Vorbemerkung – Ein verändertes Land
Die Zeit der Kuscheltiere am Bahnhof ist vorbei. Niemand klatscht mehr, wenn Geflüchtete aus Zügen steigen. »Wir sind das Volk« – dafür gibt es inzwischen mehr Applaus, für das deutsche Volk, dessen Identität in Gefahr zu sein scheint. Unkontrollierte Massenzuwanderung, Asylchaos, Obergrenzen, Terroranschläge und immer wieder »Flüchtlingswellen«, die uns »überfluten«. Darunter Hunderttausende Syrer, die stets eine Masse bilden: im Boot auf dem Mittelmeer, in Trecks auf dem Balkan, als Gestrandete am Grenzzaun, als Wartende in der Notunterkunft. Unsere Augen sehen Massen, keine Menschen. Und deshalb haben wir Angst. Zu viele, dazu überwiegend junge Männer und dann auch noch Muslime kommen nach Deutschland – das Ende des Abendlandes scheint nah. Mindestens der Untergang der deutschen Kulturnation – was immer das sein soll.
Wie geht es weiter? Wie können so viele Geflüchtete versorgt, ausgebildet, integriert werden? Noch dazu in ihrem Zustand: oftmals erschöpft, mittellos und traumatisiert. Dieses Buch handelt von uns und den mehr als 500.000 Syrern, die seit 2011 nach Deutschland gekommen sind. Die alles riskiert haben und endlich aus den Albträumen erwachen wollen, die sie seit Jahren verfolgen. Darin geht es um Bomben und Folter, um Verfolgung, Zerstörung, Vertreibung und Hunger. Um Perspektivlosigkeit, Entbehrung und Ablehnung. Und um Angst, große Angst. Womit wir eine erste Gemeinsamkeit gefunden hätten: Wir haben Angst und die Syrer haben Angst. Keine gute Ausgangsposition, denn Angst ist ein schlechter Ratgeber und der beste Nährboden für politische Manipulation und Agitation.
Für mich ist mit den Syrern auch Vertrautheit nach Deutschland gekommen. Nach sieben Jahren in Damaskus empfinde ich Syrien als zweite Heimat, deren Menschen und Alltagskultur ich immer wieder vermisse. Während ich mich also über Damaszener Slang im ICE freue, klingt dieser für die anderen mindestens fremd, vielleicht bedrohlich. Deshalb will ich versuchen, mit diesem Buch ein paar Pfeiler in den Boden zu rammen – auf dass wir gemeinsam darauf Brücken bauen.
Vielerorts werden aus Massen wieder Menschen. Kinder erzählen von neuen syrischen Mitschülern, der Chef stellt einen syrischen Praktikanten vor, ins Nachbarhaus oder in die Wohnung nebenan zieht eine syrische Familie, Bäckermeister und Maler freuen sich über syrische Lehrlinge, Kitas nehmen syrische Kinder auf, Zeitungen, Magazine und Verlage suchen syrische Journalisten und Autoren und in deutschen Großstädten finden syrische Literaturtage, Ausstellungen zeitgenössischer syrischer Künstler und Konzerte syrischer Musiker statt. Manche Fluchtgeschichte ist am Küchentisch erzählt und die eine oder andere Hand nicht geschüttelt worden. Wir haben gemeinsam Hummus angerührt und uns nach Terroranschlägen gegenseitig misstrauisch beäugt. Wir haben diverse Syrer in die richtigen Züge gesetzt, unsere Kleiderschränke nach brauchbaren Winterjacken und Kinderschuhen durchforstet und uns gelegentlich an die Moralvorstellungen und Erziehungsmethoden unserer Großeltern erinnert gefühlt.
Und wir stellen fest: Es gibt uns noch! Deutschland und die Deutschen, ein Fünftel von ihnen mit ausländischen Wurzeln, längst »integriert« und anerkannt – nicht nur als Gemüsehändler, Restaurantbesitzer und Facharbeiter, sondern auch als Oberbürgermeister, Germanistikprofessor, Fernsehmoderatorin, Parteichef, Kabarettist und Bundestagsabgeordneter. Ein Einwanderungsland, das lange keines sein sollte und wollte. Das den Kinderschuhen entwachsen ist und nun mitten in der Pubertät steckt, mit all den dazugehörigen Sinnfragen und Identitätskrisen: Was ist deutsch? Wer ist deutsch? Und warum gibt es darauf so viele Antworten?
Tatsächlich können uns die Syrer bei der Suche nach uns selbst helfen. Denn die Geflüchteten sollen sich in etwas integrieren, von dem wir selbst nicht so genau wissen, was es ist. Indem wir uns also fragen, worauf wir im Zusammenleben mit den Ankommenden besonderen Wert legen, könnten wir herausfinden, wo der Kern unseres deutschen Selbstverständnisses liegt, welche Herausforderungen das mit sich bringt und wo es Berührungspunkte oder Überschneidungen gibt. In den durch die Geflüchteten ausgelösten Debatten taucht eine diffuse Mischung aus Oktoberfest und Homoehe, Gleichberechtigung und Berufsverbot für Kopftuchträgerinnen, säkularem Staat und Kirchensteuer, veganem Schweinebraten und laktosefreier Kaffeesahne auf. Verwirrend nicht nur für die Menschen in Vorpommern und Sachsen, Ostfriesland und Oberbayern, sondern erst recht für die Syrer – DIE Syrer, die es so natürlich nicht gibt.
Das Problem dieses Buches liegt auf der Hand. Es lebt von Klischees und Verallgemeinerungen, die es eigentlich auflösen und entlarven möchte. Für jede Aussage gibt es Gegenbeispiele. Die Syrer sind religiös und wertkonservativ, schreibe ich, dabei aber tolerant und offen für andere. »Nein«, ruft ein syrischer Freund (Theaterregisseur), »die jungen Leute haben die Religion satt«. »Doch«, sagt meine syrische Bekannte (Kinderärztin mit Kopftuch), »in Syrien hat jeder Sunnit christliche Schulfreunde oder alawitische Arbeitskollegen«. »Ja schon«, wirft mein syrischer Verwandter (Mathematiker) ein, »aber sie sind alle in einer rückwärtsgewandten Kultur gefangen.« Alle Syrer, jeder Sunnit, die jungen Leute – es gibt sie nicht, die homogene Masse. Aber es gibt Tendenzen und offensichtliche Unterschiede, die eine Mehrheit betreffen. Von denen will ich erzählen – nicht um zu spalten und zu pauschalisieren, sondern um Verständnis und Verständigung zu ermöglichen.
Das bringt uns zum nächsten Problem: HATTE der syrische Sunnit diese christlichen Freunde und alawitischen Kollegen, oder HAT er sie noch immer? Können Syriens Araber und Kurden noch miteinander über Politik diskutieren oder vergiftet ihr Nationalismus jede Facebook-Freundschaft? Schreibe ich hier über etwas Vergangenes oder bis heute Bestehendes? Gehören die Verhältnisse, die ich während meiner sieben Jahre in Syrien erlebt habe, einer unwiederbringlichen Etappe der syrischen Geschichte an oder unterstelle ich, dass sie bis heute eine gewisse Gültigkeit haben, auch wenn das Land am Krieg zerbricht und die Menschen verzweifelt, hoffnungslos oder voller Hass sind?
Ich habe es ausprobiert. Ich habe Sätze im Präsens formuliert, sie als falsch empfunden und in die Vergangenheit gesetzt. Aber so klang es noch schlimmer, als hätte ich das Syrien, das ich und andere kennen und an das sich viele Menschen gedanklich klammern, einfach abgeschrieben. Als würde ich ein Land, ein Volk und seine Besonderheiten zu Grabe tragen, »nur« weil in Teilen Syriens apokalyptische Zustände herrschen. Natürlich spielt die Willkommenskultur gegenüber Touristen gegenwärtig keine Rolle, da der Suq von Aleppo in Schutt und Asche liegt, der Baaltempel in Palmyra vom IS gesprengt wurde und viele Moscheen und Kirchen des Landes durch die Luftangriffe des Regimes beschädigt oder zerstört sind. Leider leben auch die meisten meiner Freunde und Bekannten nicht mehr in den Wohnungen und Häusern, in denen ich sie früher besuchte.
Dennoch gehe ich davon aus, dass vieles wieder so sein wird, wie es war, wenn der Krieg vorbei und das Land befriedet ist. Das politische System hoffentlich nicht. Aber der Umgang miteinander, die Herzlichkeit und Offenheit, das soziale und unternehmerische Geschick, die Gastfreundschaft und Solidarität der Syrer – sie lassen sich nicht kaputtbomben, so meine Annahme. Ich werde also von Syrien und seinen Bewohnern in der Gegenwart schreiben – allen Untergangsszenarien zum Trotz.
Außerdem nutze ich aus Gründen der besseren Lesbarkeit meist die männliche Form, obwohl ich damit ausdrücklich auch Frauen meine. Angesichts der Tatsache, dass wir uns die Syrer ohnehin meist als junge Männer vorstellen und dabei die Frauen aus dem Blick verlieren, ist das ein ziemlich fauler Kompromiss. Aber eine gendergerechte Sprache behindert den Lesefluss, finde ich. Deshalb vertraue ich darauf, dass der Leser »die Syrer« immer auch als »Syrerinnen« liest.
Bleibt ein letztes Dilemma. Meine syrischen Verwandten, Freunde und Bekannten. Durch sie erlebe ich das ganze Thema – Syrer in Deutschland, Deutsche bei Syrern, Syrer unter Deutschen, Deutsche gegen Syrer – ziemlich hautnah mit. Ihre Erfahrungen sind manchmal frustrierend, manchmal lustig und auch mal erschütternd, aber immer aufschlussreich und erhellend. Deswegen möchte ich gerne erzählen, wie es ihnen in Deutschland ergeht und den Deutschen mit ihnen, was mir mit ihnen in Syrien und hierzulande widerfahren ist und wie es denjenigen geht, die noch immer mitten im Krieg ausharren. Aber natürlich haben auch Angehörige von Buchautorinnen ein Recht auf Privatsphäre – erst recht wenn sie hier leben und identifiziert werden könnten. Ich habe ihnen deshalb versprochen, dass sie unerkannt bleiben. Zu diesem Zweck anonymisiere ich persönliche Erlebnisse, indem ich sie mal einem Neffen oder einer Nichte, mal einem Freund oder einer Bekannten, mal einem Schwager oder einer Schwägerin und mal einem Onkel oder einer Tante zuschreibe. Tatsächlich habe ich einige syrische Schwäger und Schwägerinnen und viele syrische Freunde. Und mein Mann hat Dutzende syrische Neffen, Nichten, Onkel und Tanten. Sie alle müssen nun herhalten als Protagonisten dieses Buches, damit sich kein Einzelner vorgeführt oder bloßgestellt fühlt. Ihnen als Leser verspreche ich, dass die erzählten Geschichten und Anekdoten tatsächlich so passiert sind. Ich hoffe, damit können alle leben.
Damit Sie nachvollziehen können, wo sich die von mir...