Bedeutung im Kontakt eines Menschen mit einem anderen Menschen oder mit einem Sachverhalt. Wenn Gefühle inhaltsleer erscheinen, so sind sie das nicht ursprünglich. Sie erscheinen nur inhaltsleer, weil ihre ursprünglichen Inhalte nicht mehr erinnert werden können oder aufgrund von seelischen Schutzmechanismen nicht mehr erinnert werden dürfen. Manche Verhaltensweisen ergeben ohne den Bezug zur ursprünglichen Situation, in der sie angemessen waren, keinen eindeutigen Sinn. In den Kontext der ursprünglichen Situation gestellt, sind sie begründet und nachvollziehbar.
Schmerz und Erleichterung zugleich
Die Patientin, Frau N., verlor mit zwölf Jahren ihre Mutter, die bei einem Krankenhausaufenthalt unerwartet starb. Verständlicherweise stand sie als Kind durch das Ereignis unter Schock und konnte nicht wirklich trauern. Bei der Aufarbeitung dieses Ereignisses in der Therapie tauchten neben den Gefühlen der Angst und des Schmerzes über den Tod der Mutter überraschend auch Gefühle der Erleichterung auf, deren Existenz die Patientin verwirrte und verunsicherte.
Es stellte sich jedoch im Wiedererinnern der damaligen Situation heraus, dass sie von ihrer Mutter, als diese noch lebte, unter einen großen Leistungsdruck gesetzt wurde, um besonders gut in der Schule zu sein. Sie fühlte sich dadurch oft überfordert. Durch den Tod der Mutter fiel dieser Leistungsdruck weg. Aufgrund der Widersprüchlichkeit dieser beiden Gefühle, der Gefühle des Schmerzes und der Erleichterung, konnte sie als Kind keine eindeutige Gefühlslage zur verstorbenen Mutter herstellen. Sie meinte, in Bezug auf die Mutter und deren Tod eigentlich nichts gefühlt zu haben. Sie konnte zum damaligen Zeitpunkt weder ihre Trauer noch ihre Erleichterung über den Tod der Mutter anderen gegenüber zum Ausdruck bringen.
Erst als in der Psychotherapie beiden Gefühlen ihre Berechtigung zuerkannt wurde, konnte sie in eine heilsame Trauer um ihre früh verstorbene Mutter kommen und sich aus ihrer depressiven und ängstlichen Grundstimmung lösen, in der sie sich oft hilflos und überfordert fühlte.
Leib und Seele
Strukturen und Kräfte. – Menschliches Erleben und Verhalten bezieht nach meinem Verständnis seine Energie aus drei großen Kraftquellen:
den Triebkräften des Leibes,
den Bindungskräften der Seele,
den Willenskräften des Verstandes.
Dieser Unterscheidung entspricht in einer gewissen Annäherung der Aufbau des menschlichen Nervensystems und des Gehirns. Im vegetativen Nervensystem und im zentralen Nervensystem bis hin zur Stammhirnebene werden alle körperlichen Erfordernisse im Wesentlichen ohne bewusste Wahrnehmung und Steuerung geregelt. Im Zwischenhirnbereich finden sich die Verarbeitungsorgane für das emotionale Geschehen und im Bereich der Großhirnrinde die Areale des bewussten Wahrnehmens und Denkens.
Das vegetative und zentrale Nervensystem und das Gehirn als zentrales Organ sind allerdings noch wesentlich differenzierter, als es diese modellhafte Einteilung in drei große Bereiche beschreibt. Es gibt noch viele weitere Funktionseinheiten, die als Strukturen und Kräfte menschliches Verhalten und Erleben beeinflussen. Zum Beispiel beginnt man erst allmählich, die Beteiligung der »Kerne«, das sind die Verdichtungen von Nervenzellen im Zwischen- und Stammhirnbereich, bei Traumatisierungsprozessen besser zu verstehen.
Materie und Energie. – Durch die Erkenntnisse der Quantenforschung ist das mechanische Weltbild der Physik ins Wanken geraten. Die Gesetze, die im makrokosmischen Bereich gelten, scheinen im Mikrokosmos nicht auf gleiche Weise zu wirken. Es ist z.B. fraglich geworden, ob die Lichtgeschwindigkeit die Maximalgeschwindigkeit darstellt, mit der Informationen von A nach B transportiert werden können (Gallo 2000, S. 39 ff.). Der Austausch von Energie und Information scheint noch auf anderen, bislang völlig ungeklärten Gesetzen zu beruhen.
Ebenso ist die mechanische Vorstellung der Biologie äußerst fragwürdig, dass sich z.B. aus Genbausteinen die Entwicklung eines...